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Von Olivier Bault*

In einem Urteil vom 20. April erklärte das polnische Verfassungsgericht eine am 23. Januar vom polnischen Obersten Gerichtshof angenommene Entschließung für ungültig, die für sich geltend machte, dass sie auf einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs beruhe. In dieser Entschließung, die von drei der fünf Kammern des polnischen Obersten Gerichtshofs (der eigentlich ein Kassationsgericht ist) angenommen wurde, sahen sich die Richter, die nach den vom Parlament in den Jahren 2017 bis 18 verabschiedeten Reformen ernannt worden waren, in ihrer Befugnis Urteile zu fällen beeinträchtigt. Dies betraf auch die von der PiS am Obersten Gerichtshof geschaffene Disziplinarkammer, da deren Richter ebenfalls vom Präsidenten der Republik auf Vorschlag des reformierten Justizrates (KRS) ernannt wurden, dessen Unabhängigkeit von der Gesetzgebungs- und Exekutivgewalt umstritten ist. Die Regierung von Mateusz Morawiecki und die Präsidentin des Sejm – dem Unterhaus des Parlaments – wandten sich an das Verfassungsgericht mit der Argumentation, dass die Richter des Obersten Gerichtshofs mit ihrer Entschließung insofern in die Zuständigkeiten des Gesetzgebers eingegriffen hätten, dass sie de facto ein verabschiedetes Gesetz für ungültig erklärten, sowie ferner in die Zuständigkeiten des Verfassungsgerichts, das alleine befugt sei, über die Gültigkeit von Gesetzen im Lichte der polnischen Verfassung zu entscheiden.

Um sich Befugnisse anzueignen, die sie gar nicht haben, hatten die Richter des Obersten Gerichtshofs, angeführt von der ersten Präsidentin des Obersten Gerichtshofs Małgorzata Gesdorf, die sich von jeher stark gegen die Reformen der PiS engagiert hatte, an den Europäischen Gerichtshof gewandt. Letzterer entschied in einem merkwürdigen Urteil vom 19. November, dass es Sache der Richter des polnischen Kassationsgerichts ist, zu entscheiden, ob der von der PiS reformierte Nationalrat für Justiz die Anforderungen der Unabhängigkeit und der Unparteilichkeit erfülle, welche allgemein in den europäischen Verträgen erwähnt werden. Die Entscheidung über die Legitimität dieser Institution nach einer Gesetzesreform liegt in Polen jedoch in der Zuständigkeit des Verfassungsgerichts. Dieses hatte jedoch bereits im März 2019 die Gültigkeit der neuen Methode zur Ernennung von Justizrats-Mitgliedern und folglich die Gültigkeit der vom reformierten Justizrat vorgeschlagenen Ernennung von Richtern bestätigt.

Kein europäischer Vertrag oder Text ermächtigt den EU-Gerichtshof, Justizbehörden in den Mitgliedstaaten neue Befugnisse zuzuweisen.

Am 20. April stellte das polnische Verfassungsgericht daher fest, dass die vom Obersten Gerichtshof angenommene Entschließung, die sich auf das Urteil des EuGH vom November stützen will, gegen die polnische Verfassung und den Vertrag über die Europäische Union verstoße und die Grundsätze der loyalen Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten verletze.

Gleichzeitig mit den polnischen Rebellenrichtern hatte auch die Europäische Kommission dem EuGH die Frage der Gültigkeit der Ernennung von Richtern aufgrund der Reformen der Jahre 2017-18 vorgelegt, und der EuGH erließ am 8. April eine einstweilige Verfügung, in der er Polen aufforderte, die Kammer für Disziplinarmaßnahmen beim Obersten Gerichtshof zu suspendieren. Eine einstweilige Verfügung, die von Polen nicht anerkannt wird, da sie in seine souveränen Befugnisse eingreift. Auch in diesem Fall kündigte Ministerpräsident Mateusz Morawiecki an, das Verfassungsgericht anzurufen, um die Grenzen der Befugnisse der europäischen Institutionen in Bezug auf die polnische Verfassung und die europäischen Verträge festzulegen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in französischer Sprache auf dem Online-Nachrichtenportal Présent, https://present.fr/2020/04/25/la-cour-constitutionnelle-polonaise-fixe-les-limites-du-champ-daction-de-la-cour-de-justice-de-lue/


*) Über den Autor:

Olivier Bault ist ein französischer freiberuflicher Journalist, der seit den 1990er Jahren in Polen lebt. Arbeitet mit Do Rzeczy, Présent, Réinformation TV, Visegrád Post u.a.

 

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