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Bildquelle: https://www.volkskundemuseum.at/onlinesammlungen/oemv30905

Eine Tafel, die im 18. Jahrhundert in den Städten des Deutschen Reiches mit der bildlichen Darstellung der Völker Europas aufgestellt wurde, nannte man “Völkertafel“. In Gasthäusern, Kneipen, Postämtern und anderen öffentlichen Orten wurde sie ausgehängt, um die Menschen über die Fremden zu informieren, die Poststation über die Passagiere, den Gastwirt über den Gast und den Reisenden über seinen Mitreisenden, dessen Nationalität und Wesen. Es war wichtig zu wissen, welches Verhalten man von seinem Gegenüber aufgrund seines Aussehens erwarten konnte, ob er die Rechnung bezahlen, friedlich in der Bibel lesen oder womöglich den Säbel ziehen wird, wenn ihm etwas missfällt. Die Völkertafel war ursprünglich ein Ölgemälde, das wahrscheinlich um 1720 von einem österreichischen oder bayerischen Maler im Auftrag angefertigt wurde. Sie stellte die wichtigsten Völker Europas dar und beschrieb ihre Eigenschaften auf der Grundlage der ethnostereotypen Klischees der damaligen Zeit. Auf deutschen Klischees basierend, wohlgemerkt.

Die Deutschen haben ihre eigenen Klischees auf sich selbst angewandt. Sie stellten sich als offenherzig, geistreich und selbstlos dar, from im Glauben, gelehrt im Recht, unüberwindlich im Kampf, dem Kaiser stets treu ergeben, so wie sie es gerne sein wollten. Leider konnten sie nichts für die ungünstigen natürlichen Gegebenheiten ihres Landes, die so waren, wie sie waren, aber jeder war mit dem zufrieden, was er hatte. Auch mit der Gicht (Podagra), die sie am meisten plagte.

In der Tabelle der europäischen Nationen sind wir Ungarn zusammen mit den Spaniern, Franzosen, Italienern, Deutschen, Engländern, Schweizern, Polen, Russen und Türken-Griechen unter den TOP 10. Die Reihenfolge könnte willkürlich sein, aber nein, diese Reihenfolge drückt sehr wohl ein Wertesystem aus. Im 18. Jahrhundert war Europa längst in ein Zentrum (reich) und eine Peripherie (rückständig in der Entwicklung) geteilt, wobei die Werte nicht mehr auf Tugend und Ethos, sondern auf Reichtum und Macht basierend ausgestaltet wurden.

Schon damals waren sich die westlichen Länder ihrer Macht bewusst und wurden von Überlegenheit, Verachtung und Arroganz gegenüber dem Osten getrieben.

Die auf dem Bild dargestellten englischen, französischen und deutschen Herren sind nach der Mode der damaligen Zeit gekleidet, während die anderen in Kleidern gemalt sind, welche ihre eigene charakteristische Lebensweise widerspiegeln. Ich kann ohne Voreingenommenheit behaupten, dass die ungarische Tracht die prächtigste ist. In Stiefeln aus Saffianleder, mit goldenen Ungarischen Knoten und goldenen Knöpfen, trägt der Ungar einen roten Dolch, eine mit Pelz verbrämte lässig über eine Schulter getragene Joppe und eine Reiherfeder auf dem Hut. Mit geradem Oberkörper, die Hände auf den Säbel gestützt, schaut er mit furchtlosem Blick in die Welt hinaus.

Dennoch stehen wir nur an dritter Stelle von hinten in der Rangliste, weil das politische Gewicht des Landes und die jahrhundertealten Klischees gegen die Ungarn uns dazu prädestiniert haben.

Zu dieser Zeit war das Königreich Ungarn dank der Habsburger bereits amputiert, Siebenbürgen wurde nach der Vertreibung der Türken nicht wieder ans Land angegliedert, und der Süden stand direkt unter der Kontrolle von Wien.

Wir wurden weder von den in Ungarn „Labanc“ genannten Österreichern, noch von den echten Deutschen geliebt. Der Malermeister malt, was der Kunde sich wünscht; die Einzigen, die in der Welt schlimmer sind als wir, sind die Moskowiter, also die Russen, und die Türken. (Genau wie heute.)

