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2. Jugend im Burgenland

Wenn es so etwas wie eine perfekte Kindheit und Jugend gibt, dann war sie mir vergönnt. Ich war ein klassischer Nachzügler. Mein Vater war Direktor eines mittelständisches Unternehmens. Er stammte aus Mautern in der Obersteiermark und es war die B-Gendarmerie, die ihn in jungen Jahren nach Pinkafeld gebracht hatte. Hier gab es die Turbakaserne, in der hunderte junge Soldaten untergebracht waren. Hier lernte er meine Mutter kennen und sie heirateten früh.

Meine Mutter, die Tochter eines Lederfabrikanten, der in den USA geboren war und erst später die österreichische Staatsbürgerschaft angenommen hatte, kümmerte sich ausschließlich um uns Kinder, um den Haushalt und um die ausgedehnte Gartenanlage, ein Geschenk des Großvaters an das junge Paar.

Mein Bruder war 11 Jahre älter als ich, fuhr Motorrad, besuchte eine technische Schule und trainierte für seine Schwimmwettkämpfe. Meine große Schwester büffelte für ihren Beruf als Kindergärtnerin und traf sich natürlich so oft wie möglich mit ihrem Freund. Ich wurde von allen verwöhnt, war Vorzugsschüler, bastelte an meinen Modellflugzeugen, lernte Klavier und Gitarre und verbrachte viel Zeit mit Freunden.

Nur ein einziger Schatten lag auf dieser Familie, nämlich der frühe Tod unserer großen Schwester Martina an Krebs. Sie war erst 16, als sie starb und wenn ich die Fotos meiner Eltern aus der Zeit damals betrachte, kann ich erahnen, was sie durchgemacht haben. Ich war fünf, als Martina starb und verbrachte mit meinen Eltern viel Zeit im Krankenhaus. Meine Matchboxautos waren damals meine ständigen Begleiter zum Zeitvertreib am Krankenbett.

Es waren zwei Dinge, die mich in meiner Kindheit besonders begeisterten: Die Segelflugzeuge, die über unserem Anwesen jedes Wochenende im sanften Aufwind ihre Kreise drehten und das Laufen. Wann immer ich konnte, wollte ich laufen, den Rhythmus der Beine und des Atems spüren. Das war pures Leben für mich, schon damals.

Meine Freunde und ich machten uns einen Spaß daraus, zu sehen, wie lange ich laufen konnte, während sie mit dem Fahrrad neben mir her fuhren. Später nahm mich mein Vater an Sonntagen mit in den Wald. Ich erinnere mich gut an seinen orangen Volvo und die Musik vom traditionellen Frühschoppen aus dem Radio. Bei unserer Laufstrecke im Wald angekommen zeigte sich dann immer sehr rasch, dass er mehr Ausdauer hatte als ich – oder dass meine Beine noch etwas zu kurz waren. Doch schon bald drehte sich das Blatt. Ich ging auch alleine zum Training und es geschah nicht selten, dass ich vor Erschöpfung weinte. Ich wollte laufen, um jeden Preis, den mir das Training abverlangte.

Und dann war da noch mein Hang zum Mentaltraining. Vielleicht eine kleine Marotte, die sich später in schwierigen Zeiten als hilfreich erweisen sollte. Ich war wohl der einzige Zwölfjährige in der kleinen Stadt, der noch vor der Schule eine halbe Stunde in den Garten ging, um dort im taufrischen Gras fernöstliche Konzentrationsübungen zu absolvieren und ich verschlang jedes Buch über die Kraft des positiven Denkens oder die Schriften von Rudolf Steiner.

Und irgendwann war ich dann 14 und musste mich entscheiden, welchen Beruf ich lernen sollte. Wir hatten eine Höhere Technische Bundeslehranstalt vor unserer Haustüre, die auch mein Bruder besucht hatte. Doch die Segelflugzeuge über unserem Garten und meine Modellflugzeuge hatten es mir angetan. Ich bewarb mich für die Aufnahme an der HTBL für Flugtechnik in Eisenstadt. Erst vier Jahre davor war die Schule von Wien ins Burgenland übersiedelt. Wohl vor allem deswegen, weil der damalige Landeshauptmann Theodor Kery begeisterter Flieger war.

