Délvidék/Vojvodina: Ungarns verlo­rener Süden

Bildquelle: Ungarnreal

Von Zsuzsa Thyssen Cirkl
 
Charles De Gaulle drückte sich 1946 folgen­der­maßen aus: “Es gab viele uner­war­tete Ereig­nisse in dem drei­ßig­jäh­rigen Kriegs­drama, das mit unserem Sieg geendet hat.” Auch die meisten Histo­riker betrachten den Zeit­raum zwischen den zwei Welt­kriegen zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts als nichts, weiter als eine Waffen­ruhe vor der unver­meid­li­chen Fortsetzung.

Die erzwun­gene Frie­dens­ord­nung durch Pariser Vorstadt­ver­träge von 1919 und schlecht durch­dachte Entschei­dungen beschworen den zweiten Welt­krieg als Folge gera­dezu herauf.

Das am 4. Juni 1920 in Trianon, im Schloss der fran­zö­si­schen Könige unter­zeich­nete Frie­dens­diktat entzog Ungarn zwei Drittel der seit tausend Jahren ihm gehö­renden Gebiete, gleich­zeitig zwang es den dazu propor­tio­nalen Teil seiner Bevöl­ke­rung in ein Minder­hei­ten­da­sein, größ­ten­teils unter der Herr­schaft von Nach­bar­län­dern und ‑völkern, die in der Welt nicht unbe­dingt für ihre Gerech­tig­keit bekannt waren. Über die Folgen ließe sich lange spre­chen: Die Mutter­sprache konnte nicht mehr gespro­chen und die eigene Kultur nicht mehr ausge­lebt werden, fast alle seit Jahr­hun­derten gut funk­tio­nie­renden Insti­tu­tionen wurden von den Ordnungs­kräften verboten, Besitz wurde beschlag­nahmt, Menschen wurden umge­sie­delt usw.

Sämt­liche Maßnahmen verstießen gegen die im Frie­dens­ver­trag von Trianon fest­ge­legten Regelungen.

Ungarn verlor zudem sein frucht­barstes land­wirt­schaft­li­ches Gebiet, das zuvor als Korn­kammer des Landes gegolten hatte. Die serbi­schen Macht­haber schlossen der größ­ten­teils von Ungarn und Deut­schen bewohnten Vojvo­dina, die nun zum König­reich der Serben, Kroaten und Slowenen gehörte, bei der Auftei­lung in Land­kreise auch nörd­liche Regionen Serbiens an. Dadurch wurden die ethni­schen Verhält­nisse verän­dert, was der Frie­dens­ver­trag eigent­lich eindeutig unter­sagte. Leider beschäf­tigten sich die Mächte, die die Zertei­lung des Landes ange­ordnet hatten, mit derlei unge­rechten Vorge­hens­weisen kaum noch.

Kein Wunder, schließ­lich berei­teten sie sich schon auf den zweiten Welt­krieg vor!

Mit andert­halb Millionen Euro hat Ungarn die Sanie­rung der histo­ri­schen Synagoge von Szabadka (Maria-There­siopel, Subo­tica) unter­stützt (2017) · Bild­quelle: Vajdasági Magyar Szövetség

Die nicht-slawi­sche Bevöl­ke­rung in der Vojvo­dina erlebte ihre schmerz­haf­testen, bis heute nicht über­wun­denen Verluste im Zeit­raum vom Herbst 1944 bis Sommer 1948. Jede einzelne unga­ri­sche oder deut­sche Familie trug Trauer, voraus­ge­setzt, es war von ihr noch jemand übrig geblieben, der trauern konnte.

Von Früh­jahr 1941 bis Herbst 1944 hatte Ungarn seine durch das Frie­dens­diktat von Trianon verlo­renen südli­chen Gebiete zurück­ge­wonnen. Deren erneuter Verlust wurde im Herbst 1944 offen­sicht­lich, und dieses Mal nahm die neu entste­hende Regie­rung des aus der Monar­chie zur Repu­blik umge­formten Jugo­sla­wiens, mit Josip Broz Tito an der Spitze, ihre Rache sehr ernst. Am 21. November dieses Jahres traf der Anti­fa­schis­ti­sche Rat der Natio­nalen Befreiung Jugo­sla­wiens (AVNOJ) einen eindeu­tigen Beschluss.

