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Bildquelle: Centro Machiavelli

Von Lorenzo Bernasconi
 

Italiens Innenministerin Lamorgese erklärte während einer Anhörung in der Abgeordnetenkammer mit Genugtuung, dass es im Jahr 2020 3.607 Rückführungen von Drittstaatsangehörigen gab, die sich illegal in Italien aufhalten. Die Begeisterung ist schwer zu verstehen, verglichen mit mehr als 43.000 illegalen Einreisen im gleichen Bezugszeitraum (wobei nur diejenigen gezählt wurden, die von der Polizei bei der Ausschiffung oder in Landgrenzgebieten abgefangen wurden; daher ist die tatsächliche Zahl sicherlich höher). Die Zufriedenheit der Ministerin ist noch unerklärlicher, wenn man bedenkt, dass derzeit mehr als 75.000 Einwanderer in den verschiedenen Aufnahmezentren untergebracht sind, die zu der Masse an verzweifelten Menschen hinzukommen, die mehr oder weniger chaotisch auf den Straßen unserer Städte leben.

Es muss jedoch gesagt werden, dass, wenn in Italien der Chef der Viminale sich des Ausmaßes des Problems nicht besonders bewusst zu sein scheint, nicht einmal die EU als Ganzes in dieser Hinsicht durch Weitsichtigkeit zu glänzen scheint: Die Union hat in der Tat beschlossen, alles auf ein Abkommen zur Umverteilung von Einwanderern zu setzen, das als Allheilmittel für alle Übel präsentiert wird, sich aber sofort in einer Debatte verzettelt, in der es nicht möglich ist, ein Gleichgewicht zu finden; die europäische Antwort auf das Migrationsproblem, die oft beschworen, aber nie im Detail definiert wurde, sieht jetzt ein wenig zu sehr nach Becketts Godot aus.

Konfrontiert mit einem demografischen Phänomen epochalen Ausmaßes, das seinen Ursprung in Afrika und Asien hat, dessen Auswirkungen sich aber weltweit bemerkbar machen, verliert sich die Europäische Union in endlosen und ergebnislosen Debatten über Mechanismen, die, wenn sie denn voll einsatzfähig wären, bestenfalls den akzeptablen Umgang mit ein paar Hundert oder Tausend Einwanderern ermöglichen könnten, verglichen mit den zig Millionen Menschen, die bereit sind, durch die Türen Europas zu brechen, anstatt an sie zu klopfen. Die Unfähigkeit der europäischen Politik, sich mit der Realität der Masseneinwanderung zu arrangieren, zeigt sich jetzt in ihrer ganzen Dramatik: Es wäre einfach, diese Entkopplung zwischen Realität und Politik als bloßes Symptom einer gravierenden Unzulänglichkeit der herrschenden Klasse abzutun, und das wird auch oft getan, aber die Wurzel des Problems liegt meiner Meinung nach viel tiefer.

Die Bevölkerungsexplosion der Entwicklungsländer und der daraus resultierende Migrationsdruck auf den Westen im Allgemeinen und auf Europa im Besonderen sind, mit den Worten Schopenhauers, eine direkte Emanation des Willens, d.h. sie sind die unvermeidliche Folge grundlegender biologischer Instinkte und Triebe, wie z.B. des Fortpflanzungstriebes, des Bedürfnisses nach Befriedigung primärer und sekundärer Bedürfnisse, der natürlichen Neigung, ressourcenreichere Gebiete aufzusuchen und sie ohne allzu große Rücksicht auf die einheimische Bevölkerung zu besetzen. Diese Tendenzen sind in der Pflanzen- und Tierwelt weit verbreitet, und wir Menschen sind da keine Ausnahme, wie die Geschichte reichlich bewiesen hat.

In diesem Sinne haben diejenigen Recht, die behaupten, dass die Migration eine natürliche Tatsache für den Menschen ist; allerdings ist es aus demselben fundamentalen Kern von Instinkten und Trieben heraus ebenso natürlich und nicht weniger legitim, dass in den autochthonen Bevölkerungen Mechanismen des Widerstands und der Ablehnung gegenüber denjenigen entwickelt werden, die im Wesentlichen kommen, um Raum und Ressourcen zu beanspruchen, die, da sie nicht unbegrenzt sind, unweigerlich jemandem weggenommen werden. In Europa jedoch wurden diese Mechanismen des Widerstands dämonisiert und ihnen jegliche Legitimität abgesprochen, indem man jede kritische Sicht auf das Dogma der “Aufnahmepflicht” aus dem politischen Diskurs ausschloss und es a priori als inhuman und inakzeptabel abstempelte.

