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Ein Interview mit Professor Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, seines Zeichens Völkerrechtler und Historiker, der US-amerikanischer und Schweizer Staatsbürger ist. An der Uno hielt er mehrere Funktionen inne, zuletzt als Unabhängiger Experte für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung. Alfred de Zayas ist Autor zahlreicher Bücher.
 

Frage: Die USA haben erneut Soldaten nach Kabul geschickt. Warum?

Prof. Dr. Alfred de Zayas: Schon wieder hat das Pentagon die Realitäten missverstanden und die Kraft der Taliban unterschätzt. Mit dem Sieg der Taliban war eher früher als später zu rechnen – sowie mit Terrorismus. Die USA wollten sich daraus zurückziehen und meinten, sie hätten sechs Monate Zeit, um es komfortabel zu schaffen, d. h. komfortabel für die USA und Nato. Es ist aber anders gekommen.
Warum haben die Taliban das Land so schnell wieder unter Kontrolle gebracht?

Die Taliban hatten die Kraft der Überzeugung und des religiösen Fundamentalismus. Die von den USA unterstützte Regierung hatte keine Wurzeln im afghanischen Volk. Darum ist die US-Niederlage in Afghanistan eigentlich peinlicher als der US-Abzug aus Vietnam im Jahre 1975, denn die Fehler hier sind nicht nur die des Pentagons, sondern auch die der Nato. Allerdings war dieses Debakel vorauszusehen. Die USA, Großbritannien und die Nato glaubten der eigenen Propaganda. Wie Julius Caesar einst schrieb, „quae volumus, ea credimus libenter“ – was wir glauben wollen, das glauben wir gerne. Es kommt noch schlimmer. Mundus vult decipi: Die Welt will betrogen werden. Und solange Menschen Geld daran verdienen können, werden die Lügen und falschen Darstellungen Erfolg haben.

Warum waren die USA überhaupt in Afghanistan?

Wegen geopolitischer Interessen der Nato und, wie sich herausgestellt hat, wegen wichtiger Bodenschätze wie seltene Erden. Es „amüsiert“ mich zu lesen, dass Jens Stoltenberg, Generalsekretär der Nato, noch die alte Lüge wiederholt, dass sie nach Afghanistan gingen, um den internationalen Terrorismus zu bekämpfen.

Das ist doch Unsinn

Ja, der übliche Quatsch. Es ist genauso falsch wie die Mär, dass die „Koalition der Willigen“ wegen angeblicher Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins im Irak einmarschierten. Im Irak war es das Öl, in Afghanistan sind es die Geopolitik und die speziellen Bodenschätze. Das Resultat ist: Der Hass gegen die USA und die Nato ist so gewachsen, dass möglicherweise mit viel mehr Terrorismus zu rechnen ist. Der Westen hat die Taliban provoziert, und nun steht er vor einem Scherbenhaufen. Die Taliban sind keine Imperialisten, sie kommen nicht nach Amerika, um alle zum Islam zu bekehren; sie leben in einer vom Islam und alten Traditionen beherrschten Welt. Das ist nicht unsere Welt, aber der Westen sollte aufhören, den Mittleren Osten und Asien beherrschen zu wollen. Wenn die USA die Taliban und die restliche afghanische Bevölkerung in Ruhe gelassen hätten, wären wir nicht in dieser misslichen Lage heute. Im Grunde genommen wollen die Afghanen nur in Ruhe gelassen werden. Die Taliban glauben an ihre Sache. Zwar verwenden sie kriminelle Methoden, aber man kann durchaus die Logik verstehen – sie wollen ausländische Interventionen ein für allemal beenden. Die Taliban bekämpften die Sowjets, wie sie die Amerikaner und alle Nato-Truppen bekämpften. Sie haben zwar viele Gegner im Volk – aber auch viele Anhänger.

Warum?

Die meisten Afghanen haben die Nase voll von ausländischen Interventionen und ständigen Bombardierungen. Es gibt das Selbstbestimmungsrecht aller Völker, das in der Uno-Charta und im Art. 1 des Uno-Pakts über bürgerliche und politische Rechte verankert ist. Die Afghanen – ob Taliban oder andere – haben keine Liebe für Imperialisten – egal ob Briten, Russen, Amerikaner oder die übrigen Europäer, die im Windschatten der USA die Werte des Völkerrechts ebenfalls verraten haben.

Was muss geschehen, damit sich das Land stabilisiert?

