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7. Der Beginn der Rehabilitation

Auf einer kleinen Anhöhe nahe des Weinbauorts Klosterneuburg liegt der „Weiße Hof”, mit 200 Betten die größte Rehabilitationseinrichtung der AUVA in Österreich. Ich wurde mit einem Rettungswagen nach Niederösterreich gebracht und ich erinnere mich gut daran, wie ich auf einem Transportbett liegend in die Empfangshalle geschoben und dann weiter in mein Zimmer gebracht wurde.

In Eisenstadt hatte man mir ein Einzelzimmer gegeben und ich hatte das Alleinsein genossen, um meine Gedanken zu ordnen und mir eine ganz persönliche Überlebensstrategie für mein zukünftiges Leben zurechtzuzimmern. Am Weißen Hof standen nur Dreibettzimmer zur Verfügung und ich war schon gespannt darauf, meine Zimmerkollegen kennenzulernen.

Da war zunächst ein pensionierter Mitarbeiter der Post, der wie mein zweiter Zimmerkollege zu einer sogenannten Wiederholungsreha im Haus war. Ich beneidete ihn, weil er in der Lage war, sich aus seinem Rollstuhl zu erheben und sich selbst Kleidungsstücke aus einem oberen Fach des kleinen Spinds zu nehmen. Es stellte sich jedoch heraus, dass der Mann ein großer Schnarcher vor dem Herrn war und ich noch viele schlaflose Nächte erleben sollte. Mein zweiter Zimmerkollege war recht geschickt darin, sich vom Rollstuhl ohne fremde Hilfe auf einen ganz normalen Stuhl zu wuchten. Und wenn er da so saß, hatte man keine Ahnung davon, dass er von der Körpermitte abwärts gelähmt war.

Für einen Neuling wie mich war es interessant zu hören, wie deren Leben verlaufen war. Man machte mir klar, dass ich eine sehr schwere Zeit vor mir hätte. Eine Aussage, die nicht gerade dazu angetan war, meine Stimmung zu heben. Noch dazu konnte ich nichts anderes, als auf dem Rücken zu liegen und mich mit fremder Hilfe auf die Bettkante zu setzen, das alles natürlich unter großen Schmerzen.

Am zweiten Tag nach meiner Einlieferung bekam ich Besuch von einem Arzt des Hauses, der mich gründlich untersuchte. Ich werde diese Untersuchung niemals vergessen. Dr. Märk teilte mir nämlich mit, dass ich wieder in der Lage sein werde, meine Beine zu gebrauchen. Zum ersten Mal nach dem schrecklichen Unfall sah ich Licht am Ende des Tunnels und ich nahm mir vor, so hart wie nur irgendwie möglich zu trainieren.

Die ersten Übungen bestanden darin, weitgehend ohne Hilfe auszukommen, um von der liegenden Position in eine sitzende zu gelangen. Später brachte man mir bei, mit einem sogenannten Rutschbrett selbst in den Rollstuhl zu kommen. Ein Ereignis der besonderen Art war mein erster Besuch in einer Dusche. Seit dem Unfall wurde ich nur im Bett liegend mit Waschlappen gereinigt. Nun stellt man mir einen Duschrolli zur Verfügung. Der Rollstuhl hatte auf der Sitzfläche ein Loch, damit man damit nicht nur in die Dusche fahren, sondern auch ohne aufzustehen seine Notdurft verrichten konnte.

Bei der ersten Dusche musste ich feststellen, dass große Teile meines Körpers das herunterfließende Wasser einfach nicht spürten und auch die Wassertemperatur nicht wahrnehmen konnten. Ich musste also vor dem Duschgang immer die Temperatur mit der Hand prüfen, um mich nicht zu verbrühen. Trotzdem fühlte ich mich nun wieder ein bisschen mehr wie ein Mensch. Frisch geduscht und rasiert fühlte ich mich den Herausforderungen der Reha gewachsen.

Nun ging es daran, für mich einen Therapieplan zu erstellen. Da gab es zunächst vor allem die für mich so wichtigen Einzeltherapien, Gruppengymnastik, Rollstuhltraining und Behindertensport.

Jede dieser Einheiten war für mich in den ersten Wochen zunächst mit großen Schmerzen verbunden. Die Wunde am Rücken war noch nicht abgeheilt. Ich war beispielsweise auch nicht in der Lage, mir selbst die Schuhe zuzubinden oder mich beim Essen über den Teller zu neigen.

In der Gruppengymnastik musste ich erst einmal lernen, mich vom Rollstuhl sitzend auf die Gymnastikmatte am Boden zu bewegen. Dazu war es notwendig, den Körper langsam nach vorne zu schieben, sich dann mit den Händen am Boden abzustützen – Schweißausbrüche wegen der Schmerzbelastung inklusive – und dann den Oberkörper langsam auf der Matte abzusetzen. Die ersten Übungseinheiten waren ernüchternd, doch nach einigen Wochen war ich bereits in der Lage, auf dem Bauch liegend meine Unterschenkel zu heben und mit der Ferse das Gesäß zu berühren. Eine Übung, die ich zwischendurch stundenlang im Bett geübt hatte. Auch die ersten Sit Ups waren nach einiger Zeit bereits möglich.

Besonders schwierig waren die Übungen am Gehbarren. Dazu wurde der Rollstuhl an die Stirnseite des Barrens gestellt und man wuchtete sich mit den Händen auf den Barren. Die Beine hingen mehr oder weniger lose am Oberkörper und es galt, sich unter Nachahmung einer Gehbewegung am Barren vorwärts zu bewegen. So armselig das für unbedarfte Zuseher aussehen muss, so toll ist aber auch das Gefühl, die Beine wieder am Boden zu haben. Der Gehbarren wurde in dieser Zeit zu einem guten Freund. Nach Ende der offiziellen Trainingseinheiten und nach dem Abendessen bin ich mit meinem Rolli oft zum Barren gefahren, um dort am Abend weiter zu trainieren.

