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Karte: Russland in Eurasien - Quelle: KartePlan.com

Russland und Eurasien – Teil I

Von ALEXANDRE LAMBERT  | Ein kurzer Blick auf die Weltkarte zeigt, dass Eurasien der größte Kontinent und Russland das territorial größte Land der Erde ist. Bevor wir in den folgenden Kapiteln genauer auf die geographischen Eigenschaften Russlands eingehen, befasst sich dieser einleitende Teil mit der besonderen Stellung Eurasiens in der Weltgeographie und mit Russland, welchem im Rahmen von Eurasien wiederum eine zentrale geographische Bedeutung zukommt.

In der langen Zeitachse der Geschichte beeinflusst kein anderer Faktor sowohl die Politik der Länder und die Kultur der Völker sowie deren wechselseitige Beziehungen stärker als der Raum selbst, und im politischen und gesellschaftlichen Zusammenhang beschreibt dies die Geographie. Insofern sind die geographischen Eigenschaften vom Territorium einerseits und die Eigenschaften der sich auf diesem Territorium befindlichen Bevölkerung/Demographie andererseits zentral auch zum Verständnis von Politikwissenschaft sowie von internationalen Beziehungen. Z.B. kann man ohne die geographischen Eigenschaften der Schweiz nicht erklären, weshalb gerade dieses Land so lange Zeit ein verhältnismäßig armes Land in Europa war! Immer schon relativ klein territorial sowie demographisch im Vergleich zu Nachbarländern, ohne direkten Zugang zum Meer und deren Küstenregionen (im Englischen nennt man diesen Zustand ‘landlocked’), wo sich der Bärenanteil des Fernhandels sowie der industrialisierten Zonen bis weit in die Neuzeit konzentrierte, und also die Transportkosten relativ teuer waren, situiert in der höchsten Alpinen Erhebung mit entsprechend schwierigen klimatischen und topographischen Lebensbedingungen, und ohne lokales Vorkommen strategischer Bodenschätze, lediglich profitierend von einer der schnellsten Nord-Süd-Transportachse von Norditalien nach Nordeuropa (St. Gotthard), stellten die besonderen geographischen Voraussetzungen ihres Territoriums für die Schweizer eine große Herausforderung dar, um im wirtschaftlichen Wettstreit mit anderen Europäischen Ländern mitzuhalten, sowohl nördlich als auch südlich der Alpen.

Dass Politik und Geographie eng miteinander verknüpft sind, das waren sich auch gerade die Großmächte bewusst. Gemäss einer gut bekannten Äusserung von Napoleon bestimmt die Geographie die Politik sowie die relative Macht eines Staates, wenn nicht das Schicksal eines Landes. Und wohl nirgendwo anders als bei seinem Russland-Feldzug (Juni – Dezember 1812) bekam dies seine Armee besonders zu spüren, mündete doch seine Kampagne in einem Fiasko angesichts des einbrechenden ‘Russischen Winters’. In keinem anderen Land Europas, mit Ausnahme vielleicht von Finnland, wird es im Winter dermaßen kalt wie in Russland. Das dort charakteristische kontinentale Klima führt alleine in der Hauptstadt Moskau zu Temperaturen bis zu minus 30 Grad Celsius. Und lange bevor es in Europa ein Eisenbahnnetz, geschweige denn motorisierte Fortbewegungsmittel gab zur logistischen Bewältigung von Personen und Material, mussten insbesondere Napoleons Fusstruppen erst einmal den Marsch nach Russland bewältigen. Die reine Luftlinie von Paris nach Moskau misst satte 2’500 km, was ungefähr der Distanz von Oslo nach Athen entspricht. Zum Vergleich: diejenige von Paris nach Berlin beträgt ‘lediglich’ 1’000 km. Der einzige Trost für die Teilnehmer dieses historischen, vor-industriellen Marsches, war der Umstand, dass das Territorium zwischen Paris und Moskau, also die nordeuropäischen Tiefebene, ein verhältnismässig ebenes Terrain darstellt und somit relativ einfach zu bewältigen ist, zumal wenn man es mitsamt Kriegsmaterial durchqueren muss.

