Der Balkan: Schild Europas und Pulver­fass der Welt

Balkan & Griechenland · Bildquelle: Centro Machiavelli

Von Fabio Bozzo

Wenn wir uns die Balkan­halb­insel vorstellen, könnten wir sie alle­go­risch durch den Sucher eines Scharf­schützen betrachten (keine beiläu­fige Vision ange­sichts der unru­higen Geschichte der Region), d.h. mit dem Feld, das durch zwei Linien geteilt ist, eine verti­kale und eine hori­zon­tale. Die erste und älteste Teilung trennt den Westen vom Osten oder, genauer gesagt, die katho­li­sche Welt von der ortho­doxen. Diese Grenze stammt aus der Zeit, als der letzte einheit­liche römi­sche Kaiser, Theo­dosius I. (347–395), beschloss, die kapi­to­li­ni­schen Herr­schafts­ge­biete endgültig in Pars Occi­den­talis und Pars Orien­talis zwischen seinen beiden Söhnen Hono­rius (384–423) und Arca­dius (377–408) aufzu­teilen. Der Balkan, der damals eine völlig andere ethno-reli­giöse Zusam­men­set­zung hatte als heute, wurde von der neuen Grenze durch­zogen. Das Symbol der Grenze war der Fluss Drina, ein mittel­großer Wasser­lauf, der 346 Kilo­meter lang ist, bevor er in die Donau mündet. Von diesem Tag an wurde die Drina immer wieder zu einer flüs­sigen und oft blut­ver­schmierten Grenze. In der Tat, abge­sehen von zwei histo­ri­schen Klam­mern (die osma­ni­sche war länger und die jugo­sla­wi­sche viel kürzer), hätte der frag­liche Fluss zuerst die beiden oben genannten Reiche geteilt und dann, nach und nach, eine Reihe von Monar­chien und Repu­bliken, die einander entlang seiner Ufer folgten. Schließ­lich trennt die Drina auch heute noch Serbien von jener geopo­li­ti­schen Collage, die sich Bosnien-Herze­go­wina nennt.

Die zweite interne Balkan-Linie im Ziel­fern­rohr unseres imagi­nären Scharf­schützen ist die Nord/Süd-Linie. Diese Grenze hat im Gegen­satz zur vorhe­rigen kein leicht erkenn­bares geogra­fi­sches Element auf den Karten. Gleich­zeitig ist sie aber auch aus histo­ri­scher und anthro­po­lo­gi­scher Sicht von größerer Bedeu­tung. Sie ist nicht weniger als die Grenze zwischen der isla­mi­schen Welt und der euro­päi­schen Zivi­li­sa­tion. Das mensch­liche Element auf dem Balkan teilt eine Beson­der­heit mit dem der Iberi­schen Halb­insel, einem Land mit ähnli­cher Geogra­phie, das eben­falls einen jahr­hun­der­te­langen Befrei­ungs­kampf von Norden nach Süden gegen die musli­mi­schen Eindring­linge erlebte. Diese Beson­der­heit besteht darin, dass sich die für die levantinische/islamische Welt typi­schen ethno-kultu­rellen Merk­male tenden­ziell verstärken, je weiter man nach Süden geht, also in Rich­tung der Gebiete, die am längsten dem moham­me­da­ni­schen Recht unter­worfen waren. Sicher­lich hatte die arabi­sche Herr­schaft in Spanien bemer­kens­werte Unter­schiede zur türki­schen, aber der Islam mit seiner unglaub­li­chen homo­lo­gie­renden Kraft machte alle eroberten Länder manu mili­tari zu einem Teil der umma, der Gemein­schaft der mosle­mi­schen Gläubigen.