Hinter einer solchen ideologischen Entscheidung verbirgt sich meiner Meinung nach auch ein erkenntnistheoretisches Problem: Die im Wesentlichen prärationale, stark biologische Natur des Migrationsphänomens (und insbesondere des Phänomens der Ablehnung desselben) macht es für die europäische Politik und Intelligenz schwer verständlich, die daran gewöhnt ist, die Welt von einem konzeptionellen, “wissenschaftlichen” Standpunkt aus zu interpretieren, der für uns Europäer seit den griechischen Philosophen typisch ist und auf dem unser außerordentlicher technologischer Fortschritt beruht, der sich aber, obwohl er in vielen Bereichen ein immenses Potenzial gezeigt hat, oft als unzureichend für das Verständnis menschlicher Angelegenheiten erwiesen hat. Im Prozess der Abstraktion oder Konzeptualisierung wird nämlich das, was weder quantifizierbar noch rationalisierbar ist, notwendigerweise ignoriert, was zum Beispiel erklärt, warum selbst der hingebungsvollste Liebhaber auf einer rein rationalen Ebene keinen Grund angeben kann, warum er diese Frau liebt und keine andere. Wie die Liebe gibt es viele andere Phänomene, die sich aufgrund ihrer Natur nicht für ein vollständiges Verständnis auf einer rein begrifflichen Ebene eignen, obwohl sie absolut real sind.

Es sollte auch bedacht werden, dass in dem hermeneutischen Zirkel, der entsteht, wenn wir versuchen, nicht natürliche Ereignisse, sondern menschliche Wechselfälle zu interpretieren, neben unseren Präkognitionen auch unsere emotionale Erfahrung stark ins Spiel kommt, was dazu führen kann, dass wir die “Werkzeuge des Denkens”, nämlich die Konzepte, mehr auf der Grundlage unseres inneren Universums als auf der Grundlage sorgfältiger Beobachtung der Welt schmieden und so am Ende Muster bilden, die eher uns selbst als die Realität widerspiegeln.

So ertappen wir uns dabei, wie wir zwanghaft über “Migranten” sprechen, ein unglückliches Wort, mit dem wir vorgeben, eine transitorische Phase – wir sind in der Tat für ein paar Tage, Wochen oder Monate Migranten, während wir auf Reisen sind, danach sollten wir von Auswanderern oder Einwanderern sprechen – in eine Art permanenten existenziellen Zustand zu verwandeln, der von Romantik gefärbt und so unaussprechlich ist, dass er an das Heilige grenzt; oder das Wort “Flüchtlinge” zu missbrauchen und es in ein leeres Etikett zu verwandeln, das für alle gut ist und nichts über die Geschichte, die Identität und die Motive der Menschen aussagt, denen es angehängt wird. Worte und Begriffe, die nicht beschreiben, sondern im Gegenteil ein Universum von Unterschieden und Gegensätzen zwischen Völkern und Individuen verbergen (auch wenn sie es auf der Ebene der Realität natürlich nicht auslöschen können), die von völlig unterschiedlichen Wegen und Traditionen kommen, die einander oft feindlich gesinnt und unvereinbar sind, die aber auf eine formlose und homogene Masse reduziert werden möchten, eine Menschheit, die auf die einzige Dimension des “Zufluchtsuchenden” abgeflacht ist.

Ein weiterer Faktor, der zu der Sackgasse beigetragen hat, in der sich die europäische Einwanderungspolitik heute befindet, liegt in dem Menschenbild, das der vorherrschenden Kultur in Westeuropa zugrunde liegt; ich beziehe mich auf jene Anthropologie wirtschaftlicher Ableitung, die den Menschen auf einen hedonistischen Konsumenten reduziert, der mit Rationalität ausgestattet ist, aber mit einer Rationalität, die nur instrumentell ist für die unaufhörliche Suche nach dem besten Kompromiss zwischen der Minimierung von Unbehagen und der Maximierung der eigenen Konsumfähigkeit. Es scheint klar zu sein, dass im Lichte dieses Menschenbildes das Problem der Integration einer sehr hohen Zahl außereuropäischer Einwanderer überhaupt nicht existiert: Gebt ihnen vier Pfennige zum Überleben, einen Smart-TV und ein großes Konzert am ersten Mai (panem et circenses, sagte man früher), und sie werden zu vielen neuen Konsumenten, die von der Masse der einheimischen Konsumenten nicht zu unterscheiden sind.