Durch diesen wurden die in der Vojvo­dina lebenden Deut­schen, also mehr als eine halbe Million Menschen, für kollektiv schuldig erklärt und voll­ständig enteignet. Glei­ches galt für drei unga­ri­sche Gemeinden. Damit begann ein Blut­ver­gießen, das den Begriff des Kriegs­ver­bre­chens bei Weitem erschöpft.

Dieje­nigen, die die unga­ri­schen und deut­schen Bewohner der Region nach dem ersten Welt­krieg noch am Leben gelassen hatten, wollten nicht noch einmal ein Risiko eingehen. Die Gescheh­nisse können mit Sicher­heit als indi­rekte Folge des Vertrags von Trianon betrachtet werden. Die unga­ri­sche Bevöl­ke­rung der Vojvo­dina erwartet zu Recht Verständnis und Mitge­fühl seitens des deut­schen Volkes, denn wir hier fühlten und fühlen auch mit Deut­schen mit, die am Ende des 18. Jahr­hun­derts aus Baden-Würt­tem­berg, dem Elsass, der Pfalz, Hessen und dem Saar­land hierher umge­sie­delt und vom Regime Titos fast voll­kommen ausge­rottet wurden.

Da dies in den deutsch­spra­chigen Medien und im deut­schen Schul­wesen nicht thema­ti­siert wird, möchten wir hier kurz zusam­men­fassen, was sich eigent­lich zuge­tragen hat.

Im Oktober und November 1944 flüch­teten fast 240 000 Deut­sche aus der Vojvo­dina; ihren gesamten Besitz ließen sie dabei zurück, er wurde freie Beute. Sie versuchten ihr Leben zu retten. Die meisten von ihnen fuhren mit dem Schiff nach Südame­rika und bis heute weiß man nicht, wie viele von ihnen dort an Land gingen und ein neues Leben beginnen konnten.

Die in der Vojvo­dina verblie­benen 260 000 Deut­schen wurden, mit sehr wenigen Ausnahmen, von den Parti­sanen in Sammel­lager getrieben. Über Nacht wurden viele deut­sche Dörfer mit Stachel­draht umzäunt, dorthin wurden auch die Bewohner der Nach­bar­dörfer gebracht.

Es entstanden 30 Sammel­lager für Deut­sche in der Batschka, 43 im Banat und 9 in Syrmien, in der benach­barten Teil­re­pu­blik Kroa­tien sind 9 Lager bekannt. Infolge der unmensch­li­chen Verhält­nisse und körper­li­chen Peini­gung starben etwa 100 000 Menschen, und auch das Über­leben war kein dank­bares Schicksal. Laut der Daten des Innen­mi­nis­te­riums der Sozia­lis­ti­schen Föde­ra­tiven Repu­blik Jugo­sla­wien waren am 18. Januar 1946 in Jugo­sla­wien 117 485 soge­nannte Volks­deut­sche in Gefan­gen­schaft, und nur 12 897 Deut­sche lebten in Frei­heit.

Das letzte Lager in Gakowa (serbisch Gakovo) wurde 1948 aufgelöst!

Wie viel Zeit war seit dem Ende des Krieges bereits vergangen?! In Gakowa waren mehr als 8000 Deut­sche den Torturen des Lagers erlegen, im vier Kilo­meter entfernten Kruschiwel (serbisch Kruševlje) mehr als 5000. In diese zwei Lager hatte man Frauen, Kinder und Alte verschleppt. Hier waren auch meine Urgroß­el­tern väter­li­cher­seits gefangen. Nach ihrer Frei­las­sung verboten sie, wie viele andere, den Gebrauch der deut­schen Sprache in ihrer Familie, da sie es für lebens­ge­fähr­lich hielten, ihre Iden­tität zu offen zu zeigen.