Gehen wir also davon aus, dass es zwei Reisende gibt. Der eine startet seine Reise von Kata­lo­nien aus in Rich­tung Anda­lu­sien, der andere, ausge­hend von Buda­pest, in Rich­tung Grie­chen­land. Beide werden das Gefühl haben, sich in einem rein euro­päi­schen Land zu befinden. Beide werden sich, abge­sehen von der Präsenz seltener, aber wach­sender mosle­mi­scher Enklaven auf dem Balkan, von Christen umgeben sehen. Aber beide werden auf ihrem Weg nach Süden eine Reihe von Verän­de­rungen wahr­nehmen. Einige werden externer Natur sein, da das mittel­eu­ro­päi­sche Element zuneh­mend dem levan­ti­nisch-medi­ter­ranen weicht. Andere werden klima­ti­scher Natur sein, mit den entspre­chenden Konse­quenzen für mensch­liche Akti­vi­täten. Aber die Haupt­mu­ta­tion, progressiv und unauf­haltsam, wird kultu­rell sein.

Lassen wir die iberi­sche Situa­tion beiseite (die sehr ähnlich ist) und konzen­trieren wir uns auf den Balkan. In Ungarn wird es unser Reisender mit einem im Wesent­li­chen mittel­eu­ro­päi­schen Volk zu tun haben, dessen Geschichte stark unter den Türken­ein­fällen gelitten hat, das aber immer den Blick nach Norden gerichtet gehalten hat. Nach dem Eintritt in das ideale Band, das Kroa­tien, Sieben­bürgen und die Wojwo­dina umfasst (das kleine Slowe­nien hat es im Laufe der Zeit geschafft, eine vage alpen­län­di­sche und habs­bur­gi­sche Iden­tität zu bewahren), wird unser Anthro­po­loge beginnen, wesent­liche Unter­schiede zu bemerken. Das wirt­schaft­liche Niveau sinkt auf myste­riöse Weise, während Männer mehr das Bedürfnis verspüren, ihre Männ­lich­keit zu zeigen (nicht zufällig stammt das Wort Machismo aus dem hispa­ni­schen Umfeld). Dennoch wird sich der Anthro­po­loge in dem unter­suchten Terri­to­ri­al­streifen perfekt ange­passt fühlen und nur wenige Phäno­mene lokaler Exotik bemerken.

Im weiteren Verlauf der Reise betritt man den eigent­li­chen Balkan, der den Groß­teil Serbiens, Südru­mä­nien, Bulga­rien und das kleine Monte­negro umfasst. Selbst wenn man die isla­mi­sierten Gebiete Bosniens und Alba­niens ausklam­mert (die als Teil der Umma ein Fremd­körper auf dem Balkan selbst sind), wird der moderne Marco Polo fest­stellen, dass sich die Dinge wirk­lich ändern, zumin­dest was die Gebiete fernab der großen Städte betrifft. Die Menschen sind deut­lich ärmer, die Frauen kleiden sich altmo­di­scher und nüch­terner, und die Kultur der Ehre macht sich viel stärker bemerkbar als im Norden. Auf der einen Seite ist die Gast­freund­schaft fast heilig geworden, auf der anderen Seite sind Verstöße, ob tatsäch­lich oder vermeint­lich, Vorboten sehr ernster Konse­quenzen. Die Küche ihrer­seits verströmt heute einen starken türki­schen Einfluss, während der teuto­ni­sche Einfluss, der in Kroa­tien noch sichtbar war, fast verschwunden ist.

Aber machen Sie nicht den Fehler, serbisch-monte­ne­gri­ni­sche oder bulga­ri­sche Berg­be­wohner mit den Türken zu verglei­chen. Die „anato­li­schen Gemein­sam­keiten“ sind das Ergebnis einer langen, gewalt­samen und grau­samen Herr­schaft, die diese Grenz­völker zu Märty­rern und zum blutenden Schutz­schild Europas gegen die Vorfahren des IS machte, sowie eines der letzten Länder des Alten Konti­nents, in dem das Chris­tentum noch einen spiri­tu­ellen Wert hat. Sie mit den Türken zu verglei­chen, wäre daher eine Beleidigung.