Zunächst brauchen die Afghanen Frieden – und die Menschen benötigen internationale Solidarität. Die Uno sollte den Wiederaufbau des Landes fördern und koordinieren. Die Food and Agriculture Organisation (FAO), die Weltgesundheitsorganisation, das Uno Entwicklungsprogramm (UNDP) können viel dazu tun, um die zerstörten Infrastrukturen des Landes aufzubauen, und zwar ohne IWF-Kredite, die stets einen Angriff auf die Souveränität jedes Empfängerlandes bedeuten. Die Botschaften von allen wohlmeinenden Staaten sollten zurück nach Kabul gehen und versuchen, das Land konstruktiv zu unterstützen, aber nicht im kapitalistischen Sinne des Neoliberalismus mit Privatisierungen und «Investitionen» durch das Großkapital.

Wie könnten die wohlmeinenden Staaten beim Wiederaufbau des Landes helfen?

Nicht nur mit Geld – sondern mit Ehrlichkeit, Respekt und Aufrichtigkeit. Unsere Lügen- und Lückenmedien haben seit mehr als 20 Jahren eine schwarz-weiß Karikatur der Lage in Afghanistan verbreitet. Jene Nato-Staaten, die Afghanistan erbarmungslos bombardierten und Hunderttausende von Zivilisten töteten – vielfach mit Drohnenangriffen – sie schulden Afghanistan Milliarden, Milliarden für den Wiederaufbau, Milliarden als Kompensation. Dabei geht es nicht um Kredite – sondern um völkerrechtlich gebotene Reparationsleistungen. Staaten wie die Schweiz, die sich an den Aggressionen nicht beteiligten und keine „hidden agenda“ führen, haben eine gewisse Glaubwürdigkeit und könnten eine Mediations-Rolle ausüben.

Die Taliban haben vorgeschlagen, für die Bildung einer Regierung alle Kräfte im Land miteinzubeziehen. Was halten Sie von dieser Idee?

Wir müssen warten und sehen. Vielleicht möchten sie das wirklich. Aber ob alle Kräfte tatsächlich mit einer Theokratie glücklich sein können – das bezweifle ich. Aber man muss abwarten. Es gibt Beobachter vor Ort, die das positiv bewerten.

Müsste man nicht die USA für alle zivilen Opfer zur Rechenschaft ziehen?

Gewiss. Aber die USA haben die vier Millionen Opfer des Vietnamkrieges – dazu zähle ich auch die Opfer der US-Bombardierungen und die Konsequenzen der Verwendung von Agent Orange und anderer chemischer Waffen – nie entschädigt. Natürlich haften die USA für die Megaverbrechen, die die Nato-Streitkräfte in Afghanistan begangen haben – u. a. für die Verwendung von Uranwaffen (depleted uranium). Das Land ist schwer kontaminiert worden – und die Radioaktivität des depletet uranium (abgereichertes Uran) verschwindet nicht von heute auf morgen. Die USA müssten für die vollständige Sanierung Afghanistans bezahlen. Das müssten alle Staaten, die nicht am Krieg beteiligt waren, einfordern, sonst wird wie in Vietnam nichts passieren.

Kann man sagen, die US-Außenpolitik in Kombination mit Waffengewalt hat versagt?

Ja und nein. Die US-Außenpolitik hat dafür gesorgt, dass die amerikanischen Waffenproduzenten enorme Profite machen konnten – und zwar seit 20 Jahren. Es war ein gutes Geschäft für Lockheed-Martin, Boeing, Haliburton, Blackwater – in Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien. Die USA betreiben eine Politik des permanenten Krieges. Nun stellt sich die Frage, wo werden die USA demnächst heiße Kriege führen – wohl nicht in Russland und China – das wäre viel zu gefährlich. Aber es bieten sich immer kleinere „Feinde“ an – wie Iran, Jemen, Somalia oder Lateinamerika usw. Abwarten ist eigentlich keine Option, die übrigen Staaten müssten hier der aggressiven Politik Einhalt gebieten.

Die USA werden also keine Lehren daraus ziehen?

Die USA haben keine Lehren aus dem Vietnam-Debakel gezogen. Auch nicht nach der gescheiterten «Bay of Pigs»-Invasion gegen Kuba, bei der gescheiterten Unterstützung der Contras in Nicaragua oder aus den vielen Versuchen, Hugo Chávez zu stürzen. – Wir erinnern uns an den Putsch vom April 2002 oder an die vielen späteren Attentate gegen die Regierung von Venezuela. Auch vor zwei Jahren, als sie den selbsternannten Präsidenten von Venezuela Juan Guaidó bei einem Putschversuch unterstützten, der glücklicherweise gescheitert ist. Und das sage ich als ehemaliger Uno-Experte, der das Land besucht und die Lage dort untersucht hat.¹

Welches Land könnte hier eine konstruktive Rolle spielen? Auch die EU muss über die Bücher.