Es gab nur eine einzige maturaführende Schule dieser Art in Österreich. Das Interesse an der Ausbildung war groß, doch nur 36 Schüler wurden nach dem Aufnahmeverfahren aufgenommen. Ich war einer von ihnen – und damit begann für mich so etwas wie die Vertreibung aus dem Paradies. Eine heilsame Vertreibung. Denn aus dem verwöhnten Nachzügler wurde nun ein Internatszögling, für den keine Extrawürste gebraten wurden. Schon der Anblick des Bundeskonvikts in Eisenstadt flößte mir großen Respekt ein. Ein großes rechteckiges Gebäude mit einem sterilen Speisesaal für die Schüler, sauber polierten Böden, die nach scharfem Putzmittel rochen, und die strengen Augen der Erzieher überall auf den Gängen. Die Nachtruhe und die Studierzeiten wurden streng eingehalten.

So verabschiedete ich mich also von meinen Eltern und zog in meine neue Klause ein. Vier Burschen teilten sich ein Zimmer. Mit mir ein Junge aus Oberösterreich, ein schon etwas älterer Mitschüler aus Kärnten und dann war da noch ein weiterer Burgenländer aus dem Seewinkel. Für jeden von uns gab es ein Bett, einen kleinen Schrank und einen Schreibtisch. Das Zimmer musste penibel sauber gehalten werden.

In den letzten Jahren hat man viel von der Misshandlung von Schülern in Heimen gehört. Die Sitten im Bundeskonvikt waren rustikal und die Zöglinge der ersten Klasse wurden von den „Großen“ schon mal an Händen und Beinen gepackt, um sie ordentlich zu drangsalieren. Wir wurden aber nie ernsthaft schlecht behandelt. Die Ausgehzeiten waren einzuhalten, auf Sauberkeit war zu achten und wenn ein Schüler von anderen Zöglingen nicht nur gehänselt sondern gar gequält wurde, schritten die Erzieher ein.

Zimperlich waren wir freilich nicht. Ein Kollege hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, bei Besuchen in den Räumen anderer Schüler direkt aus deren Tetrapackungen zu trinken, ohne den Besitzer zu fragen. Auch aus hygienischen Gründen war das nicht willkommen. So wurde kurzerhand eine Tetrapackung mit Apfelsaft zur Hälfte ausgetrunken und mit Urin nachgefüllt. Man kann sich ausmalen, wie die Geschichte ausgegangen ist. Jedenfalls wurden unsere Getränkevorräte künftig nicht mehr angetastet.

Ein anderer Schüler wurde von seinen Zimmerkameraden verletzt. Mehrmals hatte man ihm die Zirkelspitze ins Fleisch gerammt. Die Übeltäter wurden bestraft, der junge Mann wurde in unser Zimmer verlegt und fortan nicht mehr belästigt. Meine Freunde und ich hatten uns eine gewisse Stammhoheit im Haus geschaffen. Ich wurde sehr bald Konviktssprecher und der gequälte Bursche stand unter unserem Schutz. Lediglich sein lautes Schnarchen brachte uns Nacht um Nacht zur Verzweiflung und nach zu kurzem Schlaf mussten wir erkennen, dass so etwas wie soziales Engagement offenbar nicht ganz ohne Nachteil ist.

Die Fenster des Erdgeschosses des Konvikts waren vergittert, damit die an den Folgen der Pubertät und an den damit verbundenen überschüssigen Kräften leidenden Zöglinge nicht nächtens das Haus verließen. Die zu den Fenstern führenden Zimmer im Keller wurden außerdem in der Nacht verschlossen. Dort lagen unsere Zeichenräume. Als Schüler einer technischen Schule hatten wir viele Stunden damit zu verbringen, Zahnräder, ganze Getriebe und später Motoren und Tragflächen zu berechnen und zu zeichnen. Im ersten Jahr freilich quälte man uns vor allem mit dem Erlernen der Normschrift mit den verhassten Tuschstiften.

Aber genau hier, in diesen Zeichenräumen, die ebenfalls vergittert waren, wuchs in uns ein Plan, der natürlich so schnell wie möglich umgesetzt werden musste.

Eines Nachts schlichen wir mit Werkzeug bewaffnet in den Keller, stiegen über ein kleines Fenster über der verschlossenen Tür des Zeichensaales ein und machten uns dann mit Schraubenschlüsseln an den Gittern der Außenfenster zu schaffen. Der Ausbruch gelang und wir verbrachten eine herrliche Nacht in einer Diskothek namens „Quattro”. Ein Lokal, das heute keinen Gast mehr locken könnte. Doch es wurde sogar „Born to be wild“ für uns aufgelegt. Und so fühlten wir uns damals auch. Am nächsten Tag fühlten wir uns weniger wild als vor allem müde. Stolz waren wir trotzdem auf unseren Ausbruch.

