Guil­laume Travers: Die Über­wa­chungs­ge­sell­schaft als letzte Stufe des Liberalismus

Bildquelle: Breizh-info

„Anti­li­beral zu sein bedeutet keines­wegs, gegen Frei­heiten zu sein“

Besie­gelt die entste­hende Über­wa­chungs­ge­sell­schaft das Ende des libe­ralen Projekts der „offenen Gesell­schaft“? Nein, antwortet Guil­laume Travers in seinem neuen Buch, „La société de surveil­lance, stade ultime du libé­ra­lisme“ („Die Über­wa­chungs­ge­sell­schaft, die letzte Stufe des Libe­ra­lismus“), das bei La Nouvelle Librairie erschienen ist, sie ist im Gegen­teil das logi­sche Ergebnis.

Deshalb werden die Libe­ralen früher oder später alle tech­nisch mögli­chen Methoden der sozialen Kontrolle fördern: Bevöl­ke­rungs­über­wa­chung, Gesichts­er­ken­nung, gene­ti­sche Verän­de­rungen, 5G usw. Um dieses Para­doxon zu erhellen, ist es notwendig, zu den Ursprüngen des libe­ralen Frei­heits­be­griffs zurück­zu­kehren und seine Undenk­bar­keiten aufzu­zeigen. Dies ist das Ziel des vorlie­genden Aufsatzes. Ange­sichts der abstrakten Frei­heit der Libe­ralen fordert sie die Rück­kehr zu einem klas­si­schen Frei­heits­be­griff, wie er in der Antike und im Mittel­alter vorherrschte – und nicht seine Orwell­sche Verfälschung.

Guil­laume Travers ist Essayist und schreibt für die Zeit­schrift Elements. Er ist Autor mehrerer Bücher:

  • Économie médié­vale et société féodale (La Nouvelle Librairie)
  • Capi­ta­lisme moderne et société de marché (La Nouvelle Librairie)
  • Mitautor (mit Alain de Benoist) der Biblio­t­hèque du jeune Euro­péen (Le Rocher).

Zur Diskus­sion über sein jüngstes Buch, „La société de surveil­lance, stade ultime du libé­ra­lisme“ („Die Über­wa­chungs­ge­sell­schaft, die letzte Stufe des Libe­ra­lismus“), haben wir Guil­laume Travers interviewt.

Breizh-info.com: Inwie­fern stellt die Über­wa­chungs­ge­sell­schaft, in der wir uns heute befinden, ein Para­doxon in Bezug auf das Projekt der „offenen Gesell­schaft“ dar?

Guil­laume Travers: Wenn wir es vom Stand­punkt des Scheins aus betrachten, gibt es tatsäch­lich ein Para­doxon. Wenn wir von der „offenen Gesell­schaft“ spre­chen, sind die Bilder, die uns spontan in den Sinn kommen, nicht die von QR-Codes, die dreimal am Tag gescannt werden, auch nicht die von Gesichts­er­ken­nung oder gar der Verfol­gung von Personen. In meinem Buch wird jedoch argu­men­tiert, dass es ein Konti­nuum zwischen den beiden gibt. Was ist mein Argu­ment? Keine Gesell­schaft kommt ohne soziale Kontrolle aus, d. h. ohne formelle oder infor­melle Begren­zung der Frei­heit und der Impulse des Einzelnen. In vormo­dernen Gesell­schaften, die in Gemein­schaften struk­tu­riert sind, erfolgt die soziale Kontrolle meist infor­mell: Jeder wird dazu ange­halten, sich gut zu verhalten, weil das gegen­sei­tige Vertrauen zu den Verwandten besteht, weil die persön­liche und fami­liäre Ehre geschätzt wird, weil die Ausgren­zung inner­halb der Gemein­schaft die schlimmste Strafe ist.

Solche Mecha­nismen gab es sowohl in der Antike als auch im Mittel­alter. In einer „offenen“ Welt können sie nicht mehr exis­tieren. Wie viel Vertrauen kann man in einen Fremden von einem anderen Konti­nent setzen? Was ist Ehre für Menschen wert, die man viel­leicht nie wieder sieht? Damit ein Austausch zwischen Fremden statt­finden kann, muss die infor­melle soziale Kontrolle durch eine formelle soziale Kontrolle ersetzt werden: Es muss schrift­liche Verträge, Fußnoten, Hygie­ne­vor­schriften und viele Vermittler geben, die dafür sorgen, dass der Austausch ordnungs­gemäß verläuft. Die soziale Kontrolle löst sich allmäh­lich vom sozialen Körper und wird zu etwas Äußerem, das den Ausgangs­punkt einer Über­wa­chungs­ge­sell­schaft bildet. Diese Auswei­tung der formellen Kontrollen ist das verbor­gene Gesicht der globalen Handelsliberalisierung.

Breizh-info.com: Hinter diesem Para­doxon, das Sie in Ihrem Buch aufzeigen, steckt letzt­lich eine Kritik am Libe­ra­lismus, mit der Sie sich ausein­an­der­setzen. Warum ist das so?

