Inter­view über die Migran­ten­krise in Weißrussland

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Von Lionel Baland
 

Lionel Baland inter­viewte Olivier Bault für Breizh-Info über die Situa­tion an den west­li­chen Grenzen von Weiß­russ­land, einem Land, das nicht­eu­ro­päi­sche Migranten nach Lett­land, Litauen und Polen schickt.

Wie ist die Lage an den östli­chen Grenzen der Euro­päi­schen Union? Wie reagieren die Regie­rungen von Lett­land, Litauen und Polen auf den Zustrom außer­eu­ro­päi­scher Migranten aus Weiß­russ­land? Warum verhält sich dieses Land in dieser Weise gegen­über seinen EU-Nachbarn?

Als die Euro­päi­sche Union als Reak­tion auf die Repres­sionen nach den Präsi­dent­schafts­wahlen im vergan­genen Jahr Sank­tionen gegen das weiß­rus­si­sche Regime verhängte, kündigte Alex­ander Lukaschenko im Mai an, dass er Migranten, die sein Hoheits­ge­biet durch­queren, nicht mehr aufhalten werde und dass es Aufgabe seiner west­li­chen Nach­barn sei, sie aufzu­fangen. Tatsäch­lich hat Weiß­russ­land aber aktiv versucht, so viele Menschen wie möglich aus dem Nahen Osten ins Land zu holen und sie an seinen west­li­chen Grenzen abzu­laden. Seit diesem Jahr gibt es viel mehr Flüge zwischen dem Irak und der weiß­rus­si­schen Haupt­stadt Minsk, und die Grenze zwischen Weiß­russ­land und der Euro­päi­schen Union wird als frei zugäng­lich darge­stellt. Nach Angaben mehrerer Medien, die entspre­chende Ange­bote verbrei­teten, bietet ein weiß­rus­si­sches Unter­nehmen in Zusam­men­ar­beit mit iraki­schen Reise­büros Reisen an, die Flug, Hotel­un­ter­kunft in Minsk und Busfahrt zur Grenze umfassen. Die Litauer und die euro­päi­sche Agentur Frontex haben auch Lukaschenkos Armee und Polizei beschul­digt, diese Migranten zur Grenze zu begleiten und in einigen Fällen sogar mit ihnen die Grenze zu über­queren. Litauen war das erste Land, das davon betroffen war, und versuchte zunächst, die Migranten aufzu­nehmen, was jedoch zu Problemen führte, und Vilnius erkannte bald, dass dies die Migranten nur noch mehr anspornte. Die Litauer haben daher begonnen, Asyl­an­träge sehr schnell zu bear­beiten, indem sie Ableh­nungen ausspre­chen und gleich­zeitig Migranten an der Grenze zurück­weisen, und errichten nun einen Zaun nach dem Vorbild des 2015 von Ungarn errich­teten Zauns. Da die Migranten von Litauen abge­wiesen wurden, wurde der Strom nach Lett­land und Polen umge­leitet, die in glei­cher Weise wie Litauen reagieren, d. h. sie weisen die Migranten an Ort und Stelle ab, ohne über­haupt einen Asyl­an­trag zu stellen, und errichten Zäune, um die Durch­reise zu erschweren, Denn es liegt auf der Hand, dass wir, wenn uns gesagt wird, dass seit Anfang des Jahres mehr als 4000 Grenz­über­tritts­ver­suche an der Grenze zwischen Weiß­russ­land und Litauen und etwa die gleiche Zahl an der Grenze zwischen Weiß­russ­land und Polen regis­triert wurden, nicht wissen, wie vielen der Grenz­über­tritt gelungen ist.

Haben diese drei Länder beschlossen, ihre Maßnahmen gegen diese ille­galen Migra­ti­ons­ströme zu koor­di­nieren? Schi­cken andere Länder ihnen Hilfe? Wie reagiert die EU darauf?