Die nun müden Füße unseres Wander-Anthro­po­logen machen sich schließ­lich bereit für die letzte Station, Grie­chen­land. Im Vergleich zum Groß­teil der Balkan­halb­insel gibt es an ihrem Ende erheb­liche Unter­schiede. Nicht nur in der Sprache, deren helle­ni­sche Wurzel sich von der slawi­schen Wurzel des Serbo­kroa­ti­schen und Bulga­ri­schen unter­scheidet, ebenso wie von der neula­tei­ni­schen Wurzel des Rumä­ni­schen oder der thra­kisch-illy­ri­schen Wurzel des Alba­ni­schen. Die Grie­chen sind nämlich unter den Balkan­völ­kern dieje­nigen, die aus geogra­phi­schen Gründen eine größere mari­time Kultur und damit verbun­dene Kontakte mit fremden Völkern entwi­ckelt haben. Während das Hinter­land voll­ständig balka­nisch ist, haben sich die Küsten und Inseln tatsäch­lich viel mehr als der Rest der Region der Welt geöffnet und sind damit näher an West­eu­ropa heran­ge­rückt. Das bedeutet nicht, dass Grie­chen­land eine von den nörd­lich gele­genen Gebieten getrennte Einheit ist. Neben dem bereits erwähnten weniger entwi­ckelten Hinter­land teilen auch die Regionen Thes­sa­lo­niki, Athen und die Inseln (einschließ­lich des Sonder­falls Zypern) die Essenz der balka­ni­schen Geschichte und Iden­tität: ein Grenz­ge­biet zu sein, unter der kata­stro­phalen türki­schen Herr­schaft zu leiden und das Chris­tentum als Iden­ti­täts­ver­tei­di­gung zu leben.

Diese hypo­the­ti­sche Reise durch den Balkan hat uns also ein Terri­to­rium von mitt­lerer Größe gezeigt, das aber reli­giöse, ethni­sche und kultu­relle Unter­schiede enthält, die dem indi­schen Subkon­ti­nent würdig sind. Diese Viel­falt ergibt sich zum Teil aus der meist bergigen Orogra­phie und zum Teil aus histo­ri­schen Rekursen. Diese Charak­te­ris­tika haben den Balkan nicht nur zu einem ewigen Grenz­land gemacht, sondern auch zu einer Art „Container“ für aufein­an­der­fol­gende barba­ri­sche Inva­sionen, die nach einer Zwischen­phase die jewei­ligen Völker von Nomaden zu Sess­haften werden ließen. So gab es zwischen dem Unter­gang des West­rö­mi­schen Reiches und dem Jahr 1000 eine Abfolge von germa­ni­schen, slawi­schen, proto-türki­schen und proto-unga­ri­schen Bevöl­ke­rungen. Aus diesen bewaff­neten Wande­rungen entstanden eine Reihe von König­rei­chen und gele­gent­lich auch Impe­rien, die den Ursprung der heutigen Natio­nal­staaten der Halb­insel bilden. Die Grie­chen ihrer­seits waren bereits die ethni­sche Basis des Byzan­ti­ni­schen Reiches, das, von Feinden umzin­gelt, den Groß­teil des Balkans verlor, aber das helle­ni­sche Mutter­land und die heutige West­türkei rettete. Bis zur kata­stro­phalen Schlacht von Manzi­kert im Jahr 1071. In dieser histo­risch bedeut­samen Ausein­an­der­set­zung entrissen die Seldschuken den Oströ­mern den Groß­teil der anato­li­schen Halb­insel, also das wesent­liche Hinter­land des Reiches, kolo­ni­sierten und isla­mi­sierten es. Aber Konstan­ti­nopel überlebte.

