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Shanghai Cooperation Organization Quelle: https://www.globalsecurity.org/military/world/int/sco.htm

Geopolitische und strategische Aspekte Russlands

Politische Geographie: Fallstudie Russland – Teil 3

In den ersten beiden Teilen wurden spezifische territoriale und demographische Aspekte von Russland behandelt. Der letzte Teil beleuchtet strategische Komponenten von Russlands politischer Geographie. Sie sind wichtig für das geopolitische und geoökonomische Verständnis gegenüber Russland im Kontext seiner wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu anderen Nationen in der Dynamik zwischen den Grossmächten. Wie bereits im ersten Teil erwähnt, bilden die natürlichen Rohstoffe eines Landes bzw. seine Fähigkeit die Rohstoff-Märkte zu dominieren einen Eckpfeiler regionaler und globaler Machtpolitik. Russland spielt vor allem im Bereich regionaler und globaler Energiepolitik in Bezug auf Öl und Erdgas eine grosse Rolle.

Darüber hinaus verfügt Russland über grosse Vorkommen an anderen Bodenschätzen. In Bezug auf Frischwasserreserven rangiert Russland nach Brasilien weltweit auf dem zweiten Platz. Was Waldgebiete angeht steht es noch vor Brasilien weltweit auf dem ersten Platz – siehe Karte unten. Die Fläche ist in Russland fast doppelt so groß wie die von Brasiliens Amazonasgebiet und spielt eine wichtige Rolle für das Klima. Russland verfügt über die größten Agrarflächen, welche sich dank Klimawandel stetig erweitern – siehe Karte. So verfügt das Land über natürliche Bodenschätze samt Agrarflächen, wie kein anderes Land dieser Welt.

Russlands Boden beherbergt praktisch die ganze Palette strategischer Mineralien, wie z.B. Uran, Platin, Gold, Silber, Aluminium, Magnesium, Chrom, Phosphat, Eisen, Kupfer, Zink, Nickel, Blei, Kohle und vieles mehr. Dazu gesellen sich riesige Mengen anderer wichtiger Vorkommen wie Holz, Granit, Marmor, Sandstein sowie auch Genussstoffe wie Tee, Tabak, Zitrusfrüchte oder Salz. Es ist weltweit drittgrösster Weizenproduzent und ‘Kornkammer Asiens’ und in der Lage der steigenden Nachfrage auf den Weltmärkten nachzukommen.

Die folgenden Karten bilden die Waldflächen und Landwirtschaftszonen Russlands ab:


Karte: Russlands Waldflächen; Quelle: Semantic Scholar.


Karte: Russlands Agrarland; Quelle: http://www.agroatlas.ru/en/content/Vegetation_maps/Arable/index.html

Neben Seltenen Erden, die z.B. für eine funktionierende High-Tech-Industrie von existentieller Bedeutung sind, verfügt Russland über die grössten natürlichen Erdgasreserven inklusive Schiefergasvorkommen. Der Ausstieg europäischer Länder aus Kohle und Kerntechnik hat in der Folge zu einer steigenden Nachfrage an Gas geführt.

Die folgende Darstellung weist die weltweiten Erdgasvorkommen aus und verdeutlicht Russlands führende Stellung:


Graphik: Konventionelle und Unkonventionelle Erdgas-Reserven; Quelle: Pinterest.

 Russland besitzt die zweitgrössten Kohlereserven, die auf den stark wachsenden asiatischen Märkten verstärkt Absatz finden. Es besitzt die viertgrössten Uran- und sechsgrössten Rohölreserven und ist zugleich der fünftgrösste Stahlproduzent weltweit. Bei Goldvorkommen liegt Russland noch vor Südafrika auf dem zweiten Platz. Es bereitet zusammen mit den BRICS-Staaten und vor allem mit China eine auf dem Goldstandard beruhende neue internationale Geldwährung als Alternative zum US-Dollar vor.


Graphik: Weltweit grösste Ölreserven; Quelle: Statista.

Russlands Territorium umfasst vier der weltweit 14 längsten Flüsse der Erde mit einer Länge über 4.000 km: Jenissei, Ob, Amur und Lena.

Die Wolga, welche ins Kaspische Meer mündet gilt noch vor der Donau als Europas längster Fluss. Der Dnjepr, welcher auf russischem Territorium entspringt und ins Schwarze Meer mündet, zählt zusammen mit Don, Djnester und Petschora zu Europas längsten Flüssen. Sie sind in Mitteleuropa nur mit dem Rhein oder der Donau vergleichbar.

Russland verfügt mit dem nördlich der Mongolei gelegenen Baikalsee, über das größte und reinste Trinkwasserreservoir der Erde. Die Großen Seen Nordamerikas übertreffen die Fläche des Baikalsees fast zehnmal, doch nicht in Bezug auf die Wassermenge, die aufgrund seiner Tiefe von über 1.600 Meter noch grösser ist. Im Vergleich zum Bodensee, weist der Baikalsee eine 60 Mal grössere Ausdehnung und eine 500 Mal grösseren Wassermenge aus. Die Trinkwasser-Reserven der BRICS-Staatengruppe zusammen sind beachtlich: Nur Grönland und Island weisen pro Kopf grössere Trinkwasserreserven aus. Doch letztere sind an Gletscher gebunden, welche aufgrund des Klimawandels zurückgehen.

