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Liwadija Palast, Krim: Sommerresidenz von Zar Nikolaus II und Schauplatz der Jalta Konferenz vom 4.2. – 11.2.1945

Die „Zweite Front“ – Lehren aus der Geschichte
Liwadija Palast, Krim: Sommerresidenz von Zar Nikolaus II und Schauplatz der
Jalta Konferenz vom 4.2. – 11.2.1945

Vortrag gehalten am 7.10.2020 vor dem Jalta Kultur Club von Yuri Tavrovsky

Die Konferenz von Jalta vor 75 Jahren ruft ein Szenario wach, welches noch heute Gültigkeit hat: Es handelt von der ‚Zweiten Front‘. Historiker wissen, dass die Kriegsniederlagen Deutschlands und Japans zum Teil dem Umstand geschuldet waren, dass ihre Führer den Krieg an zwei Fronten entfesselten. Umgekehrt erklärt sich der Sieg der Sowjetunion aus der Tatsache, dass die sowjetische Führung es verstand einen Zweifrontenkrieg zu verhindern und den Krieg mit Japan erst nach der Niederlage Deutschlands aufzunehmen.

Dank der sowjetischen Strategie China im Kampf gegen die japanische Angreifer zu unterstützen, vermochte Stalin die japanische Streitkräfte zu binden und den drohenden Angriff der Japaner auf die Sowjetunion vom Osten her in kritischen Zeiten abzuwenden. Die geeignete Strategie und der erfolgreiche Einsatz neuester Waffen durch das sowjetische Militär im siegreichen direkten Schlagabtausch mit japanische Kräften am Khasan See (29.7.-11.8.1938) und Chalchin-Gol (11.5. – 16.9.1939) konnten die Angriffspläne des kaiserlichen Hauptquartiers nachhaltig durchkreuzen.

Sowjetische Panzer am Chalchin Gol gegen Japaner
Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Khalkhin_Gol_Soviet_tanks_1939.jpg
Attribut: Soviet reporter, Public domain, via Wikimedia Commons

Die Absicht der Japaner die UdSSR nahezu zeitgleich zum deutschen Unternehmen ‚Barbarossa` gemäß ihrem sogenannten ‚Kantokuen‘ Plan anzugreifen, musste nun unter verschiedenen Vorwänden verschoben werden: Der von Tokio ursprünglich für den 29. August 1941 vorgesehene Angriffstermin auf die UdSSR war damit zu Fall gebracht. Ein Zweifrontenkrieg im Jahr 1941 oder 1942 hätte die sowjetischen Streitkräfte vor schwerste Herausforderungen gestellt.

Andererseits bewirkte der Widerstand Chinas gegen die japanischen Angreifer für Moskau Entlastung durch eine  “zweite Front”, die nur auf Seite des Westens noch mehrere Jahre auf sich warten ließ. Nicht zufällig fielen die ersten beiden Siege des Zweiten Weltkriegs auf den Winter 1941/42: Die Niederlage der Wehrmacht vor Moskau und die erfolgreiche chinesische Abwehrschlacht um die Großstadt Changsha, der aufgrund ihrer Lage eine strategischen Bedeutung – ähnlich der von Stalingrad – zukam. Die sibirischen Divisionen der Sowjets wurden erst nach Moskau abgezogen, nachdem dem sowjetischen Hauptquartier Informationen über die Verschiebung des japanischen Angriffs bis zur “endgültigen Lösung des chinesischen Vorfalls” vorgelegt wurden.

China verschaffte nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 nicht nur der Sowjetunion, sondern auch den Vereinigten Staaten entscheidende Entlastung durch ihre ‚zweite Front‘ gegen die Japaner. Zu diesem Zeitpunkt waren nahezu zwei Drittel der japanischen Bodentruppen an den Fronten und im Hinterland Chinas gebunden: Das verbleibende Drittel hatte für die japanischen Blitzkriege gegen die Länder Südostasiens zu sorgen.

Die japanische Blockade von Hong Kong vom 8. bis zum 25. Dezember 1941 gipfelte in der Übergabe der Kronkolonie samt ihrer großen britischen Garnison. Nur wenige Wochen benötigte Japan, um die britischen Streitkräfte in Malaysia niederzuwerfen. Singapur fiel in nur sechs Tagen. Der Widerstand Niederländisch-Ostindiens (Indonesien) gegen japanische Kräfte beschränkte sich auf drei Monate. Fünf Monate benötigte Japan, um die amerikanischen Streitkräfte auf den Philippinen zu schlagen. Keine der westlichen Kolonien vermochte länger durchzuhalten als Wuhan (vier Monate), Shanghai (drei Monate), Changsha oder andere chinesische Städte, die jedoch heldenhaften Abwehrkampf leisteten.

