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Parlamentspräsident László Kövér · Foto: Árpád Földházi

Interview mit Laura Szalai in der Wochenzeitung Mandiner.

Er ist sich sicher, dass die Europäische Union in ihrer heutigen Form aufhören wird zu existieren. Parlamentspräsident László Kövér verrät im Interview auch, ob ihn ein Wechsel ins Amt des Staatspräsidenten reizen würde. Und ob dem Fidesz mit Blick auf die Wahlen 2022 die Rolle in der Opposition wohl bekommen würde.

Welche Art von Blume wählen Sie, wenn Sie eine Dame Ihrer Bekanntschaft erfreuen möchten?

Meine Frau sagt, dass ich in diesem Metier nicht gut bin. (lacht) Wenn wir zum Beispiel zu einem Gast gehen, vertraue ich meistens dem Floristen an, einen schönen Strauß für die Gastgeberin zu machen. Manchmal entscheide ich mich jedoch. Mein Favorit ist die Rose, aber ich kaufe gerne etwas anderes, je nachdem, welche Art von Blume zum Anlass passt.

Die Dialog-Abgeordnete Tímea Szabó hat kürzlich einen Blumenstrauß von Ihnen erhalten, weil sie einer regierungsfreundlichen Rede ohne Zwischenruf zugehört hat, aber sie war mit der Wahl nicht zufrieden, sie fand, die blauen Nelken sahen verwässert aus. Was sagen Sie dazu?

Ich würde auf den letzten Satz meiner vorherigen Antwort zurückgreifen.

Auch in dieser Legislaturperiode wurde Ihr Verhältnis zur Opposition nicht besser. Die liberale Wochenzeitung HVG hat nachgerechnet: Seit 2013 verhängten Sie in 159 Fällen Geldbußen im Gesamtwert von 96 Mio. Forint, nur in den seltensten Fällen waren Politiker des Regierungslagers betroffen. Glauben Sie nicht, dass Sie auf diese Weise Werbung für die Opposition machen?

Das glaube ich schon wegen der genannten Summe nicht (umgerechnet ca. 275.000 Euro). Aber mal im Ernst: Natürlich bin ich mir vollständig im Klaren darüber, dass die Opposition das Ganze als Theater auffasst. Es geht ihr einzig darum, den Sitzungsleiter so gut es geht zu provozieren, um dann spannende Beiträge für die Welt der Sozialmedien präsentieren zu können. Würde ich jedoch über die skandalträchtigen Aktionen hinwegsehen, wäre das ein Negieren der Hausordnung. Über die aber habe ich gemeinsam mit den Vizepräsidenten des Parlaments zu wachen. Weder ist die Hausordnung zu streng, noch zeige ich mich zu rigoros. Manche Abgeordnete der Opposition sind einfach ungehobelt, frech und heimtückisch. Es ficht sie nicht an, dass sie mit ihrem Verhalten nicht nur sich selbst ins Lächerliche ziehen, sondern auch den Parlamentarismus an sich.

Die HVG sollte ihre Statistik getrost fortführen: Wie oft bitte schön stören Abgeordnete der Opposition Sitzungen durch Zwischenrufe und wie oft reklamiere ich dies? Da sitzen Politiker, die sich als Verteidiger der liberalen Demokratie aufspielen, die aber nicht bereit sind, abweichende Meinungen anzuhören.

Deshalb darf die Opposition aber doch zweierlei Maß monieren, wenn sich der Ministerpräsident über die Opposition lustig macht und dafür ungesühnt bleibt, wohingegen Jobbik-Chef Péter Jakab deftig zahlen muss, weil er Tamás Deutsch als einen Gecken bezeichnete.

Der Ministerpräsident ist sehr überlegt in seiner Wortwahl, Jakab aber verdiente, sanktioniert zu werden. Jemanden als geckenhaft einzuordnen, ist nun mal nicht die feine englische Art, zumal der gesamte Redebeitrag nur darauf hinauslief, Deutsch zu beleidigen.

Die letzten Sitzungstage vor der Sommerpause des Parlaments waren durch das Pro und Kontra um das neue Anti-Pädophilie-Gesetz geprägt. Wäre nicht die Einführung der chemischen Kastration der drastischste Schritt gewesen?

Tatsächlich hatten wir das erwogen, verwarfen diese Passage jedoch auf Vorschlag der Regierung. Es ging um die Behandlung von Sexualstraftätern, um Gesellschaft und Täter vor den tragischen Folgen ihrer krankhaften Triebe zu schützen, die sich anders kaum kontrollieren lassen. Die Einführung hätte allerdings komplizierte juristische und moralische Fragen aufgeworfen, auf die unsere Justiz noch nicht vorbereitet ist.

Ergänzt wurde das Gesetz jedoch um Passagen, die homosexuelle Propaganda verbieten. Sie selbst verglichen einst die Forderung gleichgeschlechtlicher Paare, Kinder adoptieren zu dürfen, mit Pädophilie. Sind Sie nun glücklich mit der neuen Rechtsnorm?

Wir haben eins der wichtigsten Gesetze der letzten zwölf Jahre verabschiedet. Damit kann ich zufrieden sein. Die EU-Spitzen sehen das wieder einmal ganz anders, für sie findet in Ungarn eine weitere Rechtsbeugung statt. Wäre ich naiv, könnte ich es damit abtun, ich wüsste nicht, wo ihr Problem liegt. Man muss sich schon anstrengen, um diesen irrationalen, immer wieder in offenen Hass umschlagenden Zorn und diese Antipathien zu verstehen, die das Gesetz bei vielen westeuropäischen Politikern auslöst. Diesen grenzenlosen Hass verspürte ich erstmals in den 1990er Jahren bei Politikern des liberalen SZDSZ. Die Erklärung lag aber wohl auf der Hand: Sie hatten ein schlechtes Gewissen, nachdem sie die Regierung des Ex-Kommunisten Gyula Horn unterstützt hatten, weil sie damit ihre eigenen Prinzipien in den Staub traten. Den Fidesz wollten sie eigentlich schon ab 1992 liquidieren, doch 1998 übernahm dieser dann erstmals Regierungsverantwortung. Und zwar als eine nach dem Verrat des SZDSZ besonders erfolgreiche, moralisch vertretbare Alternative. Diese Frustration der Liberalen erlebe ich heute wieder bei manchen westlichen Politikern.

Was meinen Sie damit?

Es liegt gar nicht so lange zurück, dass die juristische Diskriminierung der Homosexuellen in Deutschland aufgehoben wurde. Bis ins Jahr 1994 fand sich diese selbst noch im Strafgesetzbuch. Im Jahre 1957 urteilte das Bundesverfassungsgericht, ohne diese Diskriminierung würde „die Homosexuellen nichts daran hindern, die ehelichen Beziehungen zu zerrütten“. Und weiter: „…überall, wo die Sodomie zugelassen wurde, führte das zum biologischen und moralischen Verfall der Gesellschaft.“ Sie haben also keine Grundlage für die Behauptung, sie hätten die naturgegebenen und die abartigen geschlechtlichen Beziehungen schon immer als gleichwertig betrachtet. Mittlerweile haben die Konservativen in Deutschland – und praktisch in ganz Westeuropa – ihre frühere Überzeugung aufgegeben und sich vollständig vom moralischen Sockel der christlichen Kultur losgelöst. Vor einigen Jahren gestattete Angela Merkel eine Abstimmung zur Ehe für alle, die sie als Gewissensfrage deklarierte. Wenngleich sie selbst nicht für deren Einführung stimmte, wandten sich jedoch die CDU-Abgeordneten gegen ihre einst hochgehaltenen Prinzipien.

Kurz gesagt: Ich verstehe die ganze Aufregung heute nicht. Als Ungarn 1994 den Antrag auf Aufnahme in die europäische Gemeinschaft stellte, und auch, als wir 2004 dann den EU-Beitritt vollzogen, ging es nirgendwo um irgendwelche LGBTQ-Rechte, oder darum, dass diese Rechte einen Teil der grundlegenden Menschenrechte ausmachen sollen. Es konnte keine Rede sein davon, dass wir uns moralisch damit zu identifizieren und in die Umerziehung unserer Kinder einzuwilligen hätten. Und es war keine Rede davon, dass man die christliche Urbevölkerung Europas auf dem Wege der massenhaften Ansiedlung von Menschen fremder Kulturen auszutauschen versucht. Hätte man uns gleich zu Beginn damit konfrontiert, wäre die ungarische Volksabstimmung vermutlich anders ausgegangen.

Wollen Sie damit sagen, Ungarn habe keinen Platz mehr in der EU?

Ungarn bleibt solange Mitglied der Union, bis diese zusammenbricht. Es mag unglaublich klingen, aber ich war mir 1988 – bei der Gründung des Fidesz – nicht sicher, ob ich den Abzug der Russen aus Ungarn und den Zusammenbruch der Sowjetunion noch erleben werde. Oder dass es in meinem Leben wirklich freie Wahlen geben wird. Heute aber habe ich das Gefühl, dass die Europäische Union in ihrer jetzigen Form ziemlich sicher aufhören wird zu existieren. Sie entwickelt sich in Wirtschaft, Gesellschaft, Geist und Moral einfach nicht nachhaltig. Immer lauter werden die Stimmen, die Parallelen zum Niedergang des Römischen Reiches sehen.

Wir Ungarn mussten vor kaum einhundert Jahren erleben und erleiden, wie es ist, wenn die Elite eines Imperiums den Bezug zur Realität vollkommen verliert, kein Gespür mehr für die wahren Probleme und Gefühle der Regierten hat, deren Werte und Interessen außer Acht lässt. So wie in der Habsburgermonarchie geschehen. Wir drücken nicht die Daumen, dass die EU ein Ende findet – ganz im Gegenteil. Ich persönlich bin nicht davon überzeugt, dass für Ungarn besser wird, was danach kommt. Wenn man die letzten siebzehn Jahre auf die Waage legt, stellt die EU eine Konstruktion dar, welche die günstigsten Bedingungen und den größten Spielraum für die Vertretung der ungarischen nationalen Interessen bietet. Aber das trifft immer weniger zu, je aggressiver sie versuchen, ein neues atlantisches Imperium aufzuziehen.

Entweder erhebt sich die Normalität gegen den Wahnsinn, womit die Gemeinschaft zerfällt, oder die nächste Politiker-Generation versucht, von diesem Pfad abzugehen – sagten Sie vor einem halben Jahr. In welche Richtung entwickeln sich die Ereignisse?

Auf dem letzten Gipfel hat die informelle Führungsriege der EU Schritte in Richtung des Zerfalls unternommen. Es sieht ganz so aus, als ob selbst jene Politiker dem Wahn verfallen, die von Amts wegen nüchterne, wohl durchdachte Entscheidungen treffen müssten. Der Erfolg einer Politik, die sich an deklarierten Prinzipien und Werten ausrichtet, macht sie nervös. Dabei kannten sie diese Prinzipien und Werte einst selbst, lebten wohl auch danach und tun sich nun schwer mit ihrem Verrat. Sehr wahrscheinlich wurde auch der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte in einem anderen Geist erzogen. In einem Holland, dessen Parteipolitik vor vierzig Jahren noch stark von den Konfessionen geprägt war. Ganz bestimmt wollten auch seine Eltern eine Werteordnung vermitteln, doch hat er diese für seine politische Karriere hinter sich gelassen. In diesem vom liberalen Mainstream total vereinnahmten Umfeld, welches die westlichen Mitgliedstaaten der EU heute prägt, wird noch die kleinste Abweichung von der Norm hart bestraft. Da droht ein schnelles Ende der Politikerkarriere. Ich beneide diese Leute nicht.

Welche Chancen sehen Sie denn für eine Renaissance der europäischen Rechten, wie diese auch Viktor Orbán anstrebt?

Das Gesamtbild ist vielleicht doch nicht so hoffnungslos, wie ich das gerade eben dargestellt habe. Die italienische Linke wird schon wissen, warum man sich so krampfhaft an die Regierungsposition klammert, hinter der doch keine Mehrheit in der Gesellschaft steht. Die Rechte wird die Regierungsverantwortung in Italien übernehmen, ganz gleich, ob dies unter Führung von Giorgia Meloni oder von Matteo Salvini geschieht. Damit aber verschieben sich die Kräfteverhältnisse in Europa. Das Gleiche spielt sich in Frankreich ab. Dort tobt ein eskalierender Kampf zwischen Zentristen und Linksliberalen auf der einen sowie Radikalen und Nationalkonservativen auf der anderen Seite. Von diesem könnten die traditionellen Mitterechtsparteien als lachende Dritte profitieren. Die Renaissance der Rechten wird de facto schon bei den nächsten Wahlen eintreten und sich nicht an Landesgrenzen halten, sondern das politische Klima ganz Europas beeinflussen.

Ist es für den Fidesz außerhalb der Europäischen Volkspartei nun besser?

Mich hat die Trennung nicht gefreut, aber die Lage war tatsächlich untragbar. Vertreter winziger Parteien, die mit bloßem Auge nicht wahrnehmbar sind, versuchten laufend, uns zu provozieren und zu demütigen. Ohne die Rückendeckung unserer deutschen Freunde hätten sie sich das nicht gewagt. Letztere wollten keinen offenen Konflikt mit einem Mitglied der V4-Gruppe, mit der Deutschland blühende Wirtschaftsbeziehungen unterhält. Wir fanden in vielen relevanten Fragen Übereinstimmung mit der CDU/CSU, also in Fragen von Belang, nicht bei an den Haaren herbeigezogenen LGBTQ-Problemen. Wegen der innenpolitischen Verhältnisse ließen sich die Konservativen von den Linken vorführen, die das Verhältnis zur souveränen Politik eines anderen Staates zum Wahlkampfthema machten. Für die CDU/CSU ging es nur mehr darum, nicht zur Zielscheibe der Medien zu werden, deren Mitarbeiter offen zu drei Vierteln die Grünen unterstützen. So viel zur Medienvielfalt im Westen!

Mit dem Osten tut sich die Orbán-Regierung nicht so schwer. Da werden Großprojekte mit russischen und chinesischen Krediten aufgezogen. Der geplante Campus der Fudan-Universität sorgt für Widerstand. Brauchen wir diese Institution überhaupt?

Vor einem halben Jahr hätte ich die Frage unbeantwortet gelassen, aber da jetzt so ein Rummel darum gemacht wird, bin ich überzeugt, dass wir eine gute Entscheidung getroffen haben. Man kann leicht seine Fassung verlieren, wenn man die „Kritiken“ hört. Ich meine die Kritiken aus dem Ausland, denn was ein Ferenc Gyurcsány sagt, kann man gar nicht ernst nehmen. Der heutige DK-Vorsitzende kroch den Chinesen 2007 als Ministerpräsident auf dem Tiananmen-Platz noch in den Hintern. Heute warnt der gleiche Mann, Ungarn werde zur chinesischen Kolonie. Für die übrigen lamentierenden Oppositionspolitiker gilt das Gleiche: Sie handeln so, wie es ihre Auftraggeber von ihnen erwarten. Aber was ist mit jenen Ländern, deren Meinungsführer sich wegen des ungarischen Fudan-Ablegers echauffieren?

Sie machen sich lautstark Sorgen um Europas Sicherheit und wegen des wachsenden chinesischen Einflusses. Dabei sind es gerade ihre Länder, deren Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zu China prosperieren. Im Hochschulwesen haben unendlich viele westliche Universitäten institutionelle Kontakte zu chinesischen Hochschulen geknüpft. Es gibt nur eine Erklärung, warum sie überhaupt zur Sprache bringen, dass Ungarn die Fudan-Universität ins Land holen will: Was sie sich selbst erlauben, soll die ungarische Regierung ohne ihre Zustimmung nicht tun dürfen.

Der Fidesz beschreitet seit 2010 von der Wirtschaftspolitik über die Gesellschaftspolitik bis hin zur Außenpolitik unkonventionelle Wege. Dies verstört jene westlichen Politiker, die sich an die willfährige postkommunistische Garnitur im Osten gewöhnt hatten. Das gilt besonders bei Interessenkonflikten. In der Vergangenheit hat die Führungselite dieser westeuropäischen Länder die Mittelosteuropäer übrigens nie für voll genommen.

Der Westen hat diese Region immer nur als Beutegebiet angesehen – mit Ausnahme des Königreichs Ungarn, das man bis Trianon notgedrungen akzeptierte. Polen wurde dreimal aufgeteilt, ohne irgendwelche moralischen oder zivilisatorischen Bedenken. Obendrein geschah das regelmäßig mit einem als „barbarisch“ betrachteten, halbasiatischen Russland. Die vierte Annexion machten das Dritte Reich und die Sowjetunion untereinander aus. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden Polens Grenzen zweihundert Kilometer westwärts verschoben. Urpolnische Gebiete fielen den Sowjets zu, die Polen erhielten wiederum als Entschädigung die deutschen Ostgebiete. Millionen vertriebene Polen wurden dort angesiedelt, wo die Deutschen gehen mussten. Letztlich überließ der Westen ganz Mittelosteuropa Stalin, was die Völker dieser Region quasi einem Kolonialherrn zuordnete.

Wenn wir also vom moralischen Niedergang der EU-Eliten sprechen, muss man den Zweiten Weltkrieg als Ausgangspunkt verstehen. Damals verbündete sich der Westen gegen den Satan mit dem Beelzebub, und dieses Dilemma ist bis heute nicht verdaut. Und jedes Mal, wenn wir ihnen diesen Spiegel vorhalten, wenn wir mit der Stimme freier, unabhängiger Völker auftreten, verstoßen wir gegen eine Weltordnung, die von ihrem Primat handelt. Wenn ich mich recht entsinne, handelte die EU-Erweiterung einst von der „Wiedervereinigung“ Europas, nicht von der Annexion Mittel- und Osteuropas.

Im vorigen Jahr sagten Sie, die Parlamentswahlen 2022 werden kein Spaziergang. In Brüssel und in Übersee werden enorme Kräfte aktiviert, um den Ausgang der Wahlen zu beeinflussen. Was meinten Sie damit?

Wir müssen uns auf alles vorbereiten. Berlin und Washington haben bereits Bedarf angemeldet, sich über die Öffentlichkeit – denken wir nur an die ungarischsprachigen Sendungen von Deutscher Welle und Free Europe – in die ungarische Innenpolitik einzumischen. Dieses Prinzip und die damit einhergehende Logik und Arroganz stimmen nachdenklich. Was würden wohl die USA sagen, wenn etwa die V4-Gruppe bekanntgäbe, einen Radiosender für Amerika zu starten. Man würde uns mit dieser Idee zum Teufel jagen. In Deutschland würde man verschnupft auf die Stimme der „Ungarischen Welle“ reagieren, die den Deutschen erzählt, was wir von den Zuständen in diesem Land halten: von der an Diktaturen erinnernden Unterdrückung der Meinungsfreiheit, von Irrationalität und Doppelzüngigkeit der Energiepolitik, von der närrischen Rolle, die Deutschland – noch immer – spielt, um für lange zurückliegende Verbrechen zu büßen, indem man sich zum Vorkämpfer des extremen Liberalismus erklärt. Das Tragische ist, dass die Deutschen auch heute wieder mit dem gleichen blinden Fanatismus zur Sache gehen, wie in jenen Zeiten, die sie eigentlich vergessen machen wollten.

Verschiedene Dienste sind außerordentlich intensiv in Ungarn präsent. Sie werden kein Mittel scheuen, selbst wenn es illegal ist, um die Positionen der Regierungsparteien zu schwächen. Seit dem berüchtigten Fünfpunkteplan von Charles Gati zum Sturz des Fidesz aus dem Jahre 2012 machen sie kein Geheimnis mehr daraus.

Die Sexskandale von Zsolt Borkai und József Szájer haben gelinde gesagt kein gutes Licht auf den Fidesz geworfen. Wie würden Sie den moralischen Zustand Ihrer Partei einschätzen?

Was mit dem Oberbürgermeister von Győr geschah, hat uns alle betroffen gemacht. Durch seine nicht durchdachten und moralisch unakzeptablen Handlungen machte Zsolt Borkai ein Lebenswerk zunichte. (Der verheiratete Borkai wurde auf einer Yacht gefilmt, als er sich gerade über eine Prostituierte hermachte. / Anm.d.Red.) Aus seinem Blickwinkel ist das eine Tragödie, und jeder normale Mensch wird ihm dafür nicht mit Schadenfreude begegnen, sondern ihn bedauern. Im Falle von József Szájer verhält es sich ähnlich. Es ist schier unerklärlich, was in ihn gefahren sein musste, um so etwas zu tun. (Der Europaabgeordnete flog bei einer homosexuellen Sexorgie in Brüssel auf, die wegen des Corona-Notstands zudem illegal war. / Anm.d.Red.) Diese Tat war politisch schädlich für den Fidesz. Dessen ungeachtet respektiere ich die langjährigen Leistungen von Szájer als Abgeordneter, seine Rolle bei der politischen Systemwende und später als Jurist.

Diese Ohrfeigen haben aber auch positive Effekte mit sich gebracht. Wir mussten mit einem Dilemma fertigwerden, der Frage des Umgangs mit Leuten aus unseren eigenen Reihen, die das Gesetz oder moralische Normen gebrochen haben. Bloß gut, dass wir noch moralische Normen als Richtschnur besitzen! Es gibt mehrere Politiker der Linken, die sich ähnliche Delikte zuschulden kommen ließen. Nach wenigen Monaten im Abseits kehrten sie im Stile des früheren Ministerpräsidenten Gyula Horn zurück, der bei der Revolution 1956 auf junge Aufständische schoss und darauf nach der Wende angesprochen nur meinte: „Na und?“

Wäre der Fidesz nicht gut beraten, nach zwölf Jahren an der Regierung in die Opposition zurückzukehren?

Dem Fidesz könnte diese Rolle – zur Erholung – guttun, dem Land sicher nicht. Die jetzige Opposition hat keinerlei Vorstellungen, wie sie regieren will. Ihre markigen Ansagen sind für die Wähler bestimmt, widersprechen sich aber immer wieder. Jeder darf in diesem Witzbündnis Aussagen tätigen, die genau auf die eigene Wählergruppe zugeschnitten sind. Sie vertrauen darauf, dass sie diese Wählerlager am Ende einfach addieren können. Wie daraus eine Wählermehrheit, geschweige denn eine regierungsfähige Kraft im Parlament entstehen soll, ist mir aber schleierhaft.

Jeder, der diese Leute vor 2010 regieren sah, weiß aus eigener Erfahrung, woran er ist. Aber wir brauchen gar nicht mehr so weit zurückzureisen auf der Zeitleiste. In jenen Städten, wo die Opposition die Kommunalwahlen vom Herbst 2019 gewann, jagt ein Skandal den anderen, reiben sich die „Bündnisparteien“ im internen Machtkampf auf, werden die von ihren Vorgängern erwirtschafteten Reserven aufgebraucht. Gewissermaßen als Ersatzhandlungen lassen sie sich die verrücktesten Ideen einfallen, von der BLM-Statue aus Plastik in Regenbogenfarben über sogenannte Bienen-Wiesen bis zu Radwegen, die einfach auf den Asphalt gepinselt werden und somit noch mehr Staus in Budapest provozieren. Natürlich können sich die Wähler auch für diese Alternative entscheiden, die Demokratie ist nun mal eine gefährliche Kiste. Nichtsdestotrotz haben die Ungarn nach 2010 auch 2014 und 2018 klar und unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass sie vom Amoklauf der Gyurcsány-Regierung ein für alle Mal genug haben. Im linken Lager, das auch 2022 wieder von Ferenc Gyurcsány angeführt wird, hat sich rein gar nichts verändert.

Worin müsste sich eine eventuell wiedergewählte Fidesz-Regierung von der heutigen unterscheiden?

Jede Legislaturperiode birgt andere Her­ausforderungen. Im Jahre 2018 konnten wir das Coronavirus nicht voraussehen, genauso wenig wie 2014 die Invasion der Migranten. Letztere Herausforderung bleibt ungelöst, solange die EU nicht bereit ist zu einer klaren Ansage. Diese lautete – im Einklang mit dem Standpunkt der V4 –, die als Auslöser der Migration identifizierten Probleme an ihrem Ursprungsort anzupacken und die Außengrenzen der Gemeinschaft zu schließen. Nach dem Auszug der Amerikaner aus Afghanistan können wir nur noch beten, dass nicht neuerlich Menschenmassen nach Europa flüchten.

Aber auch das Coronavirus wird wohl nicht mehr aus unserem Leben verschwinden, vielmehr müssen wir uns auf regelmäßig wiederkehrende Pandemien einstellen. Der liebe Gott hat schon einen feinen Humor: Endlich konnte Ungarn nach einem Jahrhundert zu sich finden, unser Land erlebte ab 2010 eines der erfolgreichsten Jahrzehnte seiner Geschichte, da fällt die Welt um uns herum in sich zusammen. Nicht von ungefähr ist die Bedeutung der ungarischen Politik über jene Rolle hinausgewachsen, die sich aus der Größe und dem internationalen Gewicht des Landes eigentlich ableiten ließe.

Es wird gemunkelt, Sie gehörten beim Fidesz zu den Anwärtern auf das Amt des Staatspräsidenten. Würden Sie gerne ins Sándor-Palais wechseln?

Der Fidesz ist für viele äußere Betrachter ein merkwürdiges Konstrukt, das sich nur schwer deuten lässt. Ein Grund dafür ist, dass unsere Spitzenpolitiker ab einem gewissen Niveau fast ausnahmslos den Ehrgeiz vermissen lassen, um hohe Ämter zu buhlen. Das zeigte sich gleich bei der ersten Übernahme von Regierungsverantwortung 1998. Schon damals ging es nicht darum, wen man verdrängen musste, um einen Ministerposten besetzen zu können. Für uns stellte sich die Frage so, wer am besten geeignet sei, diese Aufgabe zu meistern.

Das Mandat von Staatspräsident János Áder läuft erst Anfang 2022 aus, noch ist die Zeit für offizielle Kandidaturen nicht reif. Würde man mich zum rechten Zeitpunkt hinsichtlich meiner Ambitionen fragen, hielte sich meine Begeisterung gewiss in Grenzen. Freilich hat sich auch mein Freund János nicht um das Amt geschlagen. Er hat es aber schließlich doch angenommen, weil er dies als seine Pflicht verstand, die es zu erfüllen gilt. Das trifft für die meisten in unserem Fidesz-Bund zu: Wir drücken uns nicht vor der Verantwortung. Aber wie gesagt, sehe ich die Zeit für solche Gedankenspiele nicht gekommen.

Dieser Beitrag erschien zuerst bei MANDINER und danach in deutscher Übersetzung von Rainer Ackermann bei der BUDAPESTRER ZEITUNG.

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