Im Osten verstüm­melt, von den Normannen aus Südita­lien vertrieben und auf dem Balkan auf kaum mehr als Grie­chen­land redu­ziert, fanden die Byzan­tiner dennoch die Kraft, sich zu erholen. Der tödliche Schlag würde nicht vom Islam kommen, wie es logisch gewesen wäre, sondern vom west­li­chen Chris­tentum. Unfähig, die moham­me­da­ni­sche Bedro­hung richtig einzu­schätzen, haben sich in der Geschichte immer wieder Katho­liken und Ortho­doxe (und später auch Protes­tanten) gegen­seitig abge­schlachtet, zum Vorteil des Islam. So kam es, dass die Euro­päer 1202 den Vierten Kreuzzug star­teten, der, anstatt den christ­li­chen König­rei­chen des Nahen Ostens zu helfen, es vorzog, Konstan­ti­nopel zu plün­dern, das byzan­ti­ni­sche Reich in Stücke zu reißen und es durch ein sehr zerbrech­li­ches latei­ni­sches Reich zu ersetzen. Der ethnisch-reli­giösen Basis beraubt, brach es in weniger als 60 Jahren zusammen und wurde durch ein restau­riertes byzan­ti­ni­sches Reich ersetzt, das nur noch ein Schatten seiner selbst war: eine Art „grie­chi­sches König­reich“, das aus einigen verstreuten Ländern bestand.

Der christ­liche Schild auf dem Balkan war zerbro­chen, und für die türki­schen Horden war der Weg nach Europa offen. Die Osmanen, weit weniger töricht als wir Westler, saßen nicht untätig herum. Noch bevor sie den Byzan­ti­nern den Todes­stoß versetzt hatten, eroberten sie 1453 Konstan­ti­nopel und unter­warfen das heutige Bulga­rien und Nord­grie­chen­land. Die Vertei­di­gung der verblie­benen christ­li­chen Länder des Balkans wurde vom König­reich Serbien über­nommen, das, zahlen­mäßig unter­legen, eine schreck­liche und umstrit­tene Nieder­lage in der Schlacht auf dem Amselfeld/Kosovo Polje (1389) erlitt. Die Osmanen waren nicht nur die erste isla­mi­sche Welt­macht, sondern hatten es auch geschafft, in Europa Fuß zu fassen. Unter ihre Schläge fielen auch die verschie­denen rumä­ni­schen und alba­ni­schen Fürs­ten­tümer und das König­reich Ungarn. Diese Staaten leis­teten immer wieder tapferen Wider­stand gegen den isla­mi­schen Vormarsch, wurden aber letzt­lich besiegt und besetzt, und erst 1683 (zweite geschei­terte Türken­be­la­ge­rung Wiens) begann der Rückzug der Türken vom Balkan.

Es sei darauf hinge­wiesen, dass die entschei­dende Schlacht bei Wien 1683 am 11. September statt­fand. Dieser Tag gilt seither in der isla­mi­schen Umma als verfluchtes Datum, als Symbol der Unge­rech­tig­keit, das mit dem Blut der Ungläu­bigen gewa­schen werden soll. Deshalb wurde der Angriff auf die Nw Yorker Zwil­lings­türme von Al-Qaida an diesem Datum durch­ge­führt, was zeigt, dass die moham­me­da­ni­sche herr­schende Klasse ein viel soli­deres histo­ri­sches Gedächtnis hat als die west­liche Führung.

Und so musste sich die Region südlich von Belgrad und den Karpaten bis Mitte des 19. Jahr­hun­derts dem Gesetz von Istanbul unter­werfen. Es war eine dunkle Ära. Christen wurden als Unter­tanen zweiter Klasse behan­delt, von zivilen und mili­tä­ri­schen Ämtern im Staat ausge­schlossen und einer höheren Besteue­rung unter­worfen als die Moham­me­daner. Die besten Lände­reien wurden beschlag­nahmt und an osma­ni­sche Adlige und türki­sche Kolo­nisten vergeben, indus­tri­elle Akti­vi­täten wurden unmög­lich gemacht. Die zum Islam konver­tierten Bevöl­ke­rungs­gruppen hätten statt­dessen die Rolle von regio­nalen Kapos über­nommen, mit sozialen und steu­er­li­chen Vorteilen. Daher die Konver­sion der Bosnier und der Mehr­heit der Albaner (neben anderen kleinen verstreuten Gemein­schaften). Dulcis in fundo war die devscirme („Samm­lung“ auf Türkisch), die „Blut­steuer“, ein barba­ri­scher osma­ni­scher Brauch, der darin bestand, eine bestimmte Anzahl von Kindern aus christ­li­chen Fami­lien auf dem Lande zu entführen, offen­sicht­lich die schönsten und kräf­tigsten, um sie als musli­mi­sche Fana­tiker zu erziehen und sie in die Jani­tscharen, die Elite­truppe der Sultane, aufzu­nehmen. Und das fast 500 Jahre lang, zumin­dest im größten Teil der Halbinsel.

