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 Dieser Aufsatz/Artikel wurde im Jahre 2002, also vor nunmehr 15 Jahren, in der Zeitschrift „Der Völkerfreund“ veröffentlicht und hat bis heute nichts an Aktualität verloren.

Von Dr. Herbert Fritz

“An dem ersten Gehöft,  links von dieser Straße, stand ein Leiterwagen. An diesem waren vier  nackte Frauen in gekreuzigter Stellung durch die Hände genagelt. Hinter dem ‚Weißen Krug‘ in Richtung Gumbinnen ist ein freier Platz mit dem Denkmal des Unbekannten Soldaten. Hinter diesem Platz steht wiederum ein großes Gasthaus ‚Roter Krug‘. An diesem Gasthaus stand längst der Straße eine Scheune. An den beiden Scheunentüren war je eine Frau, nackt in gekreuzigter Stellung, durch die Hände angenagelt. Weiter fanden wir dann in den Wohnungen insgesamt 72 Frauen einschließlich Kinder und einen alten Mann von 74 Jahren, die sämtlich tot waren, fast ausschließlich bestialisch ermordet bis auf nur wenige, die Genickschüsse aufwiesen. Unter den Toten befanden sich auch Kinder im Windelalter, denen mit einem harten Gegenstand der Schädel eingeschlagen war. In einer Stube fanden wir auf einem Sofa in sitzender Stellung eine alte Frau von 84 Jahren vor, die vollkommen erblindet gewesen und bereits tot war. Dieser Toten fehlte der halbe Kopf, der anscheinend mit einer Axt oder Spaten von oben nach dem Halse weggespalten war… Einstimmig wurde dann festgestellt, dass sämtliche Frauen wie Mädchen von 8 bis 12 Jahren vergewaltigt waren,  auch die alte blinde Frau von 84 Jahren…”

Soweit der Bericht des ehemaligen Volkssturmmannes Karl Potrek, der von der einstmaligen “Wissenschaftlichen Kommission der Bundesregierung zur Geschichte der Vertreibung” für ihre Dokumentation ausgewählt worden war. Potreks Volkssturmkompanie hatte den Befehl erhalten, in Nemmersdorf aufzuräumen. Als  im Oktober 1944 die Rote Armee die Grenzen des Deutschen Reiches überschritt und die ostpreußischen Kreise Goldap und Gumbinnen eroberte, begann die ostdeutsche Passion. Das Örtchen Nemmersdorf  befand sich  zwei Tage in sowjetischer Hand. Eine Gegenoffensive der Wehrmacht warf die Rote Armee wieder über die Grenze zurück. Die von der roten Soldateska verübten Gräueltaten konnten daher bestens dokumentiert und von Beobachtern aus neutralen Staaten bestätigt werden. Nemmersdorf war aber nur der Anfang dessen, was die ostdeutsche Bevölkerung noch erleiden musste.

Der Name dieses Ortes wurde aber zum Synonym für sowjetische Grausamkeiten. Hetzer wie der berüchtigte Ilja Ehrenburg bereiteten mit ihren hasstriefenden Aufrufen an die Soldaten der Roten Armee das kommende Inferno vor:

“Wenn du nicht im Laufe eines Tages wenigstens einen Deutschen getötet hast, so ist es für dich ein verlorener Tag gewesen. Wenn du einen Deutschen getötet hast, so töte einen zweiten – für uns gibt es nichts Lustigeres als deutsche Leichen. Zähle nicht die Tage. Zähle nicht die Kilometer. Zähle nur: die von dir getöteten Deutschen! Töte den Deutschen! – Dieses bittet dich deine greise Mutter. Töte den Deutschen! – dieses bitten dich deine Kinder. Töte den Deutschen! – so ruft die Heimaterde. Versäume nichts! Töte!”

