Mittel­eu­ro­päi­scher Abhängigkeitskapitalismus

Bildquelle: Visegrád Post

Mein Bestreben ist der regie­rende Kaufmann
und nicht […] der regie­rende Militär.
Otto von Bismarck

Ein Volk ist fried­lich, solange es sich selbst,
reich und gefürchtet genug glaubt, um seine
Wirt­schafts­dik­tatur heim­tü­ckisch zu instal­lieren.
George Bernanos

Warum sollen wir die Verlierer in der EU bleiben?
Viktor Orbán, Mai 2021

Das unga­ri­sche Wirt­schafts­ma­gazin Új Egyen­lőség erteilte in Zusam­men­ar­beit mit der Fried­rich-Ebert-Stif­tung kürz­lich das Wort an Andreas Nölke, Professor für Poli­tik­wis­sen­schaft an der Goethe-Univer­sität Frank­furt und Autor von Werken, die zu den neuesten Entwick­lungen des Ansatzes des verglei­chenden Kapi­ta­lismus gehören. 2018 veröf­fent­lichte er einen Artikel, in dem er die unter­schied­li­chen Wege der Schwel­len­länder durch den Gegen­satz zwischen abhän­gigem Kapi­ta­lismus und staat­lich durch­drun­genem Kapi­ta­lismus analysierte.

Da die V4-Länder nach Nölke perfekte Beispiele für abhän­gige Markt­wirt­schaften sind, ist es nicht unin­ter­es­sant, seinen Ansatz kritisch zu synthe­ti­sieren und auf andere Ebenen auszuweiten.

Als abhängig bezeichnet Nölke Markt­wirt­schaften mit einem hohen Anteil auslän­di­scher Direkt­in­ves­ti­tionen (ADI) am BIP, der seit Beginn der euro­päi­schen Inte­gra­tion konstant ist. Wenn man diese Methode zur Messung der wirt­schaft­li­chen Abhän­gig­keit anwendet, kann man fest­stellen, dass es in Bezug auf die Schwel­len­länder – mit der mögli­chen Ausnahme des nörd­li­chen Teils Mexikos – keinen Fall gibt, in dem die Volks­wirt­schaften so abhängig von auslän­di­schen Direkt­in­ves­ti­tionen sind wie die der V4 und im weiteren Sinne die Mittel- und Osteu­ropas. In der Tat haben die anderen Schwel­len­länder sowie die so genannten entwi­ckelten Länder nur selten einen Anteil der Zuflüsse von mehr als einem Drittel ihres BIP.

Andreas Nölke / Bestände an auslän­di­schen Direkt­in­ves­ti­tionen in % des BIP

Die Visegrád-Gruppe, dreißig Jahre wirt­schaft­liche Abhängigkeit?

In dreißig Jahren hat sich diese Region Europas zu einem „Para­dies für multi­na­tio­nale Unter­nehmen“ entwi­ckelt, die hier ein relativ nied­riges Gehalts­ni­veau bei einem zufrie­den­stel­lenden Quali­fi­ka­ti­ons­ni­veau, eine schwache Regu­lie­rung des Banken­sek­tors und eine fast perfekte Offen­heit für auslän­di­sche Inves­ti­tionen vorfinden. Diesen Weg der wirt­schaft­li­chen Öffnung und West­in­te­gra­tion haben die Länder Mittel­eu­ropas Anfang der 1990er Jahre einge­schlagen und sind seitdem nicht mehr davon abgewichen.

Selbst wenn es den natio­nalen Wirt­schafts­eliten – der bezeich­nendste Fall ist der Ungarns seit 2010 – gele­gent­lich gelingt, die Kontrolle über eine gewisse Anzahl sekun­därer Sektoren zurückzugewinnen,

sind die Sektoren mit dem größten Wachs­tums­po­ten­zial in den Händen auslän­di­scher Inves­toren, und zwar in einem Ausmaß, das jede Möglich­keit einer natio­nalen wirt­schaft­li­chen Unab­hän­gig­keit in der Region disqua­li­fi­ziert wird.