Ich habe meine Techniken später verfeinert und bin auch schon mal über den Blitzableiter und eine Dachrinne auf das Vordach geklettert, um nach „dem Zapfenstreich“ noch ins Haus zu kommen. Einmal wurde ich jedoch dabei von einem Erzieher ertappt, der mich am nächsten Morgen freundlich darauf aufmerksam machte, dass es nicht gerne gesehen werde, wenn Zöglinge sich in der Nacht als Fassadenkletterer versuchten.

Meine Eltern haben von all dem natürlich nichts gewusst.

Misstrauisch wurden sie jedoch, nachdem ich an einem Abend vor Schulschluss als Klassensprecher eine große Party organisiert hatte und am nächsten Tag wegen starker körperlicher Beschwerden, die wohl in leichtfertigem Konsum von Metaxa ihren Ursprung hatten, nicht von der Schule abgeholt werden wollte. Mein blasses Gesicht und die wiederholte Bitte an die Eltern, mit dem Auto doch langsamer zu fahren und hie und da stehen zu bleiben, hätte mich fast das Ende meiner Schulzeit in Eisenstadt gekostet. Die Landeshauptstadt, so meine Mutter damals, täte mir nicht gut. Ich verdanke es meinen guten Schulzeugnissen, dass der brave Nachzügler dann nach den Sommerferien doch wieder den herrlichen Verlockungen der kleinen Stadt übergeben wurde.

Und irgendwann war dann auch wieder die Sehnsucht nach dem Laufen da. Ich verließ immer öfter das Heim, um Laufstrecken in der Umgebung zu erkunden. Wir hatten meist bis zum Abend Unterricht, 40 Stunden waren vorgesehen und ich hatte zusätzlich Raumfahrttechnik und Französisch als Freifach belegt. Es war also meist schon dunkel, wenn ich begann, nach Schule und Hausübung meine Runden zu drehen.

Eines Tages wurde uns Zöglingen mitgeteilt, dass es im Haus zwei neue Erzieher geben würde. Beide stammten aus dem südlichen Burgenland und beide waren Sportlehrer. Für mich begann eine neue Dimension meines Trainings, als ich von den beiden eines Tages zum Lauftraining eingeladen wurde. Die Strecke, die ich in diesem Spätsommer zum ersten Mal gelaufen war, sollte mich noch viele Jahre begleiten. Sie führte vom Konvikt den steilen Hartlsteig hinauf zum ORF-Landesstudio, weiter in den Wald des Leithagebirges Richtung Loretto und von dort über die heute von Motorradfahrern so stark frequentierten Serpentinen zurück nach Eisenstadt. Diese 14,5 km sollte ich noch viele hunderte Male laufen und es ist eine der schönsten Strecken, die man sich vorstellen kann. Ein wunderschöner Laubwald, weicher Boden, hie und da trifft man auf Wildschweinspuren und nicht selten auf Wildschweine selbst. An diesem ersten Tag auf der neuen Strecke fühlte ich mich wie ein Anfänger, viel zu langsam für meine Trainingsbegleiter, auf deren Waden man jede Sehne erkennen konnte und meine Lungen drohten zu bersten.

Doch ich wurde schneller und jeder Schritt wurde für mich in den Monaten danach leichter. Auch mein Körper veränderte sich und meine Oberschenkel und Waden passten sich auch optisch den neuen Herausforderungen an.

Nach einem Winter, der neben dem Studium der Geheimnisse der Luftfahrzeugtechnik dem Laufsport gewidmet war, stand mein erster Wettkampf ins Haus. In Oberwart fanden im Inform Stadion die Landesmeisterschaften im Cross Country Lauf statt. Ich hatte keine Ahnung, was auf mich zukommen sollte. Von meinem Trainer und Erzieher Joachim wurde ich in neue Laufhosen gesteckt, die mich an Strumpfhosen mittelalterlicher Minnesänger erinnerten, und es wurde mir ein Paar Geländelaufschuhe an die Füße geschnallt. Da das Starterfeld stark war und auch der amtierende Staatsmeister sich angemeldet hatte, wurde vom Neuling nicht viel erwartet.