Auf dem Tableau der Völker wird der Ungar als blutgieriges, grausames, aufrührerisch untreues und verräterisches Volk dargestellt. Seine Streitsucht verleitet ihn zum Aufruhr, er rebelliert gegen seinen König, seinen Herrn sowie allfälligen Vorgesetzten und ist ständig unzufrieden. Kein Wunder, dass sein Leben normalerweise unter dem Säbel beendet wird. Der ungarische Mann ist wie der streunende Wolf ruhelos, bösartig und gefährlich. Der Ungar kennt keine Zurückhaltung und neigt daher zu den Fraisen und wird ständig vom Schlaganfall bedroht. Latein ist seine einzige Wissenschaft, aber Latein kennt in diesem Land jeder, auch der letzte Bauer.

Man versteht nicht und will auch nicht verstehen, wie Gott diesen seit jeher rebellischen Ungarn gerade die reichste Landschaft Europas schenken konnte.

Man kann den Neid an der Völkertafel gut ablesen, denn die Ungarn sind unbestreitbar reich an allem: reiche Ernten, Gold, Wälder, Wasser. Ihre prächtige Kleidung zeigt auch ihr Reichtum. Deshalb sind sie neidisch auf uns Ungarn, und vielleicht auch wegen unseres im ständigen Aufruhr mündenden Freiheitsdrangs. Der Neid nährt den Hass, und der Hass ist ein schlechter Ratgeber, der zu allerlei Niederträchtigkeiten fähig ist.

Die heutige Wahrnehmung der Ungarn folgt einer im deutschen Sprachraum seit Jahrhunderten verbreiteten, auf negativen Klischees fußenden Jahrhunderte alten Tradition. Während das Bild der Ungarn im mittelalterlichen Italien ausgesprochen positiv war: sie galten dort als baumgerade, kämpferische Männer, lebhaft und kultiviert, schrieb währenddessen Otto von Freising, der bekannteste deutsche Chronist des Mittelalters, über kleingewachsene, garstige Menschen mit tiefsitzenden Augen. Möglicherweise wollte er nur das von unseren frühen Vorfahren der Streifzüge entstandene Bild an die Nachwelt weitergeben.

In der deutschen politischen Literatur wurden der ungarische Charakter und die ungarische Kultur ab dem 17. Jahrhundert zunehmend düsterer dargestellt, mit einem ausgesprochen bösartigen Blick auf Ungarn.

“In Ungarn ist die Zahl der Gebildeten im europäischen Vergleich einmalig gering, und der Grund dafür ist, dass der Geist des Volkes für höhere intellektuelle Tätigkeiten ungeeignet ist. Die Ungarn sind unzuverlässig und gerissen, sie arbeiten nicht gerne, sondern lassen grasen oder werden Soldaten. Infolge der Kriege ist hier alles verwildert. Die Heimat eines gebildeten Menschen mag Ungarn sein, seine Ausbildung ist jedoch deutsch, denn wer lernen will, geht ins Ausland, vor allem an deutsche Universitäten.

Wenn es in diesem Land etwas Gutes gibt, dann ist es ausschließlich Verdienst der Deutschen.”

So manipulierte zum Beispiel Andreas Oldenburger seine Leser gegen die Ungarn in 1666. Der Autor beschuldigte die Ungarn auch, einen gefährlichen Deutschenhass zu hegen. Nach einer solchen Zusammenfassung ist das wohl kaum überraschend.

Warum bildete sich ein negatives Bild von uns aus? Denn der heldenhafte Kampf gegen die Türken weckte nämlich zunächst europaweite Sympathien. “Die Ungarn sind trotz territorialer Verluste standhaft gegen den furchtbarsten Feind, den Türken, und die Schärfe ihres Geistes ist gleich der Schärfe ihrer Waffen. Sie haben ausgezeichnete geistige Fähigkeiten und lehren in ihren Schulen Sprachen und den wahren Glauben.” Der Rektor von der Wittenberger Universität selbst schrieb dies im Jahr 1598, aber er kannte das Land aus erster Hand und nicht nur vom Hörensagen, nämlich von ungarischen Studenten, die an der Universität studierten. Der Rektor fügte hinzu, dass Ungarn eines der reichsten Länder in Europa sei.

Und ich denke, das ist der Schlüsselsatz in der Beurteilung der Ungarn. Denn es gibt einen mittelalterlichen Topos, der sich bis heute in unserem Gemeinschaftsbewusstsein erhalten hat. “Extra Hungariam non est vita“, was so viel bedeutet wie “es gibt kein besseres Leben als in Ungarn”.

Dieses Land ist ein Paradies auf Erden, ein Paradies aus Milch und Honig, aus Wild, Gold und Ackerland.