Zunächst sollte die EU eine eigene Politik entwickeln – sich abkoppeln von den USA und der Nato. Ob das gelingt, bezweifle ich. Die EU hilft selten, ohne eigene Hintergedanken. Die Taliban wissen, dass die USA und die EU keine Freunde Afghanistans sind – und sie werden uns mit sehr viel Misstrauen begegnen. Man braucht eben ein neutrales Land wie die Schweiz, das im Namen von einigen europäischen Staaten sprechen könnte. Schändlicherweise haben die Briten, die Deutschen, die Franzosen, aber auch die Australier zu viele Kriegsverbrechen in Afghanistan begangen. Ohne Anerkennung dieser Tatsachen, ohne Entschuldigung, ohne Reue seitens der EU werden die Taliban kaum etwas mit der EU zu tun haben wollen. Dies öffnet Einflussmöglichkeiten für die Chinesen und für die Russen.

Sie hatten es bereits erwähnt. Berichten zufolge wurden bei der Bombardierung von Tora Bora, aber auch an anderen Orten abgereichertes Uran eingesetzt. Was heißt das für die Region?

Die neue Wortschöpfung „Ecocide“ ist in Mode gekommen. Tatsächlich haben sie die gröbste chemische Umweltverschmutzung verursacht, die auch auf Jahrzehnte Konsequenzen haben wird. Man muss eine gründliche Sanierung der Radioaktivität in Angriff nehmen. Es ist schon absurd, wie überall über den Klimawandel gesprochen wird, aber wenn es um Krieg geht, bei dem Unmengen von Schäden an Mensch und Natur angerichtet werden, gibt es von den Klimaaktivisten sozusagen keinen Aufschrei.

Der Einsatz dieser radioaktiven Waffen ist doch völkerrechtlich verboten.

Absolut. Im Humanitären Völkerrecht (international humanitarian law – gemeint sind die Haager und Genfer Konventionen und Protokolle) gelten zwei Prinzipien. Das Prinzip der Trennung zwischen zivilen und militärischen Zielen und das Prinzip der Verhältnismäßigkeit (principles of distinction and proportionality). Radioaktive Waffen sind mit diesen beiden Prinzipien nicht in Einklang zu bringen. Sie treffen immer auch Zivilpersonen und entfalten eine schädliche Wirkung, wenn der Krieg schon lange vorbei ist.

Wenn Sie die Politik der USA und ihrer Verbündeten zu Recht kritisieren, laufen Sie nicht Gefahr, als Sympathisant der Taliban abgetan zu werden?

Ich habe etliche Male die Verbrechen der Taliban angeprangert und verlangt, dass sie nicht straffrei davonkommen. Ich hoffe, dass der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag seine Untersuchungen über die Verbrechen der Taliban sowie über die Verbrechen der USA und Nato fortführt.

Haben wir hier nicht das Problem, wer ist der Aggressor und wer sind die Opfer?

Eigentlich mag ich Täter-/Opferschablonen nicht. Ich lehne Pauschalisierungen ab – aber, es ist klar, dass die afghanische Bevölkerung das Opfer dieses Krieges war. Es ist auch klar, dass völkerrechtlich gesehen weder die USA noch die Nato eine Legitimierung hatten und dass hier die Uno-Charta durch sie vielfach verletzt wurde. Ich lehne alle terroristischen Aktionen grundsätzlich ab, genauso wie ich den Staatsterrorismus des Pentagons verurteile. Man muss aber nicht alles verallgemeinern. Gewiss sind nicht alle Taliban Terroristen. Als Völkerrechtler und Historiker frage ich nach den Ursachen von Konflikten. Gewiss haben die Amerikaner dazu beigetragen, sie provozieren nicht nur die Islamisten – sie provozieren normale Menschen muslimischen Glaubens, wenn sie sich in ihre internen Angelegenheiten einmischen. Die USA provozieren die Palästinenser, wenn sie ihnen das Selbstbestimmungsrecht verweigern, wenn sie die Verbrechen Israels gegen die Palästinenser verteidigen. Die USA provozieren die ganze Menschheit, wenn sie sich anmaßen, eine „Mission“ zu haben und die „Demokratie“ zu exportieren. Wenn die USA „Demokratie“ sagt – meinen sie aber das kapitalistische Wirtschaftssystem. Dies hat wenig mit Demokratie oder Menschenrechten zu tun.