Die Regie­rungen der beiden betrof­fenen balti­schen Repu­bliken und Polens sind mehr­fach zusam­men­ge­kommen, um dieses Problem zu erör­tern, und sie verfolgen die gleiche Stra­tegie. Es scheint also eine Form der Koor­di­nie­rung zwischen ihnen zu geben, auch wenn jeder von ihnen auf seinem Teil der EU-Außen­grenze allein handelt. In Litauen hat Frontex nur eine Beob­ach­ter­rolle, während die EU-Agentur in Polen nicht einmal an der Grenz­über­wa­chung betei­ligt ist. Die Tsche­chi­sche Repu­blik kündigte am 7. September einen kleinen finan­zi­ellen Beitrag zum Bau des litaui­schen Zauns an. Es war das erste Land, das auf einen Aufruf von Vilnius reagierte. Was die EU betrifft, so unter­stützt die Kommis­sion dieses Mal zumin­dest münd­lich die Grenz­schutz­be­mü­hungen dieser drei Länder, anders als 2015 bei Ungarn, das nichts anderes tat. Der Kommissar für Inneres, ein schwe­di­scher Sozi­al­de­mo­krat mit einer eher „einwan­de­rungs­feind­li­chen“ Sensi­bi­lität, hatte sich bereits im Früh­jahr 2020, als die Türkei einen groß ange­legten Migra­ti­ons­an­griff auf Grie­chen­land star­tete, nur mäßig kritisch geäu­ßert. Grie­chen­land hatte bereits nach dem unga­ri­schen Modell reagiert, und jetzt zeigt sich, dass dies sehr wirksam war. Heute versi­chert uns Ylva Johansson, dass es sich bei den Gescheh­nissen an der polni­schen Grenze nicht um eine Migra­ti­ons­krise, sondern um eine Aggres­sion seitens Weiß­russ­lands handelt, und wenn die Kommis­sion Polen schon in allen Berei­chen angreift, so scheint sie es zumin­dest in dieser Frage zu unterstützen.

Wie reagiert Weiß­russ­land auf die Reak­tion Lett­lands, Litauens und Polens?

Unter dem Eindruck der Sank­tionen und seiner Isolie­rung im Westen scheint Alex­ander Lukaschenko die Annä­he­rung an Russ­land fort­zu­setzen, der er sich bisher wider­setzt hat. Neben den laufenden russisch-weiß­rus­si­schen Manö­vern im Rahmen von Zapad 2021, die nicht zum ersten Mal statt­finden, haben Minsk und Moskau gerade mehrere Abkommen zur Inte­gra­tion ihrer Energie- und Finanz­märkte unter­zeichnet. In diesem Sinne kann man sagen, dass die Verhän­gung von Sank­tionen und der Abbruch der Bezie­hungen zu Minsk nicht unbe­dingt eine sehr kluge Politik seitens des Westens war, und noch weniger seitens der Litauer und Polen, die in dieser Frage eine Vorrei­ter­rolle gespielt haben. Was diese Migranten betrifft, so behaupten die Weiß­russen, dass die an der Grenze blockierten Gruppen von polni­schen Grenz­schutz­be­amten zurück­ge­bracht wurden, nachdem sie auf polni­schem Gebiet aufge­griffen worden waren. Dies wird auch von einigen NGOs und Vertre­tern der Oppo­si­tion in Polen selbst behauptet, und man kann der polni­schen Regie­rung keinen Vorwurf machen, wenn dies der Fall ist, denn es war Weiß­russ­land, das sie ins Land gebracht hat. Doch seit einigen Wochen schläft eine Gruppe von etwa 30 Migranten in Zelten am Rande eines Waldes kurz vor der polni­schen Grenze, was die Medien und einige Oppo­si­ti­ons­po­li­tiker zu nutzen versu­chen, um die polni­sche Regie­rung zum Einlenken zu bewegen. Vor ihnen stehen polni­sche und hinter ihnen weiß­rus­si­sche Grenz­sol­daten, die sie an der Umkehr hindern, sie aber mit Nach­schub versorgen. Um seine Grenze besser kontrol­lieren zu können, hat Polen gerade den Ausnah­me­zu­stand über seine gesamte Grenze zu Weiß­russ­land verhängt, so dass NGOs und Jour­na­listen keinen freien Zugang mehr haben. In jedem Fall hat die Kommu­ni­ka­ti­ons­maß­nahme für diese Gruppe von Migranten nicht funk­tio­niert. Umfragen zeigen, dass die Mehr­heit der Polen die Maßnahmen ihrer Regie­rung zur Vertei­di­gung der Grenze gegen ille­gale Einwan­de­rung unter­stützt, und diese Unter­stüt­zung geht weit über die Wähler­schaft der PiS, die jetzt an der Macht ist, hinaus.

Haben sich die Bezie­hungen zwischen Weiß­russ­land und den drei anderen betrof­fenen Ländern aufgrund dieser Situa­tion verschlech­tert? Hat sich diese Ände­rung auf die Einwan­de­rung bela­rus­si­scher und ukrai­ni­scher Bürger nach Polen ausgewirkt?

