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5. Der Absturz

Manchmal ist es so, dass das Schicksal sehr klare Signale aussendet und dem mehr oder minder orientierungslosen Menschen zeigt, dass es Zeit wird, neue Wege zu beschreiten. Ich war taub für diese Signale, taub und gefühllos.

Die ersten Tage des Augusts 2003 verliefen wie immer. Doch nach den anstrengenden Tagen in der Politik suchte ich einen Ausgleich. Zunächst aber war ein Termin beim Sportfliegerklub Spitzerberg angesagt. Ich habe mich damals für den Einsatz von motorisierten Hängegleitern zur Grenzraumüberwachung eingesetzt und ein Fernsehteam begleitete mich zum Flugplatz, um die Fluggeräte und deren Möglichkeiten vor Ort zu sehen. Ich sollte die Aufnahmen schon bald im Fernsehen bewundern können – vom Krankenbett aus.

Wir starteten mit zwei Ultralights. Im ersten UL war ich mit dem Eigentümer des motorisierten Hängegleiters unterwegs, in der zweiten Maschine saßen ein Pilot und der Kameramann.

Der Flug über die Landschaft des nördlichen Burgenlands, der Parndorfer Platte mit den vielen neu erbauten Windkraftwerken war eindrucksvoll und es stellte sich rasch heraus, dass diese Flugzeuge aufgrund der niedrigen Betriebskosten, der guten Langsamflugeingenschaften und des guten Rundumblicks hervorragend zur Luftraumüberwachung geeignet waren und daher der öffentlichen Hand viel Geld erspart werden könnte. Das Ziel des Nachmittags war erreicht und nach der Landung am Flugfeld wollte ich mich so schnell wie möglich den Fragen der Journalisten stellen.

Eigenartig war nur, dass der zweite Hängegleiter nach der Landung am Rand der Piste stehenblieb und der Kameramann leblos am Boden lag. Er wurde von einem Arzt, der selbst Pilot war, betreut. Es handelte sich wohl um einen Schock. Der gute Mann war nicht in der Lage, aus eigener Kraft wieder auf die Beine zu kommen, war blass und machte uns große Sorgen.

Stunden später beichtete er uns, dass er noch nie in einem kleinen Fluggerät gesessen war. Urlaubsflüge hatte er natürlich in Passagiermaschinen mitgemacht. Noch nie war er aber so hautnah den Elementen der Luft ausgesetzt gewesen. Nachdem er Minuten nach dem Start erstmals nicht durch das Okular der Kamera sondern nur mit einem Gurt gesichert einige hundert Meter über dem Boden das „echte“ Fliegen erleben musste, erlitt er einen Kreislaufkollaps und Panikattacken. Ich erklärte ihm, dass alle Sorgen völlig unbegründet seien und das Fliegen zu den sichersten Fortbewegungsarten der Welt gehören würde. Ein paar Tage später hat sich der junge Mann sicher an meine Aussagen erinnert.

Der Vorfall beeindruckte mich nicht und ich machte mich daran, schon unmittelbar darauf die Gegend rund um Eisenstadt, nicht gerade die gebirgigste Gegend Österreichs, nach einem kleinen Hügel abzusuchen, den ich als „erster Mensch“ mit einem fußstartfähigen Fluggerät einweihen könnte. Mein Cousin Klaus, ein Hängegleiterpilot, und ich starteten zunächst von einem kleinen Hügel in der Nähe des Spitzerberges, der uns jedoch nicht außergewöhnlich genug war. Wir wurden letztendlich in Siegendorf fündig. Dort gibt es in der pannonischen Ebene einen kleinen Hügel, der laminar vom Wind angeblasen wird. Das Cover dieses Buches zeigt unter anderem mich bei den Vorbereitungen zum Start. Wir waren uns ganz sicher, dass von diesem Maulwurfshügel noch nie ein Mensch abgehoben war. Wir wollten die ersten sein.

Und auch hier versuchte mir mein Schicksal ein klares Signal zu geben. Denn für das kommende Wochenende war ein kleiner Urlaub mit der Familie am Stubenbergsee geplant. Und natürlich wollte ich dort auch ein paar Flüge vom Kulm absolvieren.

Der Start vom Minihügel war völlig problemlos, jedoch war die Flugzeit mehr als bescheiden. Aufgrund der geringen Flughöhe konnte ich mir den optimalen Landeplatz auch nicht wirklich aussuchen. Ich landete also inmitten einer Herde blökender Schafe, mein Gleitschirm verhing sich in einem Dornenbusch und blieb – oh Wunder – unbeschädigt. Dem Flugwochenende am Kulm stand also nichts im Wege.

