Litauen: Die Flut der Ille­galen ist der Preis für die Kurz­sich­tig­keit der Politiker

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Von Olava Strikulienė
 

Die Gesamt­länge der litau­isch-weiß­rus­si­schen Grenze beträgt 678,8 km. Durch sie – leer oder einfach zu durch­lässig – kommen jetzt die ille­galen Migranten. Jeden Tag Hunderte von ihnen. Aber hier ist das Selt­same: Seit Beginn der Unab­hän­gig­keit waren im Natio­nalen Sicher­heits­aus­schuss des Seimas und später im Natio­nalen Sicher­heits- und Vertei­di­gungs­aus­schuss (NSD) viele Patrioten vertreten, darunter der ehema­lige Vertei­di­gungs­mi­nister und sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Minis­ter­prä­si­dent Gediminas Kirkilas, der jetzige Abge­ord­nete des Euro­päi­schen Parla­ments und ehema­lige Vertei­di­gungs­mi­nister Rasa Jukne­vičienė und der Abge­ord­nete des Euro­päi­schen Parla­ments und Vertei­di­gungs­mi­nister Juozas Olekas, aber niemand hat die Grenze zu Weiß­russ­land jemals als bedroh­lich empfunden.

Man kann nicht sagen, dass die Grenze zu Weiß­russ­land völlig unge­schützt ist. Das Gesetz über die Staats­grenze und ihren Schutz sieht einen 5 km langen Grenz­ab­schnitt von der Grenz­linie bis zum litaui­schen Staats­ge­biet vor. Außerdem gibt es einen 5 m breiten Grenz­streifen – eine Lich­tung, die gemäht und gerodet wurde und dem Aufzeigen der Fußspuren von Grenz­ver­let­zern dient. Es gibt auch Über­wa­chungs­ka­meras, die früher die nach Litauen über­wech­selnden Tiere aufzeich­neten, jetzt aber die ille­galen Migranten erfassen. Es gibt auch Grenz­posten. Aber ist dies ein ausrei­chender Schutz? Jetzt, wo die Ille­galen zu Hunderten ins Land strömen, müsste Litauen Zäune errichten, die schät­zungs­weise mehrere hundert Millionen Euro kosten würden. Aber warum hat sich vorher niemand für eine Mauer interessiert?

Vytautas Bakas, ehema­liger Vorsit­zender des Seimas-Ausschusses für natio­nale Sicher­heit und Verteidigung:

„Im Jahr 2016 haben wir die NSGC darauf hinge­wiesen, dass nur 30 % der Grenze geschützt sind. Wir haben vier öffent­liche und private Sitzungen zu diesem Thema abge­halten. In den letzten Jahren wurde die Grenze zum Kali­nin­grader Gebiet der Russi­schen Föde­ra­tion verstärkt, da dort die Mili­tär­übung Zapad statt­fand (14.–20. September 2017 – Anm. d. Red.). Das aktu­elle Ergebnis ist ein großer Fort­schritt. Die Seegrenze und die Grenze zu Russ­land sind voll­ständig und zu 100 % gesichert.

Die Zapad-Übung fand aber auch auf weiß­rus­si­schem Gebiet statt. Die „Isolie­rung“ Litauens von Weiß­russ­land birgt jedoch noch weitere Kurio­si­täten. So ist Litauen beispiels­weise 2004 der Euro­päi­schen Union beigetreten, doch die Doku­mente über den Grenz­ver­lauf zwischen Litauen und Weiß­russ­land wurden erst am 2. Februar 2007 unter­zeichnet. Dies bedeutet, dass die EU etwa drei Jahre über­haupt keine östliche Außen­grenze hatte. Und es gibt immer noch keinen Grenz­zaun. Warum?

„Wir wollten nicht, dass Weiß­russ­land von der demo­kra­ti­schen Welt abge­schnitten wird“, erklärte Bakas, „deshalb gab es keinen physi­schen Grenzbau. Es gab keine radi­kale Entschei­dung, eine physi­sche Mauer zu errichten, weder jetzt noch damals“.

Er sagt, er sei sich nicht sicher, ob es sich lohne, jetzt eine physi­sche Mauer zu bauen. „Ich bin mir nicht sicher. Man kann die tech­ni­schen Maßnahmen verviel­fa­chen, aber Litauen kann es wirt­schaft­lich nicht allein schaffen. Das würde Hunderte von Millionen kosten, also muss es auf EU-Ebene beschlossen werden. Als ich den Vorsitz im NSGC inne­hatte, beauf­tragten wir die dama­lige Regie­rung und insbe­son­dere den Innen­mi­nister Eimutis Misiūnas, mit der EU über die Finan­zie­rung der Grenz­si­che­rung mit EU-Mitteln zu verhan­deln. Meiner Meinung nach ist es möglich, die Grenz­frage wirk­lich zu lösen, wenn die EU ausrei­chend Unter­stüt­zung bietet.