Sich im Wesentlichen auf Territorium und Bevölkerung von Ländern richtend, konzentriert sich die politische Geographie denn auch auf die beiden Eckpfeiler staatlicher Souveränität; ein Staat ist dann souverän, wenn er die Kontrolle über sein Territorium und seine Bevölkerung ausüben kann. Was den territorialen Faktor anbetrifft, so sind das die geographische Ausdehnung und Position sowie klimatische, vegetative, und topographische Bedingungen, und natürlich spielen dabei die natürlichen Rohstoffe und Bodenschätze eine wichtige Rolle. Was den Bevölkerungsfaktor anbetrifft, so ist wiederum die Grösse sowie territoriale Verteilung der Bevölkerung wichtig, auch ihre geschichtlichen, kulturellen, wirtschaftlichen, gesundheits- und bildungsspezifischen Eigenschaften, sowie die relative Industrialisierung und Urbanisierung. Nebst den natürlichen Rohstoffen eines Landes spielt speziell das ‘Humankapital’ eine wichtige Rolle beim wirtschaftlichen Wettbewerb, das heisst der durchschnittliche Bildungsstand der Bevölkerung. Ein hoher durchschnittlicher Bildungsstand der Bevölkerung fördert Innovationsfähigkeit und wirtschaftliche Effizienz, industrielle Produktivität und wirtschaftliche Diversifizierung. Zum Beispiel wäre es auch hier wieder undenkbar, den wirtschaftlichen Aufstieg der Schweiz in der späten Neuzeit nachzuvollziehen, hätten die Gründerväter des modernen Helvetischen Bundesstaates seit dem 19. Jahrhundert nicht systematisch das öffentliches Bildungswesen gefördert, bzw. hätten sie gleichzeitig nicht auch generell in öffentliche Dienstleistungen, Industrialisierung und grosse Infrastrukturprojekte wie z.B. das Eisenbahnnetz investiert.

Waren es ursprünglich v.a. deutsche Gelehrte in Europa, die die Wissenschaft der politischen Geographie begründeten, von Alexander von Humboldt (1769-1859) und Carl Ritter (1779-1859) über Friedrich Ratzel (1844-1904) bis hin zu Karl Ernst Haushofer (1869-1946), dessen historische Rolle aufgrund seiner Nähe zum Hitler-Regime kontrovers bleibt, treten seit der Wende zum 21. Jahrhundert der von Ratzel stark beeinflusste Schwede Rodulf Kjellen, und insbesondere die Anglo-Amerikanischen Gründerväter der spezifischen Perspektive der politischen Geographie aus dem Blickwinkel von Seemächten in Erscheinung. 2014 jährte sich der Todestag von Alfred Thayer Mahan zum hundertsten Mal, also des renommierten amerikanischen Marine-Historikers, Strategen und geographischen Theoretikers, der am U.S. Naval College in Newport in Rhode Island lehrte. Mahan verfasste 1890 ein für die damalige Zeit revolutionäres Werk zur Geschichte maritimer Kriegsführung, in dem der den entscheidenden Einfluss von ‘Seemacht’ (naval power) auf die Geschichte selbst beschrieb (The Influence of Sea Power Upon History, 1660-1783) – also den relativen Vorteil von Seemächten wie z.B. Grossbritannien oder die USA im Vergleich zu kontinentalen Mächten wie etwa Deutschland und Russland. Dieses Werk wurde gewissermassen zur ‘Bibel’ damaliger Militärstrategie weltweit, und selbst Kaiser Wilhelm II. beorderte vermeintlich, dass es auf jedem einzelnen Preussischen Kriegsschiff präsent war. Mit seinen «6 Elementen der Seemacht» bezeichnete Mahan ferner Grundprinzipien der politischen Geographie, die praktisch für jedes Land zentral sind: geographische Position (geographical position); physiologische Konfiguration (physical configuration); territoriale Grösse (territoral extent); Grösse der Bevölkerung (size of population); Eigenschaft der Bevölkerung (character of population); Eigenschaft der Regierung (character of government).

Ein Jahrzehnt später, im trans-atlantischen London, veröffentlichte der Britische politische Geograph, Halford John Machinder 1904 ein weiters bahnbrechendes Werk, das das Geopolitische Denken des 20. Jahrhunderts nachhaltig beeinflussen sollte: «The Geographical Pivot of History» (1904). Übersetzt man ‘Pivot’ mit ‘Dreh- oder Angelpunkt’, dann bezeichnet dies eine inhärente geographische Dynamik, die in direktem Zusammenhang steht mit dem größten Kontinent der Erde, Eurasien, innerhalb dessen, wie angedeutet, wiederum Russland geographisch eine zentrale Rolle zukommt. Mackinder, der sozusagen ein Welt-Geograph war, bezeichnete den kontinentalen Komplex von Eurasien und Afrika als ‘Weltinsel’ (world island), dem sowohl der Amerikanische Sub-Kontinent (Westliche Hemisphäre) als auch Ozeanien (u.a. Australien und Neu Seeland) also ‘periphere Inseln’ gegenüberstehen.


Bild: Weltinsel (rot); Wikipedia.