Es gibt Aussagen, dass die Taliban letztlich ein Produkt der USA seien. Können Sie dem zustimmen?

Ja, das hat sogar die demokratische US-Präsidentschaftskandidatin der Wahlen 2016, Hillary Clinton, in einem Interview bei Fox-News bestätigt.² Man hat damals im Kampf gegen die Sowjetunion die sogenannten Volksmudschaheddin unterstützt und mit US-Waffen ausgerüstet. Nachdem die Sowjetunion abgezogen war, hat man das Land seinem Schicksal überlassen und so konnten diese von der USA ausgerüsteten und von der CIA und vom pakistanischen Geheimdienst (ISI) ausgebildeten Kämpfer das Land 1996 übernehmen. Hillary Clinton sagte: «Wir bekämpfen diejenigen, die wir selbst geschaffen haben.»

Sie sprechen deutliche Worte und kritisieren Ihr Land. Das machen in solcher Klarheit nur wenige.

Als Patriot muss man das, man will doch dafür sorgen, dass sich sein Land an den Gesetzen und an der Gerechtigkeit orientiert. Ein Patriot fördert den Rechtsstaat dadurch, dass er von seiner Regierung saubere und ehrliche Handlungen und von seinen Politikern Rechenschaft verlangt. Charles de Gaulle definierte den Patriotismus folgendermaßen: „Le patriotisme, c‘est lorsque l‘amour du peuple auquel vous appartenez passe en premier. Le nationalisme, c‘est lors­que la haine des autres peuples l‘emporte sur tout le reste.“ [Patriotismus ist, wenn die Liebe zum Volk, dem Sie angehören, an erster Stelle steht. Nationalismus ist, wenn der Hass auf andere Völker Vorrang vor allem anderen hat. Red.] Ich bin damit voll einverstanden.

Man wirft den Taliban vor, dass sie den Drogenanbau fördern würden. Können Sie das bestätigen?

Wir brauchen dringend Whistleblower, die uns erklären, was da los war. Gewiss waren die Taliban zunächst starke Gegner des Opiums. Es gibt aber Hinweise darauf, dass die CIA bewusst den Opium-trade in Afghanistan förderte, u. a. um die Mudschaheddin in dem Krieg gegen die Sowjetunion zu finanzieren – das wurde als Operation „Cyclone“ bekannt. Auch bei der US-Intervention in Nicaragua in den 80er Jahren hat die CIA diese „Contras“ durch den Verkauf von Drogen finanzieren müssen, denn der amerikanische Kongress hätte solche „covert-operations“ nicht gebilligt. Die Taliban haben von der CIA einiges gelernt, vor allem die Finanzierungsmöglichkeiten ihres eigenen Verteidigungskrieges gegen die USA – eben durch Produktion und Verkauf des Opiums. Der schottische Journalist Alan Macleod hat im Juni 2021 einen interessanten Artikel dazu veröffentlicht „Geopolitics, Profit and Poppies: How the CIA Turned Afghanistan into a Failed Narco-State.“²

Was für Erkenntnisse finden sich in dem Artikel?

Er schreibt zum  Beispiel: «Mohn wird vom US-Militär als perfekte Kriegspflanze angesehen. Amerikanische Geheimdienstoffiziere stellten sogar Anleitungen für den Mohnanbau zusammen, verteilten Saatgut an lokale Afghanen und halfen beim Anbau von Hunderten von Mohnpflanzen, was den illegalen Handel im Land anheizte.

Im November 2017 gab das UN-Büro für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UnoDC) bekannt, dass der Mohnanbau in Afghanistan in einer einzigen Saison um mehr als 120 000 Hektar zugenommen hat. Die Opiumproduktion des Landes stieg von rund 180 Tonnen im Jahr 2001 auf mehr als 3 000 Tonnen pro Jahr nach der US-Invasion. Im Jahr 2020 erreichte sie sogar einen Rekordwert von fast 10 000 Tonnen. Heute ist Afghanistan der weltweit größte Mohnanbauer und Opiumproduzent und liefert mehr als 85 Prozent des weltweiten Opiums.»

Das heißt im Klartext, die USA sind für den explosionsartigen Anstieg der Mohnproduktion verantwortlich…

Gemäß dem Artikel von Alan Macleod muss man diesen Schluss ziehen.