Während die wirt­schaft­liche Souve­rä­nität in dieser Region prak­tisch nicht vorhanden ist, sind die Wachs­tums- und Beschäf­ti­gungs­raten hoch (im Vergleich zu anderen EU-Ländern), was Nölke als Erfolg dieses Modells hervor­hebt, bevor er die Nach­hal­tig­keit dieses Modells einer abhän­gigen Markt­wirt­schaft über 5–10 Jahre hinaus in Frage stellt.

Obwohl z.B. deut­sche Indus­tri­elle in jüngster Zeit Vertrauen in den unga­ri­schen Markt geäu­ßert haben und vorerst keine deut­sche poli­ti­sche Kraft die deut­schen wirt­schaft­li­chen Grund­lagen, d.h. eine export­ori­en­tierte Wirt­schaft, in Frage stellen zu wollen scheint,

sind abhän­gige Markt­wirt­schaften von Natur aus instabil, da sie von wirt­schaft­li­chen und poli­ti­schen Entschei­dungen abhängen, die völlig außer­halb der Kontrolle der mittel­eu­ro­päi­schen Regie­rungen liegen.

Um nur ein Beispiel zu nennen: Wenn Deutsch­land mehr Gewicht auf die Binnen­nach­frage legen würde – was auto­ma­tisch geschehen kann, je nach den Entschei­dungen Chinas, mit dem Berlin die Hälfte seines Handels abwi­ckelt – würden die V4-Länder sofort den Preis dafür zahlen.

Da die Länder Mittel­eu­ropas keine direkte Kontrolle über einen wesent­li­chen Teil der Produk­tion ihres natio­nalen Reich­tums haben, ist ihr Wirt­schafts­mo­dell zwangs­läufig einer großen Anfäl­lig­keit ausge­setzt. Die lokalen Behörden in diesen Ländern sind sich dieser Anfäl­lig­keit sehr wohl bewusst und bemühen sich daher nicht nur um die Aufrecht­erhal­tung eines güns­tigen Umfelds für auslän­di­sche Inves­ti­tionen, sondern auch darum, den in der Region ansäs­sigen auslän­di­schen Unter­nehmen zu Hilfe zu kommen, die, nicht ohne Oppor­tu­nismus, die direkte Abhän­gig­keit der betref­fenden Länder ausnutzen. Das ist es, was Ungarn im März 2020 getan hat und seit 2010 tut, indem es sehr groß­zügig bei der Gewäh­rung von staat­li­chen Beihilfen für multi­na­tio­nale Unter­nehmen ist.

In all dem unter­scheidet sich dieses Modell grund­le­gend von dem anderer Schwel­len­länder – deren Märkte viel größer sind, China ist das perfekte Beispiel – die sich dafür entschieden haben, ihre natio­nalen Unter­nehmen vor auslän­di­schen Inves­ti­tionen zu schützen. In diesen Ländern ist der Anteil auslän­di­scher Direkt­in­ves­ti­tionen am BIP viel geringer als im post­kom­mu­nis­ti­schen Europa, und der Staat hat die Aufgabe, wich­tige Wirt­schafts­sek­toren zu schützen, und ist sehr darauf bedacht, auslän­di­schen Inves­toren nicht die Kontrolle über Akti­vi­täten mit hohem Entwick­lungs­po­ten­zial zu über­lassen, indem er z.B. im Falle von Tech­no­lo­gie­trans­fers Joint Ventures vorschreibt.

Wenn die Abhän­gig­keit von auslän­di­schen Direkt­in­ves­ti­tionen in den mittel­eu­ro­päi­schen Ländern die Tür zu mittel- und lang­fris­tigen Insta­bi­li­täten öffnet, so ist sie vor allem – und das ist wahr­schein­lich noch problematischer –

ein Mittel, um die wirt­schaft­liche und soziale Entwick­lung dieser Länder zu behin­dern, die durch Injek­tionen in Akti­vi­täten über Wasser gehalten werden, die wichtig genug sind, um ein Land zu unter­werfen, aber nicht genug, um einen quali­ta­tiven Entwick­lungs­sprung zu ermög­li­chen (z.B. halb­au­to­ma­ti­sche Produktion).

Wohl wissend, dass diese guten Wachs­tums­raten, die auf Auslands­in­ves­ti­tionen beruhen, viel weniger in der Gesell­schaft verteilt sind als nied­ri­gere Wachs­tums­raten in weniger abhän­gigen Volkswirtschaften.