Entsprechend betrachtete bereits Mahan sowohl die Vereinigten Staaten als auch die Britischen Inseln sozusagen als ‘offshore’ Inseln aus der Sicht der Weltgeographie, sowohl was deren geographische Position zur Eurasien-Afrika-Weltinsel betrifft also auch diejenige zum Euroasiatischen Festland selbst. Nun richtete Mackinder sein Augenmerk auf Eurasiens ‘Herzland’ (heart land), die er auch ‘pivot area’ nannte, ein weitflächiges Gebiet, das  sich von der «Wolga zum Yangtse» und vom «Himalaya zur Arktis» erstreckt, also eine in Eurasien zentral situierte territoriale Zone, die bereits zur damaligen Zeit mehrheitlich vom Russischen Reich kontrolliert wurde. Bezeichnenderweise fällt nun dieses Euroasiatische ‘Herzland’ mit der sogenannten ‘Strategischen Ellipse’ (strategic ellipse) zusammen, also jenes Gebiet, in dem sich u.a. 70 % der weltweiten Rohöl-Reserven sowie 60% der weltweiten Erdgas-Reserven konzentrieren, und die sich ferner im Zentrum der 4 weltweit größten Bevölkerungs-, Handels-, Industrie- und Energiekonsum-Zonen befindet (Nordamerika, Europa, Südasien, Ostasien).

Karte: Strategic Ellipse; Clingendael International Energy Programme, 3‐4 May 2010.

Seit dem 19. Jahrhundert, also in der Folge der industriellen Revolution, war es oberstes Gebot für jegliche Weltmacht, die Kontrolle über die strategischen Energie-Rohstoffe und -Märkte (zunächst Kohle und sodann zunehmend Rohöl) zu sichern. Tatsache ist, dass sich bereits ein verhältnismäßig großer Anteil an Rohöl – sowie in jüngerer Zeit des strategisch wichtiger werdenden Erdgases – auf das russische Territorium konzentriert. Zudem übt Russland aufgrund seiner geographischen Nähe zu den übrigen Rohstoff-reichen Regionen der Strategischen Ellipse wie der Kaspischen Senke, Zentralasiens sowie dem Mittleren Osten sowie zu allen vier oben genannten hauptsächlichen Energie-Konsumzonen einen zusätzlich strategischen Einfluss auf die globale Energiepolitik aus. Schließlich besteht mit einer potentiellen Partnerschaft zwischen Russland und der zweitgrößten Kontinentalmacht Europas, Deutschland, ein geostrategisches Szenario, das schon immer ein Dorn in den Augen von London und Washington D.C. war. Es galt mit allen Mitteln zu verhindern, dass sich eine Pan-Europäische Wirtschaftsallianz bilden könnte, bei der sich deutsche Technologie mit Russischen/sowjetischen Rohstoffen verbinden würde. Dass dies auch nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Zerfall der Sowjetunion eines der obersten Gebote des Atlantischen Camps in Europa blieb zeigt mit unter die NATO-Osterweiterung, die einen politisch-militärischen Keil zwischen Berlin und Moskau geschoben hat. Zudem hat selbst die EU-Osterweiterung implizit zu einer erneuten geopolitischen und geo-ökonomischen ‘Teilung’ des Europäischen Kontinentes beigetragen, indem sie sich praktisch nahtlos an die NATO-Erweiterung angereiht, und hiermit implizit eine ‘Atlantische’ Position im Rahmen der regionalen Integration eingenommen hat.

Um Russland nachhaltig daran zu hindern, sich geopolitisch und geoökonomisch weiter nach Eurasien auszudehnen und insbesondere an den Indischen Ozean vorzudringen, entwickelten die anglo-amerikanischen Seemächte (Britisches Imperium; USA) seit dem 19. Jahrhundert eine sogenannte ‘Eindämmungspolitik’ des Russischen Imperiums und sodann der UdSSR, die nach dem Zweiten Weltkrieg und im Verlaufe des Kalten Krieges formell als ‘Containment’ Politik bezeichnet wurde und u.a. als ‘Truman Doktrin’ die Geschichte des 20. Jahrhunderts prägte. Der intellektuelle Gründervater dieser den Kalten Krieg stark beeinflussenden ‘Containment-Politik’ gegenüber der Sowjetunion war der aus den Niederlanden stammende und an der Yale Universität lehrende Politikwissenschaftler, Nicholas Spykman. Selbst stark von Mahan und Mackinder geprägt, entwarf Spykman komplementär zu Mackinder’s ‘Heartland’-Theorie seine ‘Rimland’-Theorie, in der er sein Augenmerk nicht auf das Zentrum, sondern die an die warmen Meereszonen grenzende Peripherie Eurasiens legte. Gemäß Spykman lag in der Kontrolle dieser Rimland-Zone (siehe Karte unten), wo sich auch der Bärenanteil der Weltbevölkerung, der industriellen Kapazität, sowie des Welthandels konzentrieren, der Schlüssel zur Eindämmung der Sowjetunion und somit zur US-Amerikanischen Vorherrschaft in der Weltpolitik. Bezeichnenderweise konzentriert sich seither der Bärenanteil der US-amerikanischen sowie der internationalen U.S. Militärbasen auf dieses Rimland (siehe ebenfalls die darauffolgende Karte unten), das sich von Westeuropa (NATO), über den Mittleren Osten, nach Süd-, Süd-Ost, und Ost-Asien erstreckt.