Wie beurteilen Sie die Reaktionen des Menschenrechtsrates, der gerade seine 31. Sondersitzung über Afghanistan abhielt, oder die G 7 Gespräche?

Wie so oft kommen das Büro des Hochkommissars für Menschenrechte, der Menschenrechtsrat, die G 7 und andere Gruppierungen zu spät und können nur an «Band Aids» denken, humanitäre Hilfe, Aufnahme von Flüchtlingen und Migranten. Natürlich müssen die Uno und die internationale Gemeinschaft leidenden Menschen helfen – aber wir müssen auch verstehen, dass die USA und Nato mitverantwortlich sind an dieser Katastrophe.

Inwiefern?

Wenn die USA diesen willkürlichen und ungerechten Krieg in Afghanistan nicht geführt hätten, wenn die Nato Afghanistan nicht erbarmungslos bombardiert hätte, wären die Szenen in Kabul und anderen Orten Afghanistans anders. Es ist nicht schwierig zu verstehen, dass der Westen die Ursache vieler dieser Probleme ist, und solange die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen werden – und damit meine ich George W. Bush, Dick Cheney, Colin Powell, Tony Blair, Barack Obama, Donald Trump usw. – wird die Welt weiterhin solches Elend sehen. Die große Migrationswelle aus Libyen/Afrika, Syrien, Libanon usw. geht auf USA und Nato Interventionspolitik zurück. Es ist kein Wunder, wenn die USA ein Land und eine Region destabilisieren, dass es Konsequenzen gibt. Aber die Staaten, die sich daran nicht beteiligt haben – z. B. Ungarn, Slowenien, Slowakei usw. sollen für die Verbrechen der US nicht bezahlen. Was die Welt braucht, sind präventive Diplomatie, friedensfördernde Maßnahmen und ein Ende der Provokationen und Ausbeutung anderer Menschen und Länder.

Wie muss man die Stellungnahmen der verschiedenen Uno-Experten verstehen, die scharfe Vorwürfe an die Adresse der Taliban richten?

Was sie da sagen, ist nicht unbedingt falsch, aber es hilft in diesem spezifischen Moment nicht. Die Meldung ist zu allgemein – ich möchte fast sagen, zu banal – der Krise nicht angemessen. Sie sprechen von Flüchtlingen, Migration und Frauenrechten. Bedeutend ist, was nicht erwähnt wird, und sie ziehen nicht die richtigen Konsequenzen. Sie verurteilen nicht die illegale Einmischung seinerzeit der Sowjetunion und der USA in die Angelegenheiten Afghanistans. Die Katastrophe in Afghanistan ist die direkte Konsequenz der illegalen Interventionen, und kein Mensch hat sich dafür entschuldigt oder Reparationen geleistet. Die USA und Nato-Länder haben tausendfach mehr Schaden in Afghanistan angerichtet als die Sowjets. Die USA und Nato-Länder haben 20 Jahre das Land gefoltert. Nun kommen die Taliban an die Regierung – einige sogar, die in Guantánamo und in anderen Folterstätten gelitten haben. Die Uno-Rapporteure sollten die Verbrechen der USA und der Nato ebenso beim Namen nennen und unmissverständlich verurteilen – dies tun sie aber nicht. Interessant ist auch, dass nur einige Rapporteure mitsigniert haben – nämlich die politisch korrekten Rapporteure, die ich „Guardians of the Status quo“ nenne. Sie dienen dem System. Sie dienen den Interessen der Eliten.

Wer hat nicht signiert?

Zum Beispiel der Schweizer Rapporteur über Folter, Nils Melzer; der ugandische Rapporteur über die Weltordnung, Livingston Sewanyana; die Rapporteurin über Sanktionen, Alena Douhan.

Der US-Präsident hat sich auch geäußert…

Ja, erbärmlich. Nirgendwo wird von Biden anerkannt, dass die USA kein Recht hatten, in Afghanistan einzumarschieren, um 20 Jahre das Land zu besetzen. Da ist keine Spur von Selbstkritik, sondern nur Wiederholung der Propagandalügen. Das Phänomen ist nicht neu. Auch nach Vietnam wollten die USA ihre eigene Propaganda fortsetzen. Sie bleiben die Guten und die Taliban bleiben die Bösen. Gewiss – die Taliban haben viele Verbrechen begangen. Aber sie waren Opfer einer illegalen Aggression. Die US-Medien wollen die Konsequenzen der Niederlage nicht anerkennen, sondern die Kriegslügen fortsetzen

Warum konnten die USA die Regierungen und das Volk Afghanistans nicht für «The American Way» gewinnen?