Die Ungarn haben die darauffolgenden ständigen Kriege, den Zerfall des Landes und den verlorenen Reichtum als Strafe Gottes erlebt.

Das einst reiche und mächtige Königreich Ungarn, das als einziges, Europa vor der osmanischen Expansion geschützt hatte, war nunmehr auf sich allein gestellt.

(Wie schon so oft in der Geschichte.) Diese Erkenntnis löste eine Reihe von Aufständen, Verschwörungen und Freiheitskämpfen gegen die Habsburger aus, und als Reaktion darauf begann und verwurzelte sich die bis heute andauernde Kampagne zur Diskreditierung Ungarns. Die Deutschen standen bei dieser Diskreditierung an vorderster Front, aber auch die von Ungarn aufgenommenen Völker trugen ihren Teil dazu bei. Obwohl die Ungarn im Geiste des Vermächtnisses des Heiligen Stephans gut zu den Fremden waren und seit tausend Jahren immer wieder die Bedürftigen aufnahmen. Sie gaben den Deutschen, die vor der Hungersnot flohen, den Kumanen, die vor den Tataren flohen, den Serben, die vor den Türken flohen, den Rumänen und den Slowaken und Ruthenen, die aus den Bergen kamen, ihre Sprache und Kultur erhaltend, eine Heimat.

Wäre dies nicht der Fall gewesen, wären von den eingewanderten Völkern bis zum 19. Jahrhundert, dem Jahrhundert des nationalen Erwachens, nichts mehr geblieben.

Die Ungarn haben nie Dankbarkeit dafür erwartet, dass sie Europa jahrhundertelang unter Einsatz ihres Lebens als Bollwerk des Christentums verteidigt haben. Sie erwarten auch keine Dankbarkeit für den heutigen Schutz ihrer Grenzen und dafür, dass sie 1989 mit der Öffnung der Grenzen zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten und zur Wiederherstellung der deutschen Hegemonie in Europa beigetragen haben. Anstand und Respekt für andere bestimmten stets ihr Handeln. Sie glaubten nicht, dass die künftige deutsche Politik ihre eigenen Misserfolge wieder in der bewährten Weise auf Ungarn projizieren würde. Das menschliche Gedächtnis ist kurz und Dankbarkeit in der Politik ein unbekannter Begriff. In der Politik diktieren ausschließlich Interessen und bei der Auswahl der Mittel ist man nicht wählerisch.

Wenn wir auf den von der Völkertafel ausgehenden Neid zurückkommen, könnten wir vielleicht auch die Ursachen von Trianon enträtseln. Bleiben wir hier beim menschlichen Faktor. Die viel gescholtenen Ungarn, „vermindert zwar, gebrochen nicht“, wie ein großer Dichter, Mihály Vörösmarty, schrieb,

konnten den Rest ihres Landes, das seiner natürlichen Schätze beraubt wurde, wieder zum Blühen bringen. Zum zweiten Mal in hundert Jahren haben wir ein neues, wohlhabendes Land aus dem Nichts gegründet.

Genauso, wie unser Staatsgründer, der Heilige Stephan, es uns vor tausend Jahren vermacht hatte.

 

Die Autorin, Dr. phil. Iren Rab, ist Kulturhistorikerin.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Ungarisch bei MAGYAR HÍRLAP

und danach in deutscher Übersetzung von Dr. Andrea Martin bei UNGARNREAL, beide UNSERE Partner in der EUROPÄISCHEN MEDIENKOOPERATION.


3 Gedanken zu „Extra Hungariam non est vita“
    1. Das Original auf der angegebenen Webadresse hat immerhin 2500 px Breite und 1,6 MB.
      Für eine saubere Postergröße reicht das zwar nicht aus, aber mehr als nur ein A4 läßt sich daraus sicher machen.
      Ich glaube, online kann man bis jetzt noch ohne Gesichtslappen bestellen. 🙂

  1. Danke für diese breit gefächerte Erklärung eines auf den ersten Blick eher unscheinbaren Details der Geschichte.
    Der Mensch ist immer ein Kind seiner Zeit. Das kommt im Artikel angenehm wertungsfrei zum Ausdruck.

    Auch die Mahnung an die “Kinder der Gegenwart”, insbesondere an die deutsche Politik, …ihre eigenen Misserfolge nicht wieder in der bewährten Weise auf Ungarn zu projizieren… halte ich für dringend notwendig und angebracht.
    Es wird dort nur leider niemand hören wollen, weil der Auftrag ein anderer ist.

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