Was die Grenze zur Ukraine betrifft, so hat sich nichts geän­dert. Ledig­lich an der Grenze zu Weiß­russ­land herrscht der Ausnah­me­zu­stand und die Armee ist zur Unter­stüt­zung des Grenz­schutzes verstärkt worden. Die regu­lären Über­gangs­stellen bleiben jedoch geöffnet. Die Einwan­de­rung aus Weiß­russ­land wurde durch das harte Vorgehen nach den Wahlen im Jahr 2020 ange­kur­belt, aber die Ukraine ist nach wie vor die bei weitem größte Einwan­de­rungs­quelle nach Polen, und wie bei den Weiß­russen handelt es sich dabei haupt­säch­lich um Wirt­schafts­flücht­linge, auch wenn es jetzt ein paar mehr poli­ti­sche Flücht­linge gibt. Die Bezie­hungen zwischen den balti­schen Ländern und Polen einer­seits und Weiß­russ­land ande­rer­seits sind nicht gut, und es liegt auf der Hand, dass der von Weiß­russ­land orga­ni­sierte Migra­ti­ons­an­griff auf diese drei Länder der Sache nicht zuträg­lich ist. Tatsäch­lich richtet sich dieser Angriff gegen die gesamte EU, denn die meisten dieser Migranten haben nicht die Absicht, in Polen oder in einem balti­schen Land zu bleiben. Aber die Reak­tion dieser drei Länder ist zwei­fellos richtig. Wenn Lukaschenko mit diesen Einwan­de­rern konfron­tiert wird, wird er keine weiteren aus dem Nahen Osten mehr aufnehmen wollen.

Wie reagiert die Bevöl­ke­rung auf dieses neue Dilemma?

In Wirk­lich­keit ist die Bevöl­ke­rung nicht betroffen, zumin­dest in Polen, denn dank der Entschlos­sen­heit der polni­schen Behörden konnten nur wenige dieser Migranten das Land passieren, und dieje­nigen, die es geschafft haben, konnten wahr­schein­lich mit Hilfe von Schmugg­lern das Land durch­queren, um weiter nach Westen zu gelangen. In Litauen gab es Proteste, als die Regie­rung in einer Stadt mit nur wenigen hundert Einwoh­nern, von denen die meisten eben­falls der polni­schen Minder­heit ange­hörten, ein Zentrum für tausend Migranten einrichten wollte. Aber wie ich bereits sagte, hat die litaui­sche Regie­rung ihre Stra­tegie geän­dert und schiebt nun so viele dieser Migranten wie möglich ab, weshalb sie ihr Glück woan­ders versu­chen, beispiels­weise an der polni­schen Grenze.

Profi­tiert die polni­sche konser­va­tive Regie­rung von der neuen Situa­tion in der öffent­li­chen Meinung?

Insge­samt gesehen, ja. Sie profi­tiert von einem leichten Anstieg der Umfra­ge­werte, und die Haltung der Oppo­si­tion, die zur Aufnahme dieser Migranten aufruft, ist eher unpo­pulär, auch in ihrer eigenen Wähler­schaft. Infol­ge­dessen nähert sich die PiS, die in den Umfragen nur bei etwa 30 % lag und damit einige Punkte vor der Bürger­platt­form (PO) von Donald Tusk, die keine Migranten gefor­dert hat, der 35 %-Marke, während die PO leicht rück­läufig ist. Die Politik der PiS gegen den Covid und ihre Vorschläge für Wirt­schafts­re­formen nach dem Covid sind weit davon entfernt, einhellig unter­stützt zu werden, während der Kampf gegen die ille­gale Einwan­de­rung außer­eu­ro­päi­scher, musli­mi­scher Herkunft ein wich­tiges Thema in diesem Teil Europas ist, der mit Sorge die Auswir­kungen der Massen­ein­wan­de­rung auf den west­li­chen Teil des Konti­nents beobachtet!

Olivier Bault ist ein fran­zö­si­scher Jour­na­list, der seit den 1990er Jahren in Polen lebt und für Do Rzeczy, Présent, die Visegrád Post und Remix News arbeitet.

Dieser Beitrag erschien zuerst bei BREIZH-INFO, unserem Partner in der EUROPÄISCHEN MEDIENKOOPERATION.


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