Am Start war die Unruhe der Läufer spürbar. Ich hatte mich ganz hinten in der Gruppe eingereiht, wie es sich für ein Greenhorn gehört. Dann der Startschuss, das Feld setzte sich sofort in Bewegung, ich trottete etwas verzweifelt hinterher. Mein Trainer hatte mir eingeschärft, nur ja nicht zu schnell zu starten und meine Kräfte gut einzuteilen. Leicht gesagt, ich hatte keine Wettkampferfahrung und daher keinen blassen Schimmer davon, wie ich meine Kräfte einteilen sollte. Ich begann also zaghaft damit, die vor mir liegenden Läufer zu überholen. Ich hatte sie zuerst im Verdacht, im sogenannten Einteilen der Kräfte professioneller zu sein als ich. Doch dann stellte sich heraus, dass sie einfach langsamer waren. Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Also versuchte ich von nun an, so viele Gegner wie möglich zu überholen. Und dann war nur mehr einer vor mir, der von mir so gefürchtete Staatsmeister. Ich hatte ihn eingeholt und zum ersten Mal hörte ich bei einer Sportveranstaltung meinen Namen über den Lautsprecher. Der Moderator versuchte, dem Zweikampf eine besonders dramatische Note zu geben. Wir hatten uns sehr rasch weit vom übrigen Feld abgesetzt und befanden uns im letzten Drittel der letzten Runde, als der junge Staatsmeister sein Tempo verschärfte – und ich konnte tatsächlich mithalten. Doch dann die letzten 100 m, mir war völlig unbegreiflich, wie der junge Mann jetzt noch einen Sprint mit diesem Tempo schaffen konnte. Mein Kopf wollte da unbedingt mit, doch die Beine hoben sich einfach nicht mehr. Das war es also, die Kraft einteilen. Ich wurde Zweiter. Der erste meiner vielen Vizelandesmeistertitel auf allen möglichen Distanzen. Immer war es ein Staatsmeister, der vor mir ins Ziel kam. Gewinnen konnte ich jedoch beim Straßenlauf, und das hat mir mit dem Training und der Vorbereitung viel gegeben.

Ich war kein herausragender Sportler, kein besonderes Ausnahmetalent oder eine Berühmtheit in der Läuferszene, bei weitem nicht. Doch das Auseinandersetzen mit dem Training, mit Belastungen und Pausen, mit der Notwendigkeit des Durchhaltens und mit dem über sich Hinauswachsen im Wettkampf, hat mir für das Leben unendlich viel gegeben.

Zu meinem Landesmeistertitel, den ich mir so gewünscht hatte, bin ich dann doch noch irgendwann gekommen. Allerdings nicht durch das Laufen, sondern durch eine Teilnahme bei einem Schwimmwettkampf als letzter Starter einer Staffel. Ich konnte drei Plätze gutmachen und ging als erster durchs Ziel. Ich bin heute noch davon überzeugt, dass es nie mehr ein so schwaches Starterfeld geben wird, wie wir es damals in der Konkurrenz hatten. Die Goldmedaille habe ich irgendwo am Dachboden in einer Kiste verwahrt. Die vielen zweiten Plätze beim Laufen bedeuten mir heute noch viel mehr als dieser Sieg.

Es ist schade, dass man es in jungen Jahren gar nicht mitbekommt, wie toll diese Zeit eigentlich ist. Man will so schnell wie möglich erwachsen werden, ins Berufsleben einsteigen, Verantwortung für eine Familie übernehmen, das Leben genießen. Dabei verliert man oft den Blick für die Gegenwart, für das, was nicht wieder kommt.

Und so verging auch bei mir die Zeit beim Blick auf die Zukunft viel zu schnell, die Ausbildung ging dem Ende zu und mit dem Ende meines Militärdienstes und der Übersiedlung nach Wien begann für mich das Berufsleben.

Ich wurde Techniker bei der österreichischen Fluglinie Lauda Air. Doch das Laufen habe ich niemals aufgegeben und auch immer wieder einen Marathon in Wien absolviert.

Ich erinnere mich daran, dass ich oft mit dem gleichen Alptraum aufwachte. Ich versuche zu laufen, meine Beine zu bewegen, doch das war nicht möglich. Nach dem 11. August 2003 sollte ich diesen Alptraum nie mehr haben. Er war Wirklichkeit geworden. Doch der Traum selbst kam nie wieder.

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