Schwach gestaltete sich der westliche Widerstand gegen das Deutsche Reich vor und zu Beginn des Krieges in Europa: Die Tschechische Republik übergab sich kampflos, trotz mächtiger Befestigungen und einer starken Armee samt gut entwickelter Militärindustrie. Polen hielt der deutschen Wehrmacht 28 Tage stand – Belgien 18 und Holland gerade vier Tage. Die Franzosen kapitulierten schon nach 43 Tagen, obwohl die Zahl ihrer Divisionen, Panzer und Flugzeuge im Vergleich zum Deutschen Reich nicht geringer war.

Die Sowjetunion errichtete ihrerseits eine entlastende ‚zweite Front‘ für  das gegen das japanische Kaiserreich kämpfende China: Sie schickte nicht nur Waffen und Freiwillige, sondern fesselte auch die millionenstarke Kwantung-Armee. Nachdem die Sowjetunion im August 1945 in den Krieg gegen Japan eingetreten war, besiegte sie deren Elitetruppen und verhinderte fortgesetzten Widerstand, der in der Mandschurei, selbst nach der Kapitulation des japanischen Mutterlandes, noch sehr lange hätte fortdauern können.

Moskau spielte eine Schlüsselrolle beim Sieg der Kommunisten im chinesischen Bürgerkrieg sowie bei der Bildung der Volksrepublik China. Einige Monate nach der Staatsproklamation und Unterzeichnung eines Militärbündnisses mit der UdSSR spielte China erneut die Rolle einer entlastenden ‚zweiten Front‘, indem es dieses Mal die Hauptbürde der Konfrontation mit Amerika im Koreakrieg auf sich nahm. Die Volksrepublik China und die UdSSR standen “Rücken an Rücken” und trugen dazu bei, den bevorstehenden dritten Weltkrieg abzuwenden. Jene Interaktion zwischen Moskau und Peking konnte auf geopolitischer Ebene maßgeblich zur Stabilisierung der Lage im Kalten Krieg beitragen.

Der sowjetisch-chinesische Kalte Krieg der 60er und 80er Jahre veränderte hingegen das globale Kräftegleichgewicht. China begann, die Rolle einer ‚zweiten Front‘ gegen die UdSSR einzunehmen. Die Möglichkeit eines Krieges sowohl im Westen als auch im Osten zog die fatale Überdehnung der sowjetischen Kräfte nach sich. Der Zusammenbruch der Sowjetunion, bestärkte die Vereinigten Staaten in ihrem göttlichen Sendungsbewusstsein und Glauben ihre Hegemonialansprüche auf alle ihre Verbündeten einschließlich China permanent ausdehnen zu können.

Doch die erfolgreiche Umsetzung des Entwicklungsmodells “Sozialismus mit chinesischer Charakteristik” verschaffte China phänomenale Erfolge und beendete seine geoökonomische Abhängigkeit gleich einer Befreiung aus dem “prokrustischen Bett”. Ein neues Kapitel der Geopolitik wurde aufgeschlagen, doch der Prozess der De-Globalisierung hatte eingesetzt. Die Vereinigten Staaten glaubten neben Russland auch China in einen neuen Kalten Krieg zu verwickeln zu können. Sie wiederholen den Fehler von Hitler und Hirohito und führen jetzt einen Krieg an zwei Fronten. Die drohende Niederlage macht Amerika jedoch unberechenbar und die Versuchung nach wenigstens einem ‚siegreichen kleinen Krieg‘ wird kaum weichen.

Die Erhaltung des Friedens in angespannten Zeiten verleiht der strategischen Partnerschaft zwischen Moskau und Peking besonderes Gewicht. Putin und Xi Jinping haben dazu konkrete Initiativen eingebracht: Der Vorschlag die „großen fünf Mächte“ wie seinerzeit, wieder nach Jalta zu rufen, klingt vielversprechend und konstruktiv, wie auch der chinesische Aufruf die ganze Menschheit nur als eine Schicksalsgemeinschaft zu betrachten. Die Große Eurasische Strategie und die Initiative der Neuen Seidenstraße könnten neue Wege aus der globalen Krise weisen.

Künftig wird der praktischen Zusammenarbeit als Ergebnis der russisch-chinesischen Partnerschaft größte Bedeutung zukommen: Inzwischen patrouillierten strategische Bomber aus beiden Ländern in gemeinsamer Formation im Luftraum nahe den Grenzen von Japan und Südkorea, wo sich immer noch amerikanische Militärbasen befinden. Putin hat die Lieferung eines streng geheimen Raketenfrühwarnsystems an China freigegeben. Russland und China scheinen sich dank gegenseitig stützender ‚zweiten Fronten‘ einmal mehr näher zu kommen. Moskau und Peking haben die Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg gezogen und werden auf die etwaigen Fehler anderer bestens vorbereitet sein.

Zum Autor:
Yuri Vadimovich Tavrovsky ist Professor und Orientalist, Vorstand des Expertenzentrums Sino-Russischer Affären

Übersetzung aus dem Russischen:
Continental Council / Friedrich P. Ost

Von Redaktion

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