Diese unmensch­liche Behand­lung führte zwangs­läufig zu einem Dauer­zu­stand von Aufständen, die bis in die erste Hälfte des 19. Jahr­hun­derts mit obszöner Bruta­lität unter­drückt wurden (die Massaker an Grie­chen und Bulgaren sind traurig berühmt). Nach endlosem Trauern erlaubte die osma­ni­sche Deka­denz den Balkan­völ­kern jedoch, ihre Frei­heit wieder­zu­er­langen. Vom grie­chi­schen Unab­hän­gig­keits­krieg 1821 bis zu den Balkan­kriegen 1912/13 wurde die Herr­schaft der Sultane über unseren Konti­nent nach und nach ausge­höhlt, so dass nur noch der heutige Teil der euro­päi­schen Türkei in isla­mi­scher Hand ist. In dieser wahren und rich­tigen „Rück­erobe­rung des Ostens“ war die Rolle der Groß­mächte grund­le­gend, aber wider­sprüch­lich. Auf der einen Seite war da das Russ­land der Zaren, das den führenden Staat der isla­mi­schen Welt zerstören, das ortho­doxe Konstan­ti­nopel wieder­her­stellen, die Hege­mo­ni­al­macht auf dem Balkan werden und den Ausgang zum Mittel­meer errei­chen wollte. Alles in einer gut kali­brierten Mischung aus Impe­ria­lismus und kreuz­fah­re­ri­schem Idea­lismus. Auf der anderen Seite stand das mittel­eu­ro­päi­sche Reich der Habs­burger. Auch die Herr­scher von Wien hatten viele uner­le­digte Rech­nungen mit Istanbul, doch sie kolla­bo­rierten bei dessen Vertrei­bung aus Europa. Aller­dings war das öster­rei­chi­sche und später öster­rei­chisch-unga­ri­sche Reich ein Reich mit einem viel empfind­li­cheren ethni­schen Gleich­ge­wicht als das zaris­ti­sche, weshalb die Habs­burger zu Recht befürch­teten, dass ein Erwa­chen der Natio­na­li­täten auf dem Balkan auf ihre eigenen Minder­heiten über­greifen könnte. Deshalb (und aus Angst vor russi­schem Expan­sio­nismus) war Wien viel lauer als St. Peters­burg, wenn es darum ging, gegen die Osmanen zuzu­schlagen. Der dritte auslän­di­sche Akteur war Groß­bri­tan­nien und, in gerin­gerem Maße, Frank­reich. Die beiden west­li­chen Nationen litten, ähnlich wie Öster­reich, an einer Art Bipo­la­rität. Einer­seits schien das grau­same osma­ni­sche Regime der im Wesent­li­chen aufklä­re­ri­schen Menta­lität Londons und Paris‘ unan­ge­nehm zu sein; ande­rer­seits ermög­lichte die Furcht, dass der russi­sche Bär zu mächtig werden könnte, den beiden Mächten, den endgül­tigen Zusam­men­bruch Istan­buls bis zum Ersten Welt­krieg zu verhindern.

