Norbert Hofer: Leben nach der Quer­schnitts­läh­mung (Auto­bio­grafie, 7. Kapitel)

7. Der Beginn der Rehabilitation

Auf einer kleinen Anhöhe nahe des Wein­bau­orts Klos­ter­neu­burg liegt der „Weiße Hof“, mit 200 Betten die größte Reha­bi­li­ta­ti­ons­ein­rich­tung der AUVA in Öster­reich. Ich wurde mit einem Rettungs­wagen nach Nieder­ös­ter­reich gebracht und ich erin­nere mich gut daran, wie ich auf einem Trans­port­bett liegend in die Empfangs­halle geschoben und dann weiter in mein Zimmer gebracht wurde.

In Eisen­stadt hatte man mir ein Einzel­zimmer gegeben und ich hatte das Allein­sein genossen, um meine Gedanken zu ordnen und mir eine ganz persön­liche Über­le­bens­stra­tegie für mein zukünf­tiges Leben zurecht­zu­zim­mern. Am Weißen Hof standen nur Drei­bett­zimmer zur Verfü­gung und ich war schon gespannt darauf, meine Zimmer­kol­legen kennenzulernen.

Da war zunächst ein pensio­nierter Mitar­beiter der Post, der wie mein zweiter Zimmer­kol­lege zu einer soge­nannten Wieder­ho­lungs­reha im Haus war. Ich benei­dete ihn, weil er in der Lage war, sich aus seinem Roll­stuhl zu erheben und sich selbst Klei­dungs­stücke aus einem oberen Fach des kleinen Spinds zu nehmen. Es stellte sich jedoch heraus, dass der Mann ein großer Schnar­cher vor dem Herrn war und ich noch viele schlaf­lose Nächte erleben sollte. Mein zweiter Zimmer­kol­lege war recht geschickt darin, sich vom Roll­stuhl ohne fremde Hilfe auf einen ganz normalen Stuhl zu wuchten. Und wenn er da so saß, hatte man keine Ahnung davon, dass er von der Körper­mitte abwärts gelähmt war.

Für einen Neuling wie mich war es inter­es­sant zu hören, wie deren Leben verlaufen war. Man machte mir klar, dass ich eine sehr schwere Zeit vor mir hätte. Eine Aussage, die nicht gerade dazu angetan war, meine Stim­mung zu heben. Noch dazu konnte ich nichts anderes, als auf dem Rücken zu liegen und mich mit fremder Hilfe auf die Bett­kante zu setzen, das alles natür­lich unter großen Schmerzen.

Am zweiten Tag nach meiner Einlie­fe­rung bekam ich Besuch von einem Arzt des Hauses, der mich gründ­lich unter­suchte. Ich werde diese Unter­su­chung niemals vergessen. Dr. Märk teilte mir nämlich mit, dass ich wieder in der Lage sein werde, meine Beine zu gebrau­chen. Zum ersten Mal nach dem schreck­li­chen Unfall sah ich Licht am Ende des Tunnels und ich nahm mir vor, so hart wie nur irgendwie möglich zu trainieren.

Die ersten Übungen bestanden darin, weit­ge­hend ohne Hilfe auszu­kommen, um von der liegenden