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Von Paul Tormenen

Nach der Darstellung der Geschichte des Beitrittsprozesses Albaniens zur Europäischen Union im ersten Teil dieses Artikels werden hier einige Folgen dieser möglichen neuen Erweiterung beschrieben, die ab 24. März insbesondere Frankreich betreffen. Es handelt sich um Probleme, die man keineswegs bagatellisieren sollte.

Albanien, Kandidat für die Europäische Union

Albanien ist ein Land mit 29,9 Millionen Einwohnern. Die am weitesten verbreitete Religion ist der Islam (70% der Bevölkerung). Obwohl seine Praxis häufig als moderat dargestellt wird, konnte sich die muslimische Religion in Albanien aus den Umtrieben des rasant wachsenden Islamismus nicht heraushalten, wie die vielen Albaner beweisen, die in den Reihen des Islamischen Staates kämpften (1). Aber auch der Einfluss der Türkei in Albanien wächst zusehends und finanziert dort religiöse Institutionen und Infrastrukturprojekte (2). Wirtschaftlich gesehen ist Albanien eines der ärmsten Länder Europas. Armut und Arbeitslosigkeit haben bereits hunderttausende Albaner zur Flucht ins Ausland motiviert. Geldtransfers aus der im Ausland etablierten Diaspora sind eine bedeutende Einnahmequelle für die albanische Wirtschaft (3). Albanien scheint nach Angaben der NGO Transparency International im erfolgreichen Kampf gegen Korruption an einer der letzten Stellen in Europa auf (4). Auf kultureller Ebene hat die unruhige Geschichte des Landes ein Erbe mit unterschiedlichsten Einflüssen hinterlassen (5).

Die Öffnung der Grenzen zwischen Albanien und der Europäischen Union hat zu einer massiven Auswanderung von Albanern in viele europäische Länder geführt. Fast eine halbe Million Albaner verließen das Land nach dem Sturz der kommunistischen Regime in Osteuropa. Frankreich ist diesem Phänomen nicht entgangen, das sich insbesondere in zahlreichen Asylanträgen albanischer Staatsangehöriger äußert.

2010: Ende der Visapflicht für albanische Staatsangehörige im Schengen-Raum

Am 8. November 2010 hoben die europäischen Innenminister die Visapflicht für albanische Staatsbürger für den Aufenthalt in den Schengen-Ländern auf. Um Bedenken widerstrebender Länder zu kalmieren, wurde diese Entscheidung von einer Überprüfungsklausel begleitet, um einen Zustrom von Einwanderern und Asylbewerbern zu verhindern (6). Diese Klausel wurde jedoch trotz eines Antrags der Niederlande im Jahr 2019 nie aktiviert. Der EU-Kommissar für Migration, Dimitri Avramopoulos, hat im Dezember 2018 eine erste Bewertung abgegeben: “Ein großer Erfolg, der beiden Seiten Vorteile bringt.” (7).

Albaner in Frankreich

Die letzte Volkszählung im Jahr 2016 ergab, dass sich fast 16.500 Albaner legal in Frankreich aufhalten (8). Diese Zahl muss jedoch mittlerweile sehr viel höher sein, was sich aus der großen Zahl albanischer Asylbewerbungen in Frankreich in den letzten Jahren ergibt. Hinzu kommen die albanischen Staatsangehörigen, die sich illegal in Frankreich aufhalten und deren Anzahl nicht bekannt ist.

Zweckentfremdete Asylanträge

Seit mehreren Jahren stellen zahllose Albaner in Frankreich Asylanträge. In Bezug auf die Anzahl der Anträge gehören sie sogar zu den führenden Nationen (9). Dies trotz der Tatsache, dass Albanien als sicheres Herkunftsland gilt und die Akzeptanzquote von Asylanträgen albanischer Staatsangehöriger sehr niedrig ist (6,5% im Jahr 2017, 9,6% im Jahr 2018).