Erstens konnten die Amerikaner das afghanische Volk nicht davon überzeugen, dass das westliche Model besser sei als ihr eigenes. Zweitens, die Amerikaner haben sich nicht in die Lage der Menschen dort versetzt, ihre Kultur und ihre Traditionen nicht verstanden. Eines ist auf alle Fälle klar: Die Afghanen wollen den westlich-amerikanischen neoliberalen Kapitalismus nicht. Niemand will von einer fremden Macht bestimmt werden. Ob richtig oder falsch, jedes Volk hat das Recht, sich selbst zu entwickeln und den eigenen Weg zu bauen. Allenfalls können wir Rat geben, wenn uns jemand darum bittet.

Was würden Sie für einen Weg als ehemaliger Unabhängiger Uno-Experte für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung im Umgang mit der Situation in Afghanistan empfehlen?

Respekt gegenüber dem afghanischen Volk. Respekt für das Selbstbestimmungsrecht aller Völker. Die Respektierung der Uno-Charta, insbesondere des Gewaltverbots im Artikel 2(4) der Charta. Die Respektierung des Verbotes der militärischen Intervention und der imperialen Einmischung in die inneren Angelegenheiten von anderen Ländern, wie es in etlichen Resolutionen der Uno-Generalversammlung steht, u. a. Res. 2625, 3314 usw. Ich würde empfehlen, dass meine 25 Prinzipien einer gerechten Weltordnung angewandt werden, dass diese Prinzipien in alle Sprachen übersetzt werden, einschließlich Dari (Farsi), Paschtu und die anderen Sprachen, die in Afghanistan gesprochen werden. Meine 25 Prinzipien wurden dem Uno-Menschenrechtsrat im März 2018 vorgelegt⁴ und nun liegen sie in meinem Buch „Building a Just World Order“⁵ vor. Die Präsidentin der Generalversammlung 2018-19, Maria Fernanda Espinosa, sagte darüber: „Die 25 Zayas-Prinzipien der internationalen Ordnung sind eine moderne Magna Carta. Wenn sie von der internationalen Gemeinschaft umgesetzt würden, könnten sie dazu beitragen, im 21.  Jahrhundert Frieden mit sozialer Gerechtigkeit zu sichern. Gemäss der Uno-Charta tragen die Mitgliedsstaaten Verantwortung für zukünftige Generationen. Daher sollten sie konkrete Massnahmen ergreifen, um diese regelbasierte Ordnung in internationaler Solidarität zu verwirklichen.“

Herr Professor de Zayas, herzlichen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser | Der Abdruck erfolgte mit freundlicher Genehmigung von Zeitgeschehen im Fokus.

¹ undocs.org/A/HRC/39/47/Add.1 siehe auch Kapitel 12 des Buches «Building a Just World Order», https://www.claritypress.com/product/building-a-just-world-order
² www.youtube.com/ watch?v=vlbZt56qv18
³ www.mintpressnews.com/cia-afghanistan-drug-trade-opium/277780/
4 www.ohchr.org/EN/Issues/IntOrder/Pages/OutliningPrinciples.aspx
⁵ Kapitel 2, Building a Just World Order, Clarity Press, Atlanta, 2021.


Von Redaktion

4 Gedanken zu „Alfred de Zayas: „Afghanistan ist der weltweit größte Mohnanbauer und Opiumproduzent““
  1. Entschädigung muss gefordert werden.

    Ja, das finde ich auch und zwar von Afghanistan und das als Zeichen der Ehrlichkeit vor allen Gesprächen.

    Entschädigung wofür? Für den Krieg gegen Zivilisten, die mit den Tonnen von Drogen für ihr Leben zerstört wurden!
    Also sofortigen Anbaustopp, alle Felder zur Lebensmittelgewinnung für die eigene arme Bevölkerung. einsetzen

    1. Es ist ein großer Unterschied, ob fremde Länder einfallen und das Volk töten und drangsalieren, oder ob man Menschen mit Drohen beliefert, die sie haben wollen. Diese Handlungsfreiheit haben Bombardierte nicht.

      1. Genau so sehe ich es auch, d. h. die westliche Pharma-Induytrie ist doch auch eine Drigen-Industrie mit organisierten Vertriebswegen über Arztpraxen und Apotheken. Wo ist den da der Unterschied? Rezeptpflichtige Drogen vs. Rezeptfreie Drogen.

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