Nach Angaben des Finanz­mi­nis­te­riums erhielt das Innen­mi­nis­te­rium, dem der staat­liche Grenz­schutz unter­steht, allein im Jahr 2020 249 Millionen Euro Unter­stüt­zung von der EU und anderen inter­na­tio­nalen Insti­tu­tionen, und in diesem Jahr werden es 246 Millionen Euro aus denselben Quellen sein.

„Wir erhalten das Geld“, stimmte Bakas zu, „aber es ist nicht die Art von Geld, mit der man tech­ni­sche Über­wa­chungs­maß­nahmen an der gesamten Grenze instal­lieren kann. Ja, wir erhalten Hilfe, aber wir spre­chen nicht von ein paar Millionen, sondern von viel größeren Summen. Außerdem spricht auf EU-Ebene niemand über eine physi­sche Grenze zu Weißrussland.

Viel­leicht denkt niemand in Litauen an die Möglich­keit, dass Groß­mütter, die Ziga­retten aus Weiß­russ­land schmug­geln, problemlos eine äußerst durch­läs­sige Grenze passieren könnten? Nein, es stellt sich heraus, dass Groß­mütter nicht das Wich­tigste sind. Der größte Teil des Schmug­gels wird per LKW und Bahn abgewickelt.

Sagt es uns aber nichts, dass der unga­ri­sche Minis­ter­prä­si­dent Viktor Orbán den Zustrom ille­galer Einwan­derer im Jahr 2015 nur durch den Bau einer Mauer an der Grenze zwischen Ungarn und Serbien stoppen konnte?

Bakas erklärte, dass er kein Orbán-Anhänger ist. „Ich bin kein Befür­worter von Aktionen, die die EU stören. Das Haupt­ziel besteht darin, das Werte­system der EU zu erhalten. Wir können uns nicht so verhalten, wie es die Regime von Lukaschenko und Putin von uns erwarten. Im Vergleich zu Südeu­ropa ist die ille­gale Einwan­de­rung in Litauen nicht so stark ausge­prägt. Es ist nur wichtig, dass die Probleme nicht intern entmensch­licht werden und nicht poli­ti­siert werden. Es gibt ja gewisse Diskus­sionen im Lande: Wenn der Bürger­meister einer anderen Partei ange­hört, wird ihm nicht mehr vertraut. Wir müssen die Frage der Einwan­derer völlig entpo­li­ti­sieren. Der Schlüssel zur Lösung liegt nicht in Litauen, sondern in Brüssel. Ich glaube nicht, aber ich bin mir absolut sicher, dass wir dieses Problem lösen werden“, schlug Bakas vor, nicht zurück, sondern nach vorne zu schauen.

Es gab andere Prioritäten

Saulius Skver­nelis, Oppo­si­ti­ons­führer im Seimas und ehema­liger Minis­ter­prä­si­dent, sagt, dass der Grenz­schutz in der Vergan­gen­heit nicht das wich­tigste Thema war, weil andere, ererbte Probleme gelöst werden mussten: „Sehen Sie, der litaui­sche Staat hatte schon immer ein breites Spek­trum an Sicher­heits­ver­pflich­tungen. Als die Konser­va­tiven das Land über­nahmen, gab der litaui­sche Staat nur 0,7 % seines BIP für die Vertei­di­gung aus. Es gab leere Mili­tär­ein­heiten und veral­tete Ausrüs­tung. Daher mussten sowohl die Vorgän­ger­re­gie­rung von Algirdas Butke­vičius als auch unsere Regie­rung entspre­chende Entschei­dungen treffen. Es mussten Prio­ri­täten gesetzt werden. In erster Linie geht es darum, die Kapa­zi­täten der Armee wieder­her­zu­stellen und die Grenze zu Russ­land zu verstärken.

Aller­dings, so der ehema­lige Premier­mi­nister, sei auch die Grenze zu Weiß­russ­land mit Geldern der EU moder­ni­siert worden.