Zwei Kriege im vergangenen Jahrhundert, vor allem aber der Zweite, in dem unsere beiden Völker – das russische und das deutsche –  den größten Blutzoll entrichten mussten, und der zudem ein Kampf zweier Weltanschauungen war, die sich in unversöhnlichem Hass gegenüberstanden, ließen wenig Raum für freundschaftliche Gefühle. Die Härte der Kriegsführung, die Behandlung der jeweiligen Kriegsgefangenen, Morde und die Vertreibung von Millionen deutscher Menschen aus dem Osten des Reiches, der zwar nur zu einem kleinen Teil dem sowjetischen Imperium einverleibt wurde, aber von der Roten Armee erobert worden war, taten ein übriges. Und dann folgte noch  für fast ein halbes Jahrhundert der Kalte Krieg mit Stacheldraht und Mauer, die ein menschenverachtendes System schützen sollten. Das deutsche Volk in seinen drei Staaten war – von Ausnahmen abgesehen – antikommunistisch und damit, in verständlicher aber unzutreffender Gleichsetzung, auch antirussisch eingestellt. Der  Zusammenbruch des Kommunismus und der Zerfall der Sowjetunion führten zum Ende der 1945 entstandenen bipolaren Welt.  Die Vereinigten Staaten von Amerika waren als Sieger aus dem Kalten Krieg hervorgegangen. und blieben als einzige Supermacht über.

Seit dem Wegfall der Bedrohung durch die Sowjetunion betreiben sie eine extrem arrogante und selbstherrliche Politik. Wer sich nicht fügt wird niedergemacht. Haben die USA bei ihren Angriffen auf Serbien und Afghanistan noch die Unterstützung ihrer NATO- und sonstiger Verbündeter gesucht, so scheinen sie sich  bei ihren derzeitigen Kriegsplänen gegen den Irak um deren Bedenken kaum zu kümmern. Selbst die signalisierte Bereitschaft Bagdads, die UN-Inspektoren trotz des durchaus begründeten Verdachts, sie würden für die USA spionieren, wieder ins Land zu lassen, stoßen in Washington auf taube Ohren.  Präsident Bush segelt bereits auf Kriegskurs.

Erklärtes Ziel des geplanten Angriffs:  ein Regierungswechsel in Bagdad.  Saddam Hussein soll gestürzt werden, um dem “Westen”, sprich: der USA, den Zugriff auf die irakischen Ölvorkommen zu sichern.  Daß ein Krieg gegen den Irak zudem die dahindümpelnde US-Wirtschaft kräftig beleben wird, steht außer Frage. Die Interessen der europäischen Staaten und Völker decken sich allerdings nur zum geringsten Teil mit denen der USA. Kriege jedenfalls zählen nicht zu dem, was Europa braucht und wünscht. Die Frage stellt sich allerdings, ob die Völker Europas  in der Lage und willens sind, aus ihrer Vasallenstellung auszubrechen und sich zu emanzipieren oder ob der alte Kontinent endgültig zu einem US-Protektorat verkommt.

Russland, das Kernland der einstigen Sowjetunion, befindet sich in einer ähnlichen Lage.  Schon unter Gorbatschow war die in den letzten Zügen liegende Sowjetunion ins  Schlepptau der USA geraten. Es war peinlich und demütigend für den sowjetischen Präsidenten, wie er Ende 1990, Anfang 1991, den US-Angriff unter Bush Vater auf den Irak, einen treuen Verbündeten der Sowjetunion, rechtfertigten musste. Seit damals ist viel Wasser die Wolga hinuntergeflossen: Die Sowjetunion gehört der Vergangenheit an und Russland kämpft mit enormen wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Die Umstellung von der kommunistischen  Planwirtschaft zu marktwirtschaftlichen Verhältnissen  erfolgte zwar in rasantem Tempo, allerdings ohne jede soziale Absicherung, sodass die Russen den Kapitalismus in seiner schlimmsten Form kennen lernen. Einer kleinen Schicht Neureicher, die zum überwiegenden Teil aus den alten kommunistischen Kadern bestehen steht die breite Masse der Bevölkerung gegenüber, die kaum das Notwendigste zum Leben hat. Noch herrscht keine Rechtssicherheit im Lande, Korruption ist weit verbreitet, der Einfluss der Mafia äußerst groß und die Schattenwirtschaft blüht. Seit Putin zum “Präsidenten aller Russen” gewählt wurde, ist allerdings eine leichte Besserung in allen Bereichen feststellbar. Die Berichte über den Zustand der russischen Armee sind widersprüchlich. Mit der Disziplin steht es angeblich nicht zum Besten, Waffen sollen schlecht gewartet werden, zum Teil verrotten sie sogar. Putin duldet es sogar, dass sich US-Truppen unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung in den ehemaligen asiatischen Sowjetrepubliken einnisten. Dafür erhielt er freie Hand in Tschetschenien und wurde durch den Vertrag mit der NATO deren “stiller Gesellschafter”. “Alles fließt” sagten die alten Griechen und dies trifft in besonderen Maß auf die Politik zu. Russland wird sich in absehbarer Zeit wieder erholen. Es verfügt nach wie vor über Spitzentechniker und über ein ausgezeichnetes Schulwesen, vor allem aber über fast unbegrenzte Rohstoffe. Zudem wurde den Russen zu keiner Zeit ihr Nationalstolz ausgetrieben. Sie wurden zwar kommunistisch indoktriniert, nicht aber gänzlich umerzogen wie die Deutschen in den westlichen Besatzungszonen.