Jahr Asylanträge von Albanern unter Asylanträgen insgesamt
2017 7.633 Albaner an 1. Stelle
2018 5.793 Albaner an 3. Stelle
2019 5.599 Albaner an 4. Stelle

Nach Angaben des Direktors des Französisches Amts zum Schutz von Flüchtlingen und Staatenlosen (Office français de protection des réfugiés et apatrides, OFPRA) haben diese Asylanträge häufig eine wirtschaftliche Motivation (10). Es ist richtig, dass Frankreich eine Vielzahl von Gründen für die Zulassung zum Asyl bietet und dass die Zulassungsquoten für Anträge in Frankreich viel höher sind als in anderen europäischen Ländern (11). Die Zahl der Ausweisungen gescheiterter Asylbewerber aus dem Hoheitsgebiet ist ebenfalls sehr gering. Beispielsweise hat Deutschland 2016 nur 0,9% der albanischen Antragsteller Asyl gewährt, während Frankreich 16% akzeptiert hat (12).

So kann von den Antragstellern die Angst vor Rache und die sexuelle Orientierung (LGBT) geltend gemacht werden, wobei nur die Risiken nachgewiesen werden müssen, die die Person bei einer Rückkehr in das Land treffen könnten (13). Die Begeisterung der Albaner für Frankreich kann weiters auch durch die hiesige Existenz von “etablierten Netzwerken” erklärt werden (14).

Im Jahr 2014 stellte ein Pariser Krankenhausdirektor fest, dass es einen regelrechten Medizintourismus von Albanern gebe, woran sich auch Asylsuchende beteiligten (15). Die Generalinspektion für soziale Angelegenheiten kam in einem im Oktober 2019 veröffentlichten Bericht zur gleichen Feststellung (16). Einige dieser Schlussfolgerungen hätten die Massenmedien anlässlich des Neustarts des albanischen Beitrittsprozesses zur Europäischen Union in Erinnerung rufen müssen:

“Das schnelle Wachstum der Zahl der Asylanträge, insbesondere aus sicheren Ländern wie Albanien und Georgien, setzt das Gesundheitssystem unter Druck und wirft die Frage nach dem Missbrauch des Asylsystems durch Ausländer auf, die nur in Frankreich von einer kostenlosen Gesundheitsversorgung profitieren möchten. Fälle dieser Art wurden mehrfach von medizinischen Fachkräften der Krankenhäuser gemeldet.“

Diese Praktiken waren auch der Grund für eine Gesetzesänderung Ende 2019, wonach der Zugang von Asylbewerbern zur allgemeinen Krankenversicherung (protection universelle maladie, PUMA) erst nach einem Zeitraum von drei Monaten gewährt wird.

Wohnungs- und Hausbesetzungen am laufenden Band

Die regionale Tagespresse berichtet über mehrere Fälle von Wohnungs- und Hausbesetzungen, die von Albanern in Frankreich illegal erfolgt sind. Im Bezirk Wilson in Reims beispielsweise wurde im März ein Gebäude von rund sechzig Menschen “aus Osteuropa” besetzt, von denen jedoch einige schnell von der Präfektur delogiert wurden.

In Montpellier entdeckte die Polizei im Juni 2019, dass bei einer “linksextremen” Hausbesetzung auch ein Netzwerk albanischer Einbrecher untergebracht war. In Lille gab es eine Hausbesetzung durch etwa hundert Albaner. In Caen wurde ein Haus von 30 Albanern besetzt, ganz zur Verzweiflung seiner Besitzerin, die keine Handhabe hatte, gegen die Verwüstung ihres Eigentums vorzugehen. Man könnte noch zahllose Beispiele für die von der regionalen Presse berichteten illegalen Besetzungen von Wohnungen und Häusern durch albanische Staatsangehörige aufführen, so etwa in Brest, Lyon, Bègles, Talence usw.

Es ist richtig, dass in Frankreich die Rechte illegaler Einwanderer oft Vorrang gegenüber ihren Pflichten haben. So haben sich Hilfsverbände für illegale Einwanderer darauf spezialisiert, ein durchsetzbares Recht auf Unterkunft oder Wohnen geltend zu machen (DAHO – Droit à l’hébergement, DALO – Droit au logement) (17).