Karte: ‘Heartland’ und ‘Rimland’;  Quelle:
https://coldwargeopolitics.wordpress.com/2016/03/12/geopolitical-theories-driving-proxy-wars-during-the-cold-war
Karte: U.S. Militärbasen nahe am Russischen Territorium.
Quelle:
http://99getsmart.com/tag/nato

Da Russland innerhalb des euroasiatischen Kontinentes geographisch eine Schlüsselposition zukommt, aufgrund seiner beachtlichen territorialen Ausdehnung, seiner schier unerschöpflichen Bodenschätze, sowie seiner spezifische geographische Funktion als Kontinentalbrücke zwischen Europa mit Asien, ist es auch nicht verwunderlich, dass gerade Russland in der Weltpolitik der Neuzeit immer schon von herausragender geostrategischer Bedeutung war. Bereits zur Wende des 20. Jahrhunderts befand Mackinder in für die Zeitgeschichte prominent gewordener Weise:

“Wer über Osteuropa gebietet, gebietet über das Herzland; wer über das Herzland gebietet, gebietet über die Weltinsel; und wer über die Weltinsel gebietet, gebietet über die Welt.”

Und entsprechend fügte Spykman ein halbes Jahrhundert später in verkürzter, bzw. leicht modifizierter Weise hinzu:

“Wer über das Rimland gebietet, gebietet über die Weltinsel; und wer über die Weltinsel gebietet, gebietet über die Welt”.

Wenn demnach die Welt im Verlaufe der letzten zwei Jahrhunderten von den beiden Anglo-Amerikanischen Seemächten dominiert werden konnte, dann deswegen, weil es ihnen gelungen war, die geopolitische Expansion Russlands und somit der wichtigsten kontinentalen Mach Eurasiens einzudämmen. Und wie oben angedeutet, war einer der Eckpfeiler der Anglo-Amerikanischen Eindämmungsstrategie Russlands, dass es daran gehindert werden sollte, mit der anderen Europäischen Kontinentalmacht, Deutschland, nachhaltig eine strategische Partnerschaft einzugehen. Dazu gehört in jüngster Zeitgeschichte nicht nur die Einbindung Deutschlands in die NATO, und z.T. auch in die EU. Sondern wir könnten hier gar einen ganzen zusätzlichen Artikel hinzufügen zu den genauen und in gängigen Geschichtsbüchern und Lexika nur unzulänglich geschilderten Umständen der beiden Weltkriege, sowie was u.a. die finanzielle Unterstützung durch Wall Street und auch der London City nicht nur an die Drahtzieher des bolschewistischen Staatsputsches – also ein Ereignis, das nachhaltig das 20. Jahrhundert prägen sollte, und das Historiker in kulanter Weise als die ‘Russische Revolution’ bezeichneten – , sondern auch was den Aufstieg Adolf Hitlers und der NSDAP im Vorfeld des 2. Weltkrieges anbetrifft. Hier soll lediglich auf den herausragenden Forschungsbeitrag Antony Suttons Mitte der 1970er Jahren zum Thema verwiesen sein (Wall Street and the Bolchevist Revolution; Wall Street and the Rise of Hitler).

Nun verändert sich die politische Geographie Russlands und Eurasiens insgesamt aufgrund der von China 2013 lancierten Neuen Seidenstraße (Gürtel- und Straßen-Initiative). Die kommenden Abschnitte behandeln denn nicht nur die grundlegenden Faktoren von Russlands Politischer Geographie, sondern darüber hinaus das mit dem wirtschaftlichen Aufstieg Chinas und Asiens insgesamt veränderte geopolitische Schachbrett Eurasiens, was wiederum eine mögliche Rückkehr der Kontinentalmächte in der Weltgeschichte einläutet.

Teil II:  Geographische und demographische Faktoren Russlands

Teil III: Strategische Aspekte Russlands politischer Geographie

Zum Autor: Dr. Alexandre Lambert ist Akademischer Direktor des Genfer Instituts für Geopolitische Studien (GIGS)

Die Erstveröffentlichung des Artikels erfolgte auf: www.stephanossenkopp.com

Von Redaktion

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