Der Punkt ist, dass der Mensch nicht nur ein Konsument ist: Der europäische Mensch ist es nicht, so sehr ihn Jahrzehnte der Medienindoktrination und des ungezügelten Konsums auch gezähmt haben mögen, ebenso wenig wie diese Menschen, die aus fernen Ländern gekommen sind. Der Mensch besitzt einen vitalen Kern, der auch aus Idealen besteht, aus tiefen, manchmal zerreißenden Gefühlen, aus Liebe und Hass, aus Konflikten, aus tierischem Instinkt. Er ist komplex, manchmal unberechenbar, er lässt sich nicht auf die Maske eines genussfreudigen Konsumenten reduzieren, eine Art Hybrid zwischen Mills homo oeconomicus und Homer Simpson.

Platon begründete in seiner “Republik” seine eigene Vision von Politik auf der Idee, dass eine Klasse “aufgeklärter” Rationalisten, zu der man durch Kooptation Zugang erhielt, die Regierung der Polis übernehmen könnte und sollte, um Ideale der Gerechtigkeit und des Gemeinwohls zu verfolgen, die für die unteren Bevölkerungsschichten unverständlich waren, die diesen Zustand gelassen hingenommen hätten, indem sie eine nicht demokratisch legitimierte Regierung passiv ertrugen und sich innerhalb der ihnen von der Elite zugewiesenen Grenzen bescheiden verhielten. Alles in allem scheint mir das keine so andere Vision zu sein als die, die sich aus der Haltung vieler europäischer Führer, vor allem derjenigen der Linken, ergibt: Das Volk wird nicht mehr als eine Gruppe von Bürgern gesehen, die kollektiv die Souveränität innehaben (siehe Artikel 1 der italienischen Verfassung), sondern als eine Herde, die willentlich oder unwillentlich in ein Schicksal gelenkt wird, über das sie kein Mitspracherecht hat, weil es von einer “aufgeklärten” Elite am Tisch geplant wurde, die ihre Legitimität aus Mechanismen der Kooptation und gegenseitigen Anerkennung bezieht und nicht mehr auf der Grundlage eines Konsenses von unten.

Platon zahlte jedoch persönlich den Preis für eine naive Vision des menschlichen Wesens: er ging nach Sizilien, um seine Theorien über die institutionelle Struktur der perfekten Stadt in die Praxis umzusetzen, aber er entdeckte, dass der Mensch nicht allein durch Rationalität lebt und dass Politik auch Konflikt und Krieg ist; er endete im Gefängnis und wurde als Sklave verkauft, nur um glücklicherweise seine Freiheit wiederzuerlangen (und seine Überzeugungen teilweise zu revidieren).

Leider haben sich die Zeiten geändert: Heute werden wir alle am Ende den Preis für die Fehler der europäischen herrschenden Klasse bezahlen.

Lorenzo Bernasconi
Abschluss des Studiums der Philosophie an der Katholischen Universität Mailand, wo er am Lehrstuhl für Geschichte der antiken Philosophie mitarbeitete. Er verbrachte sechs Jahre in Brüssel und arbeitete für das Europäische Parlament. Als er 2018 nach Italien zurückkehrte, war er in der Präsidentschaft des Ministerrats und später als Berater in der Abgeordnetenkammer tätig.

Dieser Beitrag erschien zuerst bei CENTRO MACHIAVELLI, unserem Partner in der EUROPÄISCHEN MEDIENKOOPERATION.


5 Gedanken zu „Die tiefe Dimension der Einwanderung, die Europa nicht versteht, aber erduldet“
  1. Bedanken dürfen wir uns bei denen die seit den 70iger 80iger Jahre immer wieder Rot Schwarz Grün gewählt haben ! Da wurde alles auf Schiene gebracht, da stellte man die Weichen.
    Heute zu jammern bringt nichts, richtig wählen, demonstrieren, aufzeigen..

    1. Äh – rot, schwarz, grön – was blieb denn da noch bevor es blau gab? Geeellb??? – das Fähnchen im Wind? – Die Tierschutzportei?

  2. Ja das ist richtig weil wir den “Warlords” in Brüssel freien Lauf ließen und das auch noch widerspruchslos! wie heißt es so schön, wie bestellt so geliefert!

    11

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