Auf der anderen Seite fragt man sich, ob für diese zahllosen Hausbesetzer als Gegenstück zu diesen vielfältigen Rechten auch Pflichten gelten, z.B. die Verpflichtung aller Ausländer, das französische Sozial- und Pflegesystem nicht zu belasten, so wie es im Gesetz über Einreise und Aufenthalt von Ausländern (Code d’entrée et de séjour des étrangers, CESADA) vorgesehen ist (18). Wir wissen aber leider allzu gut, dass eine Durchsetzung der Gesetze oft durch die Angst der Behörden vor den Einwanderungsverbänden verhindert wird, die nicht nur in Fällen von drohenden Abschiebungen ihre einflussreichen Netzwerke mobilisieren können.

Freizügigkeit des organisierten Verbrechens

Die albanische Unterwelt ist im Westen sehr präsent (19). Europol bezeichnete im April 2019 die organisierte Kriminalität als das Hauptrisiko für die innere Sicherheit Europas (20).

In Frankreich ist die Präsenz von Netzwerken der organisierten Kriminalität aus Albanien nichts Neues. Die Existenz sehr aktiver illegaler Einwanderungskanäle, die von albanischen Staatsangehörigen kontrolliert werden, wird in einem 2015 veröffentlichten Parlamentsbericht erwähnt (21).

In jüngerer Zeit belegen Informationen des Justizministeriums vom November 2018, dass “die albanische Mafia in Frankreich immer stärker etabliert ist”. Ihre Tätigkeitsgebiete sind Einbruch, Drogen und Menschenschmuggel (22). Es gibt viele Nachrichten über albanische Straftäter, aber das Fehlen ethnischer Strafstatistiken macht es unmöglich, weitere Details zu erfahren, als man den von der Presse punktuell publizierten Berichten entnehmen kann.

Das Phänomen verschont andere europäische Länder nicht. Im Juni 2019 forderte die niederländische Regierung die Europäische Kommission auf, die Befreiung von der Visumpflicht für Albaner zu beenden, da besonders in den Niederlanden Mafia-Banden aktiv sind (23). Eine Anfrage wurde aber offensichtlich abgelehnt, weil sie nicht im Sinne der strahlenden Geschichte des europäischen Aufbaus war.

Auch wenn man sich vor einer hastigen Verallgemeinerung hüten soll und ein Land nicht auf seine Randerscheinungen reduzieren darf, scheint die Entscheidung, den albanischen Beitrittsprozess zur EU wieder in Gang zu bringen, angesichts dieser Probleme schwer verständlich.

Salus populi suprema lex esto

Das wohlverstandene Interesse der Europäer sollte die Entscheidungen der EU-Staats- und Regierungschefs leiten. In diesem Fall dürften wir jedoch Zeugen einer allgemeinen Coué-Formel sein (“Mir geht es mit jedem Tag in jeder Hinsicht immer besser und besser”): die Dynamik des Beitritts zur Europäischen Union führt dank des Zyklus von Reformen, wirtschaftlicher Öffnung und freiem Personen- und Warenverkehr in einen Teufelskreis.

Die Erfahrung der ersten Phase des Beitritts Albaniens zur Europäischen Union sollte uns zur Vorsicht mahnen. Die Erweiterung der Europäischen Union dürfte zu neuen Wellen unkontrollierter Einwanderung und immer stärkeren Zahlungsüberweisungen aus westeuropäischen Ländern in die ärmeren Länder führen. Dies hat bereits mit der Zahlung von fast 639 Mio. EUR an Albanien im Zeitraum 2014-2020 im Rahmen der Anstrengungen in Richtung eines Beitritts zur Europäischen Union begonnen (24). Aber solche Argumente scheinen für die EU-Elite, die offenbar von einem unerschütterlich Glauben beseelt ist, von geringem Gewicht zu sein.