„Viel­leicht hätte der Zaun schon vor 30 Jahren gebaut werden sollen“, stimmte Skver­nelis zu, „aber die Grenze zu Weiß­russ­land wurde schritt­weise mit Bewe­gungs­mel­dern und Über­wa­chungs­ka­meras moder­ni­siert. Das hilft nicht, wenn Migranten die Grenze aus einem unzi­vi­li­sierten Land über­schreiten, das das Völker­recht nicht respek­tiert. Die Außen­po­litik muss koor­di­niert werden.“

Nach Angaben des staat­li­chen Grenz­schutz­dienstes sind derzeit nur zwei Fünftel der Grenze zu Weiß­russ­land durch ein Über­wa­chungs­system – Kameras, Sensoren, Wärme­bild­ka­meras – „abge­deckt“. Sie wird an den am meisten gefähr­deten Stellen instal­liert, und das Geschehen dort kann rund um die Uhr über­wacht werden. Drei Fünftel der Grenze sind jedoch nur durch einen Streifen mit Fußab­drü­cken „geschützt“, der von Grenz­sol­daten mit Hunden patrouil­liert wird.

Skver­nelis weist Andeu­tungen zurück, wonach die weiß­rus­si­sche Grenze im Inter­esse des Schmug­gels absicht­lich durch­lässig gehalten wurde: „Wer sagt, die Grenze sei durch­lässig, sagt nicht die Wahr­heit. Es wurde sowohl durch tech­ni­sche Mittel als auch durch physi­sche Kapa­zi­täten geschützt. Der Schmuggel erfolgt nicht haupt­säch­lich über die grüne Grenze, sondern über die Grenz­über­gangs­stellen. Die Grenze müsste schon jetzt nicht gegen Ille­gale bewacht werden, wenn das Land auf der anderen Seite der Grenze das Völker­recht aner­kennen würde.“

Wenn sie es nicht sehen wollten, haben sie es nicht gesehen

Auf die Frage, warum die Poli­tiker so viele Jahre lang nicht bemerkt hätten, dass die Grenze zu Weiß­russ­land durch­lässig sei, antwor­tete der ehema­lige Leiter des Minis­te­riums für Staats­si­cher­heit (DSS), Gediminas Grina:

„Es geht nicht darum, etwas zu bemerken, sondern darum, etwas bemerken zu wollen. Offenbar hat das niemanden inter­es­siert. Poli­tiker sehen nur Inter­essen, wo sie sie sehen. Das Gleiche gilt für die Finan­zie­rung der Armee. Wenn etwas passieren würde, würden sie sagen – oh, wie schlimm. Dies sind Fragen der natio­nalen Sicher­heit, und je nachdem, wie sie behan­delt werden, haben wir das Ergebnis, das wir haben. Probleme, die nicht recht­zeitig erkannt werden, kehren später als Bume­rang zurück. Die Menschen stellen sich vor, dass alles normal ist, bis der Ärger kommt“.

Zäune sind nicht die Lösung

Nach Ansicht von Jurgis Jurgelis, der in den Jahren 2004–2005 den staat­li­chen Grenz­schutz­dienst leitete, war der bishe­rige litau­isch-weiß­rus­si­sche Grenz­schutz für eine normale inter­na­tio­nale Situa­tion geeignet.

„Wir hätten eigent­lich keine andere Grenze gebraucht“, so Jurgelis. „Zunächst einmal müssen wir wissen, wovor wir uns mit dieser Grenze schützen wollten. Weiß­russ­land ist kein beson­ders netter Nachbar, hier finden mili­tä­ri­sche Manöver statt, aber eine Mauer schützt nicht vor mili­tä­ri­schen Bedro­hungen. Panzer fahren durch sie hindurch. Spione werden nicht über die Grenze gehen. Dafür gibt es jetzt das Internet, Computer, diplo­ma­ti­sche Dienste“.

Ja, er stimmte zu, die Grüne Mauer war früher für den Schmuggel geeignet.

„Zu meiner Zeit gab es Tausende von Straßen. Ein Teil des Schmug­gels fand auf den rutschigen Wald­wegen statt. Wenn ihre Autos stecken blieben, fingen wir sie auf. Wenn nicht, haben wir es nicht getan. Der größte Teil des Schmug­gels läuft über Auto­straßen und Zoll­stellen. Er ist der Meinung, dass die Poli­tiker nicht zuge­stimmt hätten, wenn die Grenz­schutz­be­amten 10 Millionen für die Sper­rung der Grenze verlangt hätten.

Und die derzei­tige Migra­tion, so Jurgelis, hätte von unseren Poli­ti­kern vorher­ge­sagt werden können, die begonnen haben, aktive Sank­tionen gegen das Lukaschenko-Regime zu verhängen.

„Wir sank­tio­nieren Minsk, Minsk sank­tio­niert uns“, sagte der ehema­lige Leiter des SSSS, „wir sind unglück­lich, wir sagen, es ist unge­recht, es ist unge­setz­lich, aber jede Aktion hat eine Auswir­kung. Es war klar, dass dies Lukaschenkos Denk­weise ist, und er tut es auch. Das hätte die Vorher­sage der Poli­tiker sein müssen. Wir haben hier ein poli­ti­sches Problem – einen Konflikt mit dem Osten, mit Weiß­russ­land. Migranten sind nicht nur ein Problem für Litauen, sondern für die ganze Welt. Wir wissen nicht, wie sie in die Euro­päi­sche Union gelangen. Ich wurde einmal von einem auslän­di­schen Experten gefragt, was wir tun würden, wenn eine halbe Million Chinesen an der Grenze landen würden. Ich dachte, es sei eine Anek­dote, doch jetzt weiß ich nicht, wie viele Migranten durch eine physi­sche Grenze aufge­halten werden würden. Sie werden Leitern mitbringen, und wenn sie sich beim Über­klet­tern verletzen, werden wir sie zur Behand­lung ins Kran­ken­haus bringen. Nach EU-Recht sind wir verpflichtet, Asyl­be­werber aufzu­nehmen. Ich kenne keinen anderen Weg als poli­ti­sche Verhand­lungen. Ich spreche nicht vom Nach­geben, vom Nach­geben gegen­über Alex­ander Lukaschenko, aber unsere Hoff­nung liegt in der EU. Sie kann mit ihren eigenen Mitteln Druck auf Afgha­ni­stan und den Irak ausüben, damit keine Flug­zeuge mehr nach Minsk fliegen. Lukaschenko versucht nur, die EU zwingen, mit ihm zu verhan­deln. Auf die Frage, ob wir einen hohen Zaun mit Stachel­draht brau­chen, habe ich keine Antwort. Weder unser Außen­mi­nister noch unser Innen­mi­nister können die Grenze allein sichern. Nur mit EU-Kräften“.

Infor­ma­tionen

Die litaui­sche Grenze ist 1.763 km lang.

Litaui­sche Grenz­schutz­be­amte schützen und kontrol­lieren 1.070 km, das sind etwa 6 % der Schengen-Außen­grenze zu Lande. Diese Grenze wird von 54 Flüssen und Bächen, 306 Auto­straßen, 15 Eisen­bahn­stre­cken und 83 Brücken überquert.

Die Grenze zu Weiß­russ­land ist 678,82 km lang.

Die Grenze zu Lett­land ist 588,1 km auf dem Landweg und 22,22 km auf dem Seeweg lang.

Grenze zu Polen – 104,3 km.

Grenze zu Russ­land: 274,89 km auf dem Landweg und 22,22 km auf dem Seeweg.

Quelle: Respublika.lt


1 Kommentar

  1. Es ist in die Köpfen der Litaui­schen Poli­tiker richtig die EU sank­tio­niert Weiss­russ­land wenn Presi­dent Luka­shenko etwas unter­nehmt und die ‚EU nicht gut findet.
    Aber es ist unge­hör­lich wenn Wess­russ­land auf die Sank­tionen mit gegen­mass­nahmen reagiert.

    Ich bin der Meinung, Weiss­russ­land gehört nicht zur EU also keine binnen­län­di­sche Einmi­schung durch die EU. Dass riecht nach Impe­ria­lis­tisch Kapi­ta­lis­tisch handeln.

    Kommt noch dazu dass
    – es ist nicht gut gefallen ist bei EU dass Presi­dent Luka­shenko mit Covid-19 nicht mitmachte sich nicht bestechen liess durch die ECB um trotzdem mitzumachen.
    Ich bewun­dere den Presi­dent noch immer für diesen Streik.
    Ein Muster wie es auch geht wenn man ehrlich und offen bleibt;
    – Weiss­russ­land hat aus Sicher­heits­gründen den weiss­rus­si­schen „Jour­na­list“ aus dem Ryan Air Flug­zeug genommen und arres­tiert auf die Weise so wie das Westen es „normal macht“ dass naür­lich erlaubt ist.
    Weiss­russ­land hat das Gleiche gemacht. Leider, die Damen und Herrn in EU (US/NATO) war eine Spiegel vorge­halten. Böse, ertrappt, Kacken am dampfen, also Sanktionen.

    Und jetzt ist es für die Nach­barn jammern und klagen denn sie fühlen sich gedrängt und sollen ein „Mauer“ bauen um ille­gale „FLÜCHTLINGEN“ aus Weiss­russ­land zu stoppen.

    Nicht zu schnell, Lithauen. Reden mit der Nachtbar kann sich lohnen, man kann hiermit viel Geld sparen und mehr und besser Handel machen statt Unfriede.

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