Guil­laume Travers: Es gibt tausend Defi­ni­tionen des Libe­ra­lismus, aber nur eine scheint mir voll und ganz akzep­tabel zu sein: Libe­ra­lismus ist der Wille, die Gesamt­heit der sozialen Ordnung allein vom Indi­vi­duum aus zu denken, was bedeutet, alle gemein­samen Zuge­hö­rig­keiten, alle Wurzeln zu igno­rieren. Aus libe­raler Sicht ist man ein Indi­vi­duum, bevor man Fran­zose ist (so dass man seine Natio­na­lität wählen kann), ein Indi­vi­duum, bevor man ein Mann oder eine Frau ist (so dass man sein Geschlecht wählen kann) usw. Diese libe­rale Idee hat einen großen Fehler. Diese libe­rale Idee hat einen großen Makel, nämlich den, dass sie rein abstrakt ist: Konkret ist ein Indi­vi­duum immer das Produkt zweier Eltern­teile, das Produkt lokaler Zuge­hö­rig­keiten, einer Sprache usw. Aufgrund seines sehr abstrakten Charak­ters führt der Libe­ra­lismus zu großen Wider­sprü­chen: Um das Indi­vi­duum von seinen parti­ku­laren Wurzeln zu „befreien“, ist das Eingreifen von immer abstrak­teren und weiter entfernten recht­li­chen Verfahren erfor­der­lich. Histo­risch gesehen war es der Staat, der das Indi­vi­duum vom Feuda­lismus „befreit“ hat, indem er den Zentra­lismus gestärkt hat, der es von den Regio­nal­spra­chen „befreit“ hat, indem er für deren Verschwinden gekämpft hat, der es von den Fami­lien „befreit“ hat, indem er eine natio­nale Erzie­hung durch­ge­setzt hat, und so weiter. Das ist es, was viele Libe­rale nicht sehen wollen: Das von allen Wurzeln befreite Indi­vi­duum war keines­wegs natür­lich, sondern ist das histo­ri­sche Produkt immer stär­kerer staat­li­cher Eingriffe. Derselbe Prozess ist heute im Globa­lismus am Werk: Supra­na­tio­nale Struk­turen zielen darauf ab, Staaten zu zerstören, um das Indi­vi­duum von natio­nalen Zuge­hö­rig­keiten zu „befreien“.

Breizh-info.com: Ist der Libe­ra­lismus letzt­lich das Gegen­teil des Frei­heits­ge­dan­kens, dem wir Euro­päer anhängen?

Guil­laume Travers: Ja, und das ist die gute Nach­richt: Anti­li­beral zu sein bedeutet keines­wegs, gegen die Frei­heit zu sein. In dem Buch stelle ich zwei Auffas­sungen von Frei­heit gegen­über. Die „Frei­heit der Libe­ralen“ ist abstrakt, univer­sell, gren­zenlos, aber letzt­lich oft leer: Man kann das Recht auf Leben oder auf Glück prokla­mieren, ohne dass dies etwas für dieje­nigen ändert, die Opfer von Verbre­chen oder unglück­lich sind. Im Gegen­satz dazu herrschte in Europa während der Antike und des Mittel­al­ters eine „klas­si­sche“ Auffas­sung von Frei­heit vor. Diese Frei­heiten waren immer kollektiv, das Ergebnis einer Verwur­ze­lung: In Athen bin ich frei, weil ich ein Athener bin.

Diese Frei­heiten hingegen sind konkret: Wenn ich Mitglied einer Gesell­schaft bin, kann ich eine bestimmte wirt­schaft­liche Tätig­keit tatsäch­lich ausüben. Diese Frei­heiten sind lokal: Alle vormo­dernen Gesell­schaften unter­scheiden zwischen nah und fern, und der Fremde hat niemals die glei­chen Rechte wie der Vertraute (was nicht bedeutet, dass er keine Rechte hat). Über­trägt man diese klas­si­sche Auffas­sung auf die heutige Zeit, so würde dies bedeuten, dass man etwa in Frank­reich Rechte und Frei­heiten nicht deshalb haben sollte, weil man ein abstrakter „Mensch“ ist, sondern weil man Fran­zose ist.

Breizh-info.com: Welche Rolle spielt der Protes­tan­tismus, und im weiteren Sinne die angel­säch­si­sche Welt, bei der Errich­tung dieser Über­wa­chungs­ge­sell­schaft, der letzten Stufe des Libe­ra­lismus? Wie ist es zu erklären, dass unsere Gesell­schaften, die jahr­hun­der­te­lang gegen die angel­säch­si­sche Welt immun waren, nun vor ihr kapitulieren?