Ein Hauch von italie­ni­scher Farbe. Auch das nach der Wieder­ver­ei­ni­gung libe­rale Italien leis­tete einen beacht­li­chen Beitrag zum Zusam­men­bruch des Osma­ni­schen Reiches. Zwischen 1911 und 1912 star­tete Italien nämlich ein kolo­niales Unter­nehmen gegen die Türkei. Obwohl die extreme Armut der meisten Bewohner des König­reichs die römi­sche Führung berech­tigten Vorwürfen des Hoch­muts und des Minder­wer­tig­keits­kom­plexes gegen­über den Mächten, die diesen Namen verdienen, aussetzte, bleibt es eine Tatsache, dass dieses Aben­teuer ein Segen für die Balkan­völker war. In diesem Konflikt besiegten das italie­ni­sche Heer, die Marine und eine neuge­bo­rene und aben­teu­er­lus­tige Luft­waffe die osma­ni­schen Streit­kräfte ohne Einspruch, was der serbisch-grie­chisch-bulga­risch-monte­ne­gri­ni­schen Koali­tion, die sich auf den Befrei­ungs­kampf vorbe­rei­tete, Zuver­sicht gab. Von diesem Sieg erhielt Italien den liby­schen Sand­kasten und die grie­chi­sche Dode­kanes. Auf diesen helle­ni­schen Inseln wurde der Regime­wechsel so begrüßt, dass es bis 1945, als sie an Grie­chen­land über­gingen, fast keine Spur von anti-italie­ni­schen Gefühlen gab. Ein weiterer italie­ni­scher Beweis dafür, dass man aus frag­wür­digen Annahmen auch etwas Gutes heraus­holen kann.

Wir kommen zum Ersten Welt­krieg, dem geopo­li­ti­schen Selbst­mord Europas. Dieser Konflikt hatte zahl­reiche Ursa­chen, bei denen die soge­nannte Ostfrage nicht einmal die wich­tigste war. Doch der Funke, der das (schon längst mit Benzin bespritzte) Holz in Brand setzte, kam ausge­rechnet vom Balkan, mit dem tragi­schen Verbre­chen von Sara­jevo. Was dann kam, ist die Geschichte von vorges­tern, mit den Wech­sel­fällen des Alten Konti­nents, verbunden mit den großen Ideo­lo­gien des 20. Jahr­hun­derts und deren Nach­wir­kungen in den jugo­sla­wi­schen Konflikten. Bei solch drama­ti­schen Ereig­nissen (die die Geburt oder Wieder­auf­er­ste­hung verschie­dener staat­li­cher Gebilde sahen) war das schwere kommu­nis­ti­sche Erbe nicht das einzige. Es gibt ein anderes, älteres und heim­tü­cki­scheres. Selbst­ver­ständ­lich ist es das osma­ni­sche, das durch die noch heute dem Glau­bens­be­kenntnis Moham­meds treu erge­benen Bevöl­ke­rungen entstanden ist. Diese mensch­li­chen Enti­täten, insbe­son­dere in Bosnien und im Kosovo, haben ein ohnehin schon komplexes geopo­li­ti­sches Geflecht durch­ein­ander gebracht.

Wie es der Zufall wollte, saß zwischen 1992 und 2000 ein Vertreter der radi­kalen Schi­cki­micki- und Dritte-Welt-Linken namens Bill Clinton (1946-lebendig) im Weißen Haus, der es für klug hielt, stets isla­mi­sche Gemein­schaften gegen­über christ­li­chen, insbe­son­dere serbi­schen, zu bevor­zugen, um die für seine und seiner Frau Wahl­kampf so nütz­li­chen Liefe­ranten von Petro­dol­lars aus dem Persi­schen Golf nicht zu verär­gern. Das Ergebnis dieses Verrats an der west­li­chen Zivi­li­sa­tion (der die Ortho­doxen zu Recht an den Vierten Kreuzzug erin­nert) war die Schaf­fung von zwei Gebieten, die von einem Islam beherrscht werden, der ein frucht­barer Boden für Radi­ka­li­sie­rung ist, nämlich Zentral­bos­nien und Kosovo. Die Folgen von Clin­tons fins­terem Verbre­chen müssen sich erst noch voll entfalten, aber früher oder später werden Europa und sogar die USA die Rech­nung bezahlen, und wir haben der Weis­heit des ameri­ka­ni­schen Volkes in nicht geringem Maße zu danken, dass es verhin­dert hat, dass Bills „bessere Hälfte“ auf dem Stuhl sitzt, der einst ihrem Mann gehörte.