Anmerkungen

(1) « Albanie : mourir pour l’islam en Syrie » [“Albanien: Sterben für den Islam in Syrien”], Klan Tirana, zitiert im Courrier international, 18. Februar 2014

(2) « L’Albanie doit faire le choix entre l’UE et la Turquie » [“Albanien muss zwischen der EU und der Türkei wählen”], Huffpost Canada, 10. Mai 2018

(3) « Situation économique et financière de l’Albanie » [“Wirtschaftliche und finanzielle Situation Albaniens”], Ministère de l’Économie, März 2018

(4) « En Albanie, la rue contre la corruption et le crime organisé » [“Die Straße gegen Korruption und organisiertes Verbrechen in Albanien”], Libération, 17. Februar 2019

(5) « Pauvreté et identité, impressions d’un voyage en Albanie » [“Armut und Identität, Eindrücke einer Reise nach Albanien”], Albert Tureveux, Polémia, 31. Juli 2019

(6) « Espace Schengen : exemption des visas pour les Albanais et les Bosniens » [“Schengen-Raum: Befreiung von der Visumpflicht für Albaner und Bosnier”], Le Monde, 9. November 2010

(7) „Liberalisierung des Visumregimes“, Pressemitteilung der Europäischen Kommission vom 19. Dezember 2018

(8) « Répartition des étrangers par nationalité » [“Verteilung von Ausländern nach Staatsangehörigkeit”], INSEE, 2. September 2019

(9) « Chiffres clés de l’immigration » [“Kennzahlen zur Einwanderung”], Ministère de l’intérieur, 21. Januar 2020

(10) « Demande d’asile : toutes les nationalités n’ont pas la même chance » [“Asylantrag: Nicht alle Nationalitäten haben die gleiche Chance”], Infomigrants, 8. Januar 2018

(11) « La France veut expulser davantage de migrants albanais cette année » [“Frankreich will in diesem Jahr mehr albanische Migranten ausweisen”], Infomigrants, 29. März 2019

(12) « Les migrants albanais fuient le pays le plus pauvre d’Europe » [“Albanische Migranten fliehen aus dem ärmsten Land Europas”], Reporterre, 21. Februar 2018

(13) « Compte rendu de la Commission des affaires étrangères. Audition du directeur de l’OFPRA » [„Bericht des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten. Anhörung des Direktors von OFPRA“], Assemblée nationale, 14. Februar 2018

(14) Ibid (20)

(15) « Soins des migrants : tout comprendre à la lutte contre le tourisme médical » [„Betreuung von Migranten: alles im Kampf gegen den Medizintourismus verstehen“], Le Parisien, 5. November 2019

(16) « L’aide médicale d’État : diagnostic et propositions » [“Staatliche medizinische Hilfe: Diagnose und Vorschläge”], IGAS, Oktober 2019

(17) « Équipe juridique mobile » [“Mobiles Rechtsteam”], Solidarités Grenoble

(18) « Un étranger a-t-il besoin d’un visa pour venir en France ? » [“Benötigt ein Ausländer ein Visum, um nach Frankreich zu kommen?”], Service public

(19) « La pègre albanaise envahit le monde occidental » [“Die albanische Unterwelt dringt in die westliche Welt ein”], Alain Rodier. CF2R, Oktober 2007

(20) « Le crime organisé, principale menace pour la sécurité en Europe » [“Organisierte Kriminalität, die größte Bedrohung für die Sicherheit in Europa”], RFI, 17. April 2019

(21) « Rapport de la Commission des affaires étrangères » [„Bericht des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten“], Assemblée nationale, 11. Februar 2015

(22) « Les mafieux albanais de plus en plus implantés en France » [“Die albanische Mafia hat sich in Frankreich immer mehr etabliert”], Le Figaro, 2. November 2018

(23) « L’actu en capitales : la Haye ne veut plus de mafieux albanais » [“Nachrichten aus den Hauptstädten: Den Haag will keine albanischen Mafiosi mehr”], Euractiv, 4. Juni 2019

(24) “Albanien-Finanzhilfe nach IPA II”, Europäische Kommission, 9. Januar 2020

Dieser Artikel erschien zuerst in französischer Sprache bei EuroLibertés: http://eurolibertes.com/geopolitique/elargissement-de-lunion-europeenne-fuite-continue-2/

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