Aufgrund seiner Naturreichtümer müsste Russland über einen höheren Wohlstand verfügen. Doch Seemächte, wie das Britische Reich gefolgt von den Vereinigten Staaten verstanden dies zu verhindern. Russlands geographische Lage trug das Ihrige dazu bei: Extremes Klima in weiten Teilen des Landes, verursachte eine ungleichmässige Besiedelung und entsprechend grosse Distanzen zu den vormals gefragtesten Handelsrouten. Klimawandel und Chinas Neue-Seidenstrasse-Initiative sollten dies künftig ändern: Russland ist in insgesamt zwei der bislang sechs Wirtschaftskorridore der Neuen Seidenstrasse eingebunden: Das sind der China-Mongolei-Russland Korridor sowie die Neue Eurasische Landbrücke. Sie ließen bisher ein 13’000 km langes Eisenbahnnetz, welches Hong Kong mit Lissabon verbindet, entstehen. Seit 2015 rollen darüber jährlich 400 Züge mit 30’000 Containern, die acht Länder verbinden: China, Russland, Weißrussland, Polen, Deutschland, Frankreich, Spanien und Portugal. Jene Einbindung begünstigt das Entstehen neuer Industriezonen im Inneren der Länder, die künftig Eurasiens ‘Herzland’ nach Halford Mackinder (siehe Teil 1) miteinschließen.


Karte: Die 6 Wirtschaftskorridore entlang der Neuen Seidenstrasse;
Quelle:
https://voxeu.org/article/how-belt-and-road-initiative-could-reduce-trade-costs

Auch Russland baut zusammen mit internationalen Handelspartnern, wie China und Südkorea, die sogenannte Polar-Seidenstrasse aus. Sie wird die maritime Transportroute von Ostasien nach Europa um eine Woche verkürzen. Klimawandel und nuklearbetriebene Eisbrecher sollen dafür sorgen jene Seestrasse ganzjährig von Eis freizuhalten. In Bezug auf die Angrenzung an das nördliche Polargebiet lässt sich Russland nur noch mit Kanada vergleichen.


Karte: Arktische Seidenstrasse;
Quelle: https://risingtidefoundation.net/2019/10/17/india-and-other-asian-nations-join-the-polar-silk-road

Zusammen mit Indien wird der Hafen Tschahbahar an der iranischen Küste ausgebaut, der neben der Hafenstadt Gwaddar des China-Pakistan Korridors, der Nord-Süd-Achse der Neuen Seidenstrasse dient. Beide Umschlagpunkte verfolgen das Ziel, den für den Welthandel zentralen Indischen Ozean logistisch mit Eurasiens Kernland zu verbinden und das Binnenland – nach Nicholas J. Spykman Rimland genannt – an die Küste anzubinden. Im Rahmen dieser kontinentalen Nord-Süd-Verbindung, die von Russland durch Zentralasien bzw. Pakistan zum Indischen Ozean führt, entstehen neue kontinentale Transportrouten von «St.Petersburg nach Mumbai», die den bisherigen Seestrassen durch die Ostsee, die Strasse von Gibraltar sowie den Suezkanal zur Ergänzung dienen.

Der eingeschränkte Zugang der Russischen Handels- und Kriegsmarine zu warmen Gewässern stellte für Russland schon historisch eine besondere Herausforderung dar. Weder Murmansk noch der Hafen von Wladiwostok vermochten diesbezüglich Abhilfe zu schaffen: Murmansk scheint zu entlegen und die Bucht von Wladiwostok bleibt über die Wintermonate zugefroren. Nur der Hafen von Kaliningrad – des ehemalige Königsbergs – kann den Vorteil eines ganzjährigen eisfreien Hafens bieten. Als Ausgangspunkt für den maritimen Teil der Erdgaspipeline North Stream nach Deutschland verhilft jene Streckenführung diverse NATO-Staaten Osteuropas ganz zu umgehen.

Seit dem 18. Jahrhundert kommt Sewastopol auf der Krim eine herausragende Bedeutung zu: Zuletzt auch im entscheidenden Verbund mit dem russischen Marinestützpunkt Tartus an der syrischen Küste, der den Sieg über den Islamischen Staat logistisch ermöglichte.

Russlands ungehinderter Zugang zum Mittelmeer war schon in der Vergangenheit stark den bilateralen Beziehungen zur Türkei ausgesetzt. Im Syrischen Konflikt vermochte die russische Diplomatie ihre Strategie zuletzt mit der der Türkei abzustimmen. Spannungen zwischen der Türkei und dem Westen vermochten Russland wie auch China politisch zu nützen. Der Türkei kommt im logistischen Verbund zwischen Asien, Europa, Mittlerer Osten und Afrika eine strategisch überaus wichtige Scharnierfunktion zu.

Zu den neuen institutionellen Strukturen Eurasiens zählen mittlerweile:

– die 1996 von den Shanghai Fünf gegründete Shanghai Cooperation Organization (SCO)

– die 2015 von China initiierte Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB)

die von den BRICS Staaten im Jahr 2014 lancierte New Development Bank (NDB)

– die von Russland initiierte Eurasian Economic Union (EAEU)

Die SCO stellt die Antwort Russlands und Chinas auf Bedrohungen durch das atlantische Bündnis dar. Die 1996 von fünf Staaten gegründete Organisation umfasst mittlerweile:

– Acht Mitgliedsstaaten

– Vier Beobachter Staaten

– Sechs Dialog Partner

– Vier Gästeteilnehmer


Karte: Mitglieds- und Beobachter-Staaten, sowie Dialog-Partner und Gaststaaten der Shanghai Cooperation Organisation; Quelle: Your Free Templates.

 Vor 300 Jahren hatte Peter der Grosse mit der Verlegung der Hauptstadt von Moskau nach St. Petersburg ein klares Zeichen in Richtung Europa gesetzt. Doch Russlands verstärkte Zusammenarbeit mit China eröffnet beiden Globalmächten zusätzliche wichtige Optionen: Gigantische Energie-Projekte befinden sich in der Planung bzw. Durchführung. Das USD 400-Milliarden Erdgas-Förderprojekt ‘Power of Siberia’ wird neben der Industrialisierung des russischen Ostens auch für die verbesserte Versorgung von ganz Ostasien mit russischen Energieträgern sorgen.


Karte: Neues Erdgas-Förderungsprojekt in Ostsibirien (‘Power of Siberia’); Quelle: https://gastopowerjournal.com/media/k2/items/cache/17464e10e949e0318f3f3d87f8032be9_XL.jpg

Eine strategische Zusammenarbeit zwischen Russland und China im 21. Jahrhundert, würde zum wirtschaftlichen Aufstieg des sibirischen Raumes maßgeblich beitragen. Diese Entwicklung könnte zu Lasten Europas gehen, welches Gefahr läuft, im Fall der Fortsetzung ihrer erratischen Politik zwischen den Globalmächten aus West und Ost zerrieben zu werden.

Ein andere bahnbrechende Vision stellt das Projekt eines Tunnel-Projekts unter der Beringstrasse dar, zu dessen Realisierung die Russische Föderation einen 60 Milliarden USD Fond anbieten wollte. Allerdings war eine entsprechende Interessensbekundung von Seiten der USA bisher zu vermissen.

Viel deutet darauf hin, dass sich im 21. Jahrhundert das Gravitationszentrum der Weltwirtschaft vom Atlantik wieder nach Asien zurückverlagern wird, wo es in der Zivilisationsgeschichte zuvor über sehr lange Zeiträume schon angesiedelt war. Es würde China wie auch Indien in die Lage versetzen an ihre vormaligen gewichtigeren historischen Rollen einmal mehr anzuknüpfen.

Im Jahre 2100 wird Afrika gemäss einer Voraussage der UNO auf bis zu 4 Milliarden Einwohner angewachsen sein und darüber zu Asien aufgeschlossen haben. Jene demographischen Verlagerungen könnten bis zur Mitte des Jahrhunderts zur neuen Sino-Russischen Weltordnung beitragen, wobei die Rolle von West- und Mitteleuropa im Zuge dieser Entwicklung noch im Dunkeln bleibt.


Karte: Tunnel-Projekt unter der Beringstrasse; Quelle: Pinterest.

 Vieles deutet darauf hin, dass die atlantischen Mächte nach wie vor der Versuchung unterliegen, das geopolitische Potential Russlands weiter zu unterschätzen und die euroasiatische Supermacht vorwiegend als Rohstofflieferanten des Westens nur sehen. Genauso wie die ehemalige Sowjetunion entgegen allen Voraussagen den 2. Weltkrieg entschied, zählt auch Russland heute zu den führenden Weltmächten. Auf dem Gebiet des technisch-militärischen Komplexes blieb Russland weiterhin führend: Es besitzt eines der umfangreichsten und modernsten Nuklearwaffenarsenale und führt in der Raketen- und Weltraumtechnik besonders klar. Auch verfügt das Land über ein eigenes Navigationssystem, das sogenannte ‘Global Navigation Sattelite System’ (GLONASS) alternativ zum US-Amerikanischen GPS, dem Europäischen Galileo sowie dem Chinesischen Beidou.

Russland ist neben Australien das einzige Land, dass man aufgrund seiner gigantischen Ausmaße als eigenen ‘Kontinent’ einstufen könnte. Darüber hinaus verknüpft das Reich in einzigartiger Weise den europäischen mit dem asiatischen Kontinent und scheint darüber prädestiniert auch im neuen Jahrtausend den Mittelpunkt künftiger Weltpolitik maßgeblich weiter zu prägen.

Zum Autor: Dr. Alexandre Lambert ist Akademischer Direktor des Genfer Instituts für Geopolitische Studien (GIGS)

Die Erstveröffentlichung des Artikels erfolgte auf: www.stephanossenkopp.com

 

Von Redaktion

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