Und dann war da noch dieser junge Mann im Rollstuhl, den ich in Eisenstadt bei einem Schaufensterbummel gesehen habe. Ich stand vor der Auslage eines Immobilienbüros, sonniges Wetter, ein Eis in der Hand. Und da kam diese junge Frau mit ihrem Mann im Rollstuhl. Er war unendlich schmal, Schatten unter seinen Augen. Es lag eine große Last auf diesen schmalen Schultern, das war klar zu erkennen. Seine Frau zeigte Optimismus, versuchte Fröhlichkeit, Entschlossenheit zu vermitteln. Ein auffallendes Paar und ich fragte mich, was das wohl für ein Gefühl sein muss, sich ohne die Kraft der eigenen Beine durchs Leben zu bewegen. Doch der Gedanke, dass es mir selbst passieren könnte, der kam mir nicht.

Endlich Wochenende und gutes Wetter. Wir verstauten unser Gepäck im Auto, die Flugausrüstung fand reichlich Platz im großen Kofferraum meines Vans. Sehr gemütlich und froher Dinge machten wir uns auf den Weg von Eisenstadt in die Steiermark. In Hartberg gab es noch einen kurzen Halt, um ein kräftiges Frühstück einzunehmen. Dann wurde in einer kleinen Pension in der Nähe des Stubenbergsees eingecheckt. Mit dabei war auch mein Schwager mit seiner Familie.

Dann wollten wir uns direkt auf den Weg zum See machen. Ich schlug jedoch vor, vorher auf den Kulm zu fahren. Ich wollte schon am Vormittag einen ersten Flug wagen. Es war wunderbar. Ruhige Luft, eine tolle Aussicht auf das spiegelglatte Wasser des Sees. Mit einigen Vögeln an meiner Seite flog ich den Berg entlang, genoss die Aussicht und das beinahe lautlose Fliegen und landete butterweich nur wenige Meter vom Strand entfernt.

Dann ging es mit der Familie zum Wasser. Ich war rundherum zufrieden. Wir tratschten, kühlten uns im Wasser ab und genossen den Tag. Alles wäre perfekt gewesen. Doch für mich war das offenbar nicht genug. Ein weiteres Mal wollte ich auf den Berg, ein weiteres Mal die Welt von oben ansehen, die doch auch hier unten mitten im Kreis der Familie so angenehm war.

Und so verabschiedete ich mich also von meinen Lieben und ließ mich von meinem Schwager nochmals zum Startplatz bringen. Der Wind war etwas stärker geworden, die Sicht nicht mehr ganz so ungetrübt wie am Vormittag des Tages. Es stellte sich außerdem heraus, dass kaum Thermik zu finden war und ich musste nach kurzem Flug einen Landeplatz am Berg suchen, anstatt direkt unten am See zu landen. Auch das war kein Problem, ich landete in der Nähe eines Bauernhofs. Und jetzt wäre es eigentlich an der Zeit gewesen, sich wieder zur Familie zu gesellen und zu Fuß das letzte Stück hinunter zum See zu marschieren.

Dies war der letzte Wink mit dem Zaunpfahl, der mir gegeben wurde. Ich hatte auch diesen nicht zur Kenntnis genommen. Das Schicksal nahm seinen Lauf.

Ich entschied mich also anders. Der Gleitschirm wurde eingepackt, Helm, Gurtzeug und Fluginstrumente verstaut und ich machte mich bergan auf den Weg zum Startplatz. Kein leichtes Unterfangen. Es war ein ordentliches Stück Weg zu Fuß zurückzulegen. Doch ich war gut austrainiert, weil ich in diesem Sommer schon viele Laufkilometer in den Beinen hatte.

Am Startplatz angekommen war die Lust an einem neuen Flug eigentlich gar nicht besonders groß. Ich legte meinen Schirm aus, legte mein Gurtzeug an, setzte den Helm auf und wartete auf passende Windbedingungen für den Start. Es dauerte eine Weile. Es war turbulent geworden. Vor mir starteten noch zwei andere Piloten, dann steckte ich meine Nase in den Wind, drehte schließlich meinen Rücken hangabwärts und machte meinen Rückwärtsstart. Beim Rückwärtsstart hat der Pilot den Paragleiter im Blick, wenn er den Schirm hochzieht. Erst wenn man sieht, dass alle Luftkammern geöffnet sind und der Schirm sich tatsächlich geöffnet hat, dreht man sich um und stemmt sich mit aller Kraft vom Schirm ab in Richtung Tal. Die Schritte werden immer schneller und schließlich spürt man immer weniger Druck auf den Beinen – man fliegt.