Sollten die Völker Europas, sollten die Deutschen jemals wieder zu sich selbst zurückfinden, dann vermutlich nur in enger Zusammenarbeit mit einem erstarkten Russland. Wir, die heute Lebenden, haben “die Russen”, siehe oben, als Feinde kennen gelernt. Tatsächlich gab es aber weit größere Zeitabschnitte,  in denen gute und freundschaftliche Beziehungen zwischen unseren beiden Völker bestanden. Putin, der geschichtsbewusste russische Präsident wies bei seinem Staatsbesuch in Deutschland darauf hin, dass “wir früher viel öfter Verbündete gewesen waren”, und er sprach von seinen Gefühlen für Deutschland, von Goethe und Kant und von gemeinsamer Geschichte. Aber auch innerhalb Russlands haben Deutsche eine große Rolle gespielt und das Antlitz Russlands wesentlich mitgeprägt. Bereits im 11. Jahrhundert befanden sich deutsche Kaufleute im Raum Kiew und im 12. Jahrhundert arbeiteten deutsche Baumeister im Teilfürstentum Vladimir-Suzdal. Im Jahre 1229 gründeten deutsche Kaufleute in Nowgorod die älteste deutsche Kolonie auf russischen Boden und um 1500 wurde eine “Nemezkaja Sloboda”, eine deutsche Vorstadt in Moskau gegründet.  Immer wieder holten russische Zaren deutsche Siedler in ihr Reich. Unter Zar Alexey Michailowitsch (1645-1676) bekommen Städte wie Nowgorod, Kasan und Pleskau (Pskow) deutsche Vorstädte. Peter der Große holte sich viele Anregungen in der “Nemezkaja Sloboda”. Durch die Eroberung der Ostseeprovinzen wurde das Deutschtum in Russland erheblich gestärkt und die Baltendeutschen selbst erfreuten sich bald einer Sonderstellung unter den Zaren, die ganze Regimenter der Garde, ganze Ministerien und ihre hohe Bürokratie mit ihnen besetzten. Peter der Große räumte den Deutschen bei der von ihm vorangetriebenen Europäisierung Russlands eine prominente Rolle ein. Als “gebetene Gäste” sollten sie den Russen ein Vorbild sein. Peter selbst sprach laut Zeitzeugen gelegentlich mehr Deutsch als Russisch. Zu besonderer Blüte wuchs das Russlanddeutschtum unter der Witwe Friedrich Wilhelms von Kurland, Zarin Anna Ioannowna (1730-40), einer Nichte Peters. Fast alle einflussreichen Stellen am Hof, in Verwaltung, beim Militär und in der Diplomatie waren von – meist baltischen – Deutschen besetzt. Heinrich Johann Friedrich Ostermann aus westfälischer Pastorenfamilie hatte Anna Ioannowna auf den Thron geholfen und wurde Vizekanzler, einflussreichster Günstling am Hof der Herrscherin ist der ehemalige Kammerherr Ernst Johann von Biron, der für seine Dienste zum Herzog von Kurland befördert wird. Generalfeldmarschall Burghard Christoph Münnich aus einem alten oldenburgischen Deichgrafengeschlecht gilt neben Suworow als populärster russischer Feldherr. Mit Katharina II., der ersten Deutschen auf dem Zarenthron begann durch eine planmäßige Einwanderungspolitik eine neue Epoche in der Geschichte der Deutschen in Russland. Sie holte Familien aus Hessen, aus Baden und Württemberg, aus dem Elsass und der Pfalz, der Schweiz und aus Bayern, aus Norddeutschland und aus Westpreußen. 1816 wurde der Deutsche Nesselrode russischer Außenminister.

Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ab 1871, wird die domimierende Rolle des Deutschtums – nicht der Deutschen – eingeschränkt. Schul- und Amtssprache wird russisch. Mit Beginn des Ersten Weltkrieges endet die glückliche Zeit für die Deutschen in Russland, obwohl noch eine große Anzahl von Deutschen Führungspositionen in Verwaltung und Armee bekleideten. So war der Befehlshaber auf russischer Seite in der Schlacht von Tannenberg ein General Rennenkampff und der Kommandeur der 5. Russischen Armee General von Plehwe. Rund 40 Kommandeure auf russischer Seite waren deutschstämmig. Abgesehen davon heirateten die russischen Zaren vorwiegend deutsche Prinzessinnen und seit 1761 setzte sich die Romanow-Dynastie in der rein deutschen Linie Holstein-Gottorp fort. Auch das Verhalten der russischen Zaren gegenüber den deutschen Staaten war überwiegend freundschaftlich. Im Siebenjährigen Krieg rettete Russland durch sein Ausscheiden aus der antipreußischen Koaltion Friedrich den Großen und möglicherweise sogar die Existenz Preußens. In den Napoleonischen Kriegen waren es wieder die Russen, welche die Hauptlast im Kriege gegen den französischen Eroberer trugen. Als  General Ludwig York, der Kommandeur des preußischen Hilfskorps, am 30. Dezember 1812 mit dem russischen General Diebitsch in eigener Verantwortung gegen den Willen seines Königs die sogenannte Konvention von Tauroggen schloß, war der Startschuss für die Erhebung und schliessliche Befreiung Deutschlands abgefeuert. Auf russischer Seite verhandelte neben Diebitsch, der selbst Deutscher war, auch Clausewitz, der berühmte preußische Militärtheoretiker. Nach dem damaligen russischen Zaren Alexander wurde später aus Dankbarkeit der heute noch bestehende Alexanderplatz in Berlin benannt. Auch die Gründung des zweiten deutschen Reiches wäre ohne die wohlwollende Neutralität Russlands während des deutsch-französischen Krieges kaum möglich gewesen. Bismarck, der preußische Kanzler, hatte in seiner Zeit als preußischer Gesandter  in St. Petersburg wertvolle Vorarbeit geleistet. Die Beziehungen zu Russland, wie auch zu England, blieben während der Kanzlerschaft Bismarcks ungetrübt. Erst seine Entlassung 1890 durch den jungen Kaiser führte zu einer politischen Umorientierung der europäischen Mächte. Bismarcks Nachfolger als Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident, General Leo Graf von Caprivi unterließ es bewusst, den Rückversicherungsvertrag mit Russland zu erneuern, was dazu führte, dass bereits zwei Jahre später Frankreich und Russland eine Militärkonvention abschlossen und Deutschland – und auch Österreich-Ungarn – sich in einer Zweifronten-Situation befanden. Damit war die ungünstige Ausgangsposition der Mittelmächte für die folgenden kriegerischen Auseinandersetzungen geschaffen.

Heute sitzen Deutsche und Russen, ja alle Europäer, im selben Boot. Es geht nicht nur darum, sich US-amerikanischen “Wünschen” nach Teilnahme an ihren kriegerischen Abenteuern zu verweigern und die nationale Eigenständigkeit wieder zu erlangen, es geht auch darum, den seelenlosen, nur an materiellen Werten orientierten Amerikanismus, die “Coca Colonisation” und “Mc Donaldisierung” abzuwehren, die eigene Identität zu bewahren und die europäischen Kulturtraditionen zu erhalten. Wir müssen, trotz der Wunden, die Deutsche und Russen einander geschlagen haben, wieder an die Zeit vor den beiden Weltkriegen anknüpfen. Oberst Schirmer, unter dessen Kommando Nemmersdorf von der Deutschen Wehrmacht zurückerobert werden konnte hat die Russen, richtiger: die Sowjets, wohl von der schlimmsten Seite kennen gelernt. Er sah nicht nur die verstümmelten und geschändeten deutschen Leichen, er befand sich auch viele Jahre in sowjetischer Haft; zuerst im russisch besetzten Teil Deutschlands, der späteren DDR, dann in Workuta. Nach seiner Entlassung diente er noch in der deutschen Bundeswehr, also einer NATO-Armee. Und dieser Mann sagte mir anlässlich eines Gespräches:

„Das deutsche Volk kann nur überleben, wenn es wieder zu sich selbst findet. Und das geht nur, wenn wir uns aus dem Westbündnis lösen und uns in Richtung Osten orientieren.”

Das deutsche Volk ist das Volk der Mitte. Tatsächlich kann die Zukunft Deutschlands nicht in einem “entweder-oder liegen”, sondern nur in einem “sowohl als auch”. Das heißt: keine einseitige Westbindung und keine einseitige Ostbindung, sondern Außenpolitik im Sinne Bismarcks!

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