Erwie­se­ner­maßen unter­stützten mehr als 90 Prozent der Deut­schen in der Vojvo­dina Hitlers Politik nicht, die meisten stellten sich sogar offen dagegen, womit sie ihr Leben riskierten.

Der gesamte Besitz der Deut­schen, ihre Felder, Häuser, Werk­stätten, Schlacht­höfe und Fabriken, wurde beschlag­nahmt. In ihre Häuser siedelte Tito die Armen aus dem weniger entwi­ckelten südli­chen Teil das Landes um, groß­zügig schenkte er ihnen alles, wofür mehrere Gene­ra­tionen geschuftet hatten.

Von 500 000 Deut­schen bleiben heute kaum mehr als 3000, und nur wenige von ihnen spre­chen noch die Muttersprache.

Sicher ist: Jugo­sla­wien und der in den Augen der Welt bis heute hoch ange­se­hene Marschall Tito haben mit einer halben Million Deut­scher und vier­zig­tau­send Ungarn „abge­rechnet“. Deswegen bedeutet Trianon für uns Deut­sche und Ungarn aus der Vojvo­dina glei­cher­maßen Trauer!

Die Autorin, Zsuzsa Thyssen Cirkl, ist eine aus der Vojvo­dina stam­mende Journalistin.

Dieser Beitrag erschien zuerst in deut­scher Über­set­zung von Sophia Matteikat bei UNGARNREAL, unserem Partner in der EUROPÄISCHEN MEDIEN KOOPERATION.


3 Kommentare

  1. Das König­reich Ungarn bis 1918 war ein Viel­völ­ker­staat, in dem die Ungarn selber nur 44 % der Bevöl­ke­rung stellten. Viel­leicht hätten in der KuK Monar­chie nicht nur 1867 die Auftei­lung 2 Bereiche sondern nach den mögli­chen Grenzen der Bevöl­ke­rungs­mehr­heiten ( z.B. nicht weiterhin ein König­reich Böhmen, eine Mark­graf­schaft Mähren und Herzogtum Schle­sien sondern eine Auftei­lung dort in eine deut­sche Mehr­heit wie dann 1938 das Sude­ten­land an viel­leicht ein König­reich Öster­reich und die tsche­chi­schen Gebiete als tsche­chi­sches König­reich auch unter Kaiser Franz aber mit tsche­chi­scher Teil­re­gie­rung ) und viel­leicht ähnliche Abgren­zung auch zwischen unga­ri­scher und slova­ki­scher Mehr­heit und viel­leicht hätten dann diese Teil­staaten dann 1919 nur ihre voll­stän­dige Selbst­stän­dig­keit erhalten . Aber in diesem Fall nicht der Gegen­satz zu vorher: unga­ri­sche Landes­herren und dann für eine Halbe Million Ungarn slova­ki­sche Landesherren ??

  2. Groß­artig und über­fällig, daß jemand von diesen Gescheh­nissen erzählt.
    In der Vojvo­dina war es Tito, aber die West­mächte haben in Deutsch­land ganz ähnlich gehaust. Nach Kriegs­ende haben sie 12–14 Millionen Zivi­listen umge­bracht und die Rhein­wie­sen­lager waren wohl ähnlich schreck­lich wie die Vernich­tungs­lager Titos:
    www.compact-online.de/die-rolle-von-winston-churchill-%E2%80%92-geplante-und-durchgefuehrte-massenmorde-im-20-jahrhundert-erster-teil/
    www.compact-online.de/ausrotten-vertreiben-oder-bloss-seelenmord-massenmorde-im-20-jahrhundert-zweiter-teil/
    www.compact-online.de/vertreibung-und-umerziehung-massenmorde-im-20-jahrhundert-dritter-teil/.

    • Die wahren Kriegs- und Nach­kriegs­ver­bre­cher. Wer neben diesen Greu­el­taten den Bomben­terror, das größte Massaker an der Zivil­be­völ­ke­rung aller Zeiten auf dem Kerb­holz hat, hat jedes Recht verwirkt, auch nur irgend­etwas anzuklagen.

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