Aufgrund der schlechten Erfahrungen beim vorherigen Flug flog ich diesmal nicht direkt Richtung See, sondern versuchte mein Glück im Hangaufwind in der Nähe des Startplatzes. Ich flog zunächst die Hangkante entlang und suchte später die eine oder andere thermische Ablösung. Doch es half nicht viel, ich konnte kaum Höhe gewinnen und wollte mich daher auf den Weg in Richtung Landeplatz machen.

Plötzlich war es still, unheimlich still. Ich fühlte mich schwerelos. Ein Blick nach oben zeigt, dass mein Schirm zusammenklappte, ja mehr noch. Der Schirm wurde so stark nach unten gedrückt, dass er sich innerhalb kürzester Zeit unter mir befand. Was tun? Keine Chance das Ding wieder irgendwie aufzubringen, keine Chance den Rettungsschirm zu öffnen. Dazu bin ich zu knapp über dem Boden.

Ein Sturz aus einer Höhe von 15 m dauert keine zwei Sekunden. Innerhalb dieser kurzen Zeitspanne wird ein fallender Körper auf rund 60 km/h beschleunigt.

Die Welt blieb für mich einen Augenblick stehen, die Zeit hörte auf zu existieren. Ich wusste sofort, dass es jetzt nur um Eines ging: Überleben, irgendwie überleben. Ich versuchte, meine Beine unten zu halten, spannte jeden Muskel meines Körpers an. Ich bin unendlich konzentriert, unendlich fokussiert auf eine einzige Aufgabe: Diesen Fall zu meistern. Die Erde raste auf mich zu. Und weiter nur ein Gedanke im Kopf: Überleben, ich muss überleben. Dann der Aufprall, brutal. Die gesamte Energie des Falls wird vom meinem Körper aufgenommen. Meine Knie brechen mir die Rippen, über das Steißbein fährt der Schock in die Wirbelsäule, ein Wirbel nach dem anderen gibt nach, bricht, zerbröselt. Mein Kopf schlägt zuletzt am Boden auf. Wieder Stille. Und ein Schmerz, was für ein Schmerz. Ich bekomme keine Luft, kann nicht atmen, kämpfe mit meiner Lunge. Endlich löst sich dieser innere Krampf, ich schreie, doch der Schmerz hüllt mich nicht ein.

Sehr rasch bemerkte ich, dass da nicht nur dieser unbändige Schmerz im Rücken ist, da ist auch ein eigenartiges Gefühl in den Beinen, die kraftlos am Boden festgeklebt sind. Ein Gefühl der Taubheit oder eigentlich so gut wie gar kein Gefühl. Ich weiß, dass das nichts Gutes bedeuten kann. Ich muss irgendwie zu Hilfe kommen. Doch ich liege irgendwo auf einer Wiese. Niemand kann mich sehen, niemand hört mich. Und mein Mobiltelefon ist in meiner Gesäßtasche. Ich musste mich also drehen, um mein Handy zu erreichen.

Und genau hier beginnt der Kampf zwischen mir und dem Schmerz. Ich weiß, dass ich mir durch jede Bewegung meiner Wirbelsäule schweren Schaden zufüge. Doch diese Schmerzen sind nicht zu ertragen. Ich muss sie loswerden, ich muss telefonieren. Nein, noch kann ich es aushalten. Ich hebe meine Hand, vielleicht sieht mich jemand. Ich schreie vor Schmerz und ich schreie um Hilfe, ich schreie um mein Leben. Doch niemand hört mich. Die Zeit vergeht nicht, niemand kommt. Das Handy ist noch immer in der Hosentasche. Ich kann nicht mehr.

Und plötzlich läuft jemand auf mich zu. Ein Mann. Er will wissen was mir passiert ist. Ein Rettungshubschrauber, ich brauche einen Rettungshubschrauber. Der Mann ruft die Rettungszentrale an. Ich bekomme mit, dass man einen Rettungswagen schicken will. Ein Rettungshubschrauber, sage ich noch, ich brauche einen Rettungshubschrauber. Und wieder vergeht die Zeit unendlich lang. Doch mittlerweile sind auch meine Fliegerkollegen an der Unglücksstelle. Ich sage die Nummer von Verena auf: Ruft meine Frau an! Dann das Notarztteam mit dem Rettungswagen. Man kann nichts tun, endlich wird ein Rettungshubschrauber gerufen. Und wieder vergeht Zeit, doch sie vergeht unendlich langsam. Der Schmerz lässt nicht nach. Irgendjemand setzt mir eine Injektionsnadel.

Jetzt höre ich ihn, den Rettungshubschrauber, ich sehe ihn auch, wie er über mir schwebt. „Bleiben Sie hier”, ruft ein Arzt, „hierbleiben“. Wen meint er? Er meint mich, doch jetzt senkt sich ein Nebel über mich. Ich werde leicht – und dann dreht jemand das Licht aus.

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