Eines Tages stand dann die erste Wassergymnastik auf dem Programm. Die größte Herausforderung bestand schon alleine darin, vom Rollstuhl in das Becken zu gelangen. Besonders schwierig ist es dabei, im Wasser zu stehen, weil ich meinen linken Fuß nicht spüren konnte. So passierte es nicht nur einmal, dass ich einfach umgekippt bin und mehr als ungeschickt wieder Halt im Becken suchen musste. Doch mit der Zeit gelangen die Übungen immer besser und ich war irgendwann auch wieder so weit, ein paar Längen im Becken schwimmen zu können. Mit jeder Trainingsstunde wuchs mein Selbstvertrauen und ich hatte viel Spaß an der Bewegung.

Irgendwann war es dann soweit. Man drückte mir zwei Vierpunktkrücken in die Hand und ich lernte, mich an den Krücken stützend aufzustehen und später erste, ganz kleine Schritte zu machen. Bis dann der große Tag des Cooper Tests am Programm stand. Viele Sportler kennen diesen Test. Es geht darum, innerhalb von 12 Minuten möglichst weit zu laufen, um damit die eigene Ausdauerleistung zu prüfen. In meiner Zeit vor dem Unfall schaffte ich 3,6 km. Doch jetzt sah alles ganz anders aus. Der Test wurde auf den Gängen im Untergeschoß des weißen Hofs durchgeführt. Ich wuchtete mich vor dem Start aus dem Rollstuhl, die Krücken fest umklammert und setzte nach dem Start, das Gewicht vor allem auf den Armen ruhend, einen Fuß langsam vor den anderen. Es war unglaublich anstrengend und am Schluss sollte ich in diesen 12 Minuten eine Strecke von 125 m zurückgelegt haben. 125 m oder 17 cm pro Sekunde, ich war unendlich stolz darauf und begann, wie in alten Zeiten wieder ein Trainingstagebuch zu führen, in dem ich meine Fortschritte penibel festhielt.

Lange nach der Entlassung aus dem Weißen Hof dachte ich an diesen ersten Versuch zurück. Ich hatte es damals geschafft, 8 km ohne Stock auf meiner alten Laufstrecke in den Wäldern des Leithagebirges zurückzulegen. Ich war fast drei Stunden unterwegs und trotzdem bereits Lichtjahre von den ersten Anfängen entfernt. Dazwischen lagen tausende Trainingsstunden, jede davon hat sich gelohnt.

Ein wesentlicher Bestandteil unseres Trainings betraf den Umgang mit dem Rollstuhl. Ich hatte mich zuerst sehr dagegen gewehrt, weil ich fest davon überzeugt war, einmal ohne ihn auskommen zu können. Doch die Chancen waren in Wirklichkeit zunächst eher gering und daher das Training für das Meistern des Alltags von großer Bedeutung. Ich gewöhnte mich auch schnell daran und die innerliche Ablehnung wurde rasch vom Interesse an den umfangreichen Möglichkeiten im Rollstuhlsport verdrängt. Zunächst war es notwendig, nur auf den beiden Haupträdern balancieren zu lernen. Dazu wurden wir mit einem Seil, das an der Decke des Sportraums hing, gesichert und versuchten immer wieder, die beiden kleinen vorderen Räder vom Boden abzuheben, indem der Rollstuhl kurz und heftig nach vorne bewegt wurde. Dann galt es, die Vorderräder möglichst lange in der Luft zu halten. Wie beim Erlernen jeder neuen Fertigkeit hatte ich zuerst den Eindruck, dass es sich um eine unendlich schwierige Aufgaben handeln würde. Wochen später konnte ich den Rollstuhl minutenlang balancieren, mich dabei um die eigene Achse drehen oder Hindernissen ausweichen. Später kam das Training für Rollstuhlbasketball dazu. Wer das noch nie probiert hat sollte es unbedingt einmal versuchen. Es ist extrem anstrengend und eine echte Herausforderung. Am schwierigsten gestaltete sich das „Stufensteigen” mit dem Rollstuhl. Es ist aber durchaus möglich, auf zwei Rädern balancierend auch mehr als nur eine Stufe nach oben oder nach unten zu fahren, wenn man nur ausreichend übt.

Wie oft meine Trainingskollegen und ich aus dem Rollstuhl gefallen sind? Ich weiß es nicht mehr. Aber wir haben uns dabei nie ernsthaft verletzt. Wir bereiteten sogar eine Wette für die Sendung „Wetten dass“ vor. Zwei Langbänke wurden auf den Rücken gedreht, sodass der dünne Balken nach oben zeigte. Die Langbänke wurden auf einer Höhe von rund einem Meter befestig und eine kleine Rampe ermöglichte es, mit dem Rollstuhl wie auf Schienen auf den Bänken zu balancieren und dabei nach vorne zu fahren. Dabei konnten wir nicht direkt nach unten sehen, sondern fixierten einen Punkt weit vorne, um die Spur zu halten. Kam man nur ein kleines Stück von dieser Spur ab, dann ging es ganz schnell nach unten. Nur drei Rollstuhlfahrer schafften das Kunststück. Doch die Wette haben wir dann doch nie eingereicht. Es hat uns schon gereicht, die Aufgabe überhaupt gemeistert zu haben.

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