Guil­laume Travers: Histo­risch gesehen hat die angel­säch­si­sche Welt eine wich­tige Rolle bei der Entwick­lung des Indi­vi­dua­lismus gespielt, und sei es nur, weil sie einige der größten Theo­re­tiker hervor­ge­bracht hat, von John Locke bis Adam Smith. Auch der Protes­tan­tismus hat eine Rolle gespielt, und sei es nur dadurch, dass er die Rolle der Kirche (und der öffent­li­chen Insti­tu­tionen im Allge­meinen) zugunsten einer größeren Rolle der persön­li­chen und direkten Bezie­hung des Einzelnen zu Gott herun­ter­spielte. Warum haben unsere Gesell­schaften dem nach­ge­geben? Ich bin ein großer Anhänger des Schmit’schen Gegen­satzes zwischen „Land“ und „Meer“.

Die tradi­tio­nelle Welt ist eine „irdi­sche“ Welt, also eine Welt der Wurzeln, der terri­to­rialen, loka­li­sierten poli­ti­schen Ordnungen, die leicht kollek­tive Inter­essen über indi­vi­du­elle Wünsche stellen können. Im Gegen­satz dazu ist die moderne Welt „maritim“ – und es ist kein Zufall, dass England eine Insel ist, dass die Verei­nigten Staaten von entwur­zelten Menschen gegründet wurden. Die Welt des Meeres ist eine Welt der Unun­ter­scheid­bar­keit, in der der Einzelne die Frei­heit hat, sich vom Kollektiv zu lösen, um seine eigenen wirt­schaft­li­chen Inter­essen zu verfolgen. Mit anderen Worten: Es besteht ein offen­sicht­li­cher Zusam­men­hang zwischen dem Aufstieg des Libe­ra­lismus und der Öffnung der Meere.

Breizh-info.com: Seit Jahren ist das Kino voll von Szena­rien (Filmen und Serien), die in irgend­einer Weise die Gesell­schaft der Über­wa­chung und der totalen Kontrolle trivia­li­sieren. Ist der vom System geführte Kultur­kampf unter dem Gesichts­punkt der frei­wil­ligen Verskla­vung der Massen primär (da sie es schließ­lich sind, die sich damit abfinden, Sklaven zu sein)?

Guil­laume Travers: Ich weiß nicht, ob es eine Zunahme der Produk­tion zu diesem Thema gibt. Ich stelle fest, dass es schon sehr früh Film­pro­duk­tionen zu diesem Thema gab (man denke an Fritz Langs Metro­polis), aber auch Romane. Ich glaube nicht, dass es sich um eine Hand­lung handelt, die vom Kino vorbe­reitet wird, sondern dass dieses Thema der „Über­wa­chung“ die moderne Vorstel­lungs­kraft seit mindes­tens zwei Jahr­hun­derten aus verständ­li­chen psycho­lo­gi­schen Gründen verfolgt hat. In der Tat ist die Moderne – aus den von mir darge­legten Gründen – durch einen doppelten Prozess der Indi­vi­dua­li­sie­rung und des Aufstiegs großer abstrakter Einheiten (die Staaten, die „Büro­kratie“, von der Max Weber spricht) gekenn­zeichnet. Abge­schnitten von seinen tradi­tio­nellen Gemein­schaften steht der Einzelne ange­sichts dieser riesigen abstrakten Struk­turen zuneh­mend allein da. Es ist nicht verwun­der­lich, dass der Mensch eine gewisse Angst empfindet, eine große Einsam­keit, verbunden mit dem Gefühl, Gefan­gener eines „Systems“ zu sein, das sich seiner Kontrolle entzieht. Ich glaube, dass viele künst­le­ri­sche Produk­tionen zum Thema Über­wa­chung diesen Früh­ling ausbeuten.

Breizh-info.com: In der Schluss­fol­ge­rung Ihres Buches erklären Sie, dass die einzige Antwort auf diese neue Gesell­schaft, die die Eliten derzeit errichten, nur poli­tisch sein kann. Was soll das bedeuten?

Guil­laume Travers: Die libe­rale Welt, die Welt der abstrakten indi­vi­du­ellen Rechte, wird im Wesent­li­chen durch das Recht gere­gelt. Da der Mensch, wer auch immer er sein mag, unver­äu­ßer­liche Rechte haben soll, wird ihm die Zuge­hö­rig­keit verwei­gert: Es muss ein globales Gesetz herr­schen, und damit auch globale (Überwachungs-)Strukturen, um es umzu­setzen. Die Rück­kehr der Politik besteht darin, das Primat der Wurzeln zu bekräf­tigen: Frei­heit und Rechte können nur aufgrund einer Iden­tität, einer Zuge­hö­rig­keit exis­tieren, die notwen­di­ger­weise lokal ist. Konkret ist es daher drin­gend erfor­der­lich, auf die recht­liche „Megama­schine“ zu verzichten, die den Planeten zuneh­mend einengt, um die Souve­rä­nität der einzelnen Völker zu bekräf­tigen, ihre Fähig­keit, außer­halb eines globalen Systems zu exis­tieren, um ihre eigenen Beson­der­heiten zu verwirklichen.

Dieser Beitrag erschien zuerst bei BREIZH-INFO, unserem Partner in der EUROPÄISCHEN MEDIENKOOPERATION


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