Wie kurz­sichtig Clin­tons Manage­ment der Bosnien- und Kosovo-Krise war, lässt sich an den Ergeb­nissen ablesen. Bosnien ist eine unre­gier­bare Collage, in der Isla­misten von unfreund­li­chen Ländern wie Katar und Erdo­gans Türkei unter­stützt werden, während die serbi­sche und die kroa­ti­sche Gemein­schaft auf die Gele­gen­heit warten, sich mit ihren jewei­ligen Mutter­län­dern wieder zu verei­nigen. Der Kosovo hingegen ist zu einer Art Mafia-Staat mit teil­weiser inter­na­tio­naler Aner­ken­nung geworden, zu bevöl­ke­rungs­reich, um von Serbien wieder aufge­nommen zu werden (da er größ­ten­teils alba­nisch und isla­misch ist), aber zu arm, um auf eigenen Füßen zu stehen, ohne den Geld­strom, den der Westen und die Monar­chien des Persi­schen Golfs ihm jedes Jahr geben.

Die Absur­dität bzw. die Insta­bi­lität dieser Situa­tion ist seit den 1990er Jahren offen­sicht­lich. Doch erst im April 2021 schlug Slowe­nien in einem inof­fi­zi­ellen Doku­ment eine vernünf­tige Grenz­än­de­rung vor. Diese Ände­rung sollte den aktu­ellen ethnisch-reli­giösen Gemein­schaften folgen, mit dem logi­schen Ziel, Staaten mit kompakten Natio­na­li­täten zu schaffen und recht­liche Schat­ten­kegel zu besei­tigen. Dieser Vorschlag hat vorher­seh­ba­rer­weise in ein diplo­ma­ti­sches Hornis­sen­nest gesto­chen, und zwar so sehr, dass die slowe­ni­sche Regie­rung sofort jede Forma­lität des Vorschlags demen­tiert hat. Tatsache ist, dass die bloße Erwäh­nung des Themas einen Streit ausge­löst hat, was zeigt, dass ein roher Nerv getroffen worden ist.

Der Balkan ist auch heute noch ein Grenz­ge­biet und ein poten­ti­elles Schlacht­feld. Obwohl die Probleme zwischen west­li­chem und östli­chem Chris­tentum seit langem im Wesent­li­chen kultu­reller Natur sind, droht die isla­mi­sche Bedro­hung wie nie zuvor seit 1913. Nur die Instru­mente der Inva­sion haben sich geän­dert, denn wir sind von osma­ni­schen Armeen zu Terro­rismus, Massen­ein­wan­de­rung und der über­höhten Gebur­ten­rate musli­mi­scher Gemein­schaften über­ge­gangen. Der Westen muss sich ein für alle Mal entscheiden, ob er sich auf die Seite seiner Henker stellt oder ein echtes Bündnis mit den Völkern eingeht, die seit Jahr­hun­derten die Haupt­schläge der erzwun­genen De-Euro­päi­sie­rung einste­cken mussten.

Fabio Bozzo
Abschluss in Geschichte mit moderner und zeit­ge­nös­si­scher Adresse an der Univer­sität Genua. Er ist Essayist und Autor von Ucraina in fiamme. Le radici di una crisi annun­ciata (2016), Dal Regno Unito alla Brexit (2017), Scosse d’as­se­s­ta­mento. „Piccoli“ conflitti dopo la Grande Guerra (2020) und Da Pontida a Roma. Storia della Lega (2020, mit einem Vorwort von Matteo Salvini).

Dieser Beitrag erschien zuerst bei CENTRO MACHIAVELLI, unserem Partner in der EUROPÄISCHEN MEDIENKOOPERATION.


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