Die Tatsache ist erschre­ckend: Auf sehr lange Sicht (seit 1870) hat der Abstand in Bezug auf das Pro-Kopf-BIP zwischen den Ländern, die heute die V4 bilden, und einem Panel von 12 west­eu­ro­päi­schen Ländern nie aufge­hört zu wachsen, und dieser Abstand wächst seit 1990 unauf­hör­lich weiter.

Darüber hinaus dürfen wir nicht vergessen, dass diese Zufüh­rungen von auslän­di­schem Kapital die Kehr­seite von noch größeren Abgaben auf die Gewinne dieser Länder haben, wie man sagen muss. Mit anderen Worten, diese Länder sind durch einen größeren Netto­ab­fluss von Gewinnen gekenn­zeichnet als durch einen Netto­zu­fluss. Hinzu kommt die Abwan­de­rung von Menschen durch wirt­schaft­liche Emigra­tion. Dieser doppelte Abfluss lässt sich trivial wie folgt zusammenfassen:

Das mittel­eu­ro­päi­sche Wirt­schafts­mo­dell erlaubt es, dass deut­sche Rentner von in den Ländern der deut­schen Peri­pherie ausge­bil­detem Personal finan­ziert und gepflegt werden.

Im Vortrag von Zoltán Gál, Univer­sität Pécs / Ausge­hende Netto­ge­winn­ströme in % des BIP

Dieser Zustand der Abhän­gig­keit wurde bekannt­lich nicht durch Rüstung erzwungen – auch wenn manche von den Kosten des Nutzens des Schutzes durch den nuklearen Schirm der USA spre­chen –, sondern er ist, so Nölke, eine Option.

Ist die Abhän­gig­keit nur wirt­schaft­lich und politisch?

Der Zustand der wirt­schaft­li­chen Abhän­gig­keit erstreckt sich natür­lich auch auf die poli­ti­sche Sphäre, die in Mittel­eu­ropa nicht wirk­lich autonom von ihren west­li­chen Hinter­män­nern sein kann. Wenn sich die Staaten der Region, insbe­son­dere Ungarn und Polen, in den letzten Jahren Gehör verschaffen konnten, dann im Wesent­li­chen bei Themen, die sie als „zivi­li­sa­to­risch“ bezeichnen (Einwan­de­rung, LGBT-Rechte), d.h. bei Themen, die nicht a priori die oben beschrie­bene wirt­schaft­liche Situa­tion in Frage stellen.

Die Länder Ost- und Mittel­eu­ropas hatten wohl keine andere Wahl, als nach dem Ende des Kalten Krieges den Weg dieser wirt­schaft­li­chen Abhän­gig­keit zu gehen. Es wäre jedoch ungenau zu sagen, dass dieser Weg eine erzwun­gene Option war. Tatsäch­lich waren die lokalen Eliten – und die über­wäl­ti­gende Mehr­heit der Bevöl­ke­rung – mental sehr offen für diesen wirt­schaft­li­chen Paradigmenwechsel.

Auch wenn die Menschen nicht mehr so enthu­si­as­tisch sind wie in den frühen 1990er Jahren, gibt es keine Anzei­chen dafür, dass es dreißig Jahre später wirk­liche Kräfte gibt, die den wirt­schaft­li­chen und poli­ti­schen Status quo ändern wollen.

So gibt es in Ungarn die Bereit­schaft, die Auslands­in­ves­ti­tionen zu diver­si­fi­zieren, indem man sich asia­ti­schen Part­nern zuwendet, was sicher­lich nicht auf eine Verän­de­rung des Status quo hinaus­läuft, sondern eher auf eine Verän­de­rung seiner Zusam­men­set­zung, vorerst am Rande.

Aber gibt es im Großen und Ganzen nicht eher eine aufrich­tige Verbun­den­heit dieser Länder mit diesem Zustand der Abhän­gig­keit? Nehmen wir den Fall von Ungarn. Ob sie nun in der Mehr­heit oder in der Oppo­si­tion sind, unseres Wissens gibt es in Ungarn keine poli­ti­schen Kräfte mit konkreten Plänen, den Status quo in Frage zu stellen. Im Gegen­teil: Die beiden wich­tigsten unga­ri­schen poli­ti­schen Kräfte – einer­seits die Oppo­si­tion, die unter hete­ro­genem Schein in Wirk­lich­keit einhellig pro-euro­pä­isch und pro-Brüssel ist, und ande­rer­seits die Regie­rungs­mehr­heit – mögen zwar unter­schied­liche Bezie­hungen zu dieser Abhän­gig­keit haben, aber keine von ihnen scheint sich aus ihr lösen zu wollen.

Die unga­ri­sche Oppo­si­tion verbirgt ihre direkte und bedin­gungs­lose Anhäng­lich­keit von verschie­denen west­li­chen Kreisen nicht. Das Verhältnis der Regie­rung zu dieser West­ab­hän­gig­keit ist eminent komplexer.

Die Regie­rungs­mehr­heit zögert nicht, die west­li­chen Partner zu kriti­sieren; sie tut dies aus dem Glauben heraus, aufholen und beweisen zu wollen, dass Ungarn in der Lage ist, es besser zu machen als die Länder West­eu­ropas. Alles, was den Beginn der Covid-Ära im März 2020 tech­nisch ausge­löst hat, beweist dies perfekt. In der Tat wollte die unga­ri­sche Regie­rung ein Vorreiter sein und über­nahm gegen­über ihren west­li­chen Verbün­deten die Führung im Voka­bular der neuen Wirt­schaft, des Gesund­heits­passes und der Massen­impf­kam­pagne und beglück­wünschte sich selbst zu den guten Punkten von Seiten der Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­tion, der Welt und der New York Times.

Es handelt sich also nicht um eine Kritik an der Sucht, sondern um eine Suche nach Aner­ken­nung, die den wirt­schaft­li­chen, poli­ti­schen und mentalen Rahmen des oben beschrie­benen Status quo nicht verlässt.

Schließ­lich verrät die jüngste Polemik der Regie­rungs­me­dien um die schlechten Englisch­kennt­nisse des Oppo­si­ti­ons­kan­di­daten für das Amt des Minis­ter­prä­si­denten bzw. Bürger­meis­ters von Buda­pest, Gergely Karác­sony, über ihren anek­do­ti­schen Aspekt hinaus, tatsäch­lich die Rele­vanz dieser Abhän­gig­keits­er­klä­rung. Die Oppo­si­tion muss ihre west­liche Zuge­hö­rig­keit nicht beweisen, während die Regie­rung versucht, so schnell wie möglich zu zeigen, dass auch sie in der Lage ist, „up to date“, „modern“, „euro­pä­isch“ usw. zu sein. Mit der über­wäl­ti­genden Mehr­heit der inter­na­tional einfluss­rei­chen intel­lek­tu­ellen Kreise Buda­pests, die keine Gele­gen­heit auslassen, ihre Verach­tung für sie zu zeigen, ist sie nicht einver­standen, und sie rennt diesem Minder­wer­tig­keits­kom­plex hinterher.

Aus all diesen Gründen fällt das Fazit vernich­tend aus: Ja, es gibt wirt­schaft­liche und poli­ti­sche Abhän­gig­keiten, aber sie werden akzep­tiert und scheinen sogar erwünscht zu sein. Manche sehen viel­leicht eine Inkon­se­quenz darin, abhängig sein zu wollen. Die Psycho­logie lehrt uns jedoch, dass es bei der wahren Sucht nicht so sehr darum geht, nach einem Objekt süchtig zu sein, sondern viel­mehr darum, eine Form der Abhän­gig­keit von dem Leiden zu entwi­ckeln, das diese Sucht mit sich bringt.

Dieser Beitrag erschien zuerst bei der VISEGRÁD POST, unserem Partner in der EUROPÄISCHEN MEDIENKOOPERATION.


1 Kommentar

  1. Austra­lien war immer eine Kolonie die von London u. jetzt Washington regiert wird. Dass seht man in der haltung zu PRC. Machen mit jeden POTUS mit, gehen in ihren Kriegen u. denken sich Beschmei­chelt well POTUS sie für Freunde mit Lügen beruselt u. die Regie­rung mit den Leuten glauben den Quatsch, so weit dass sie auch Sterben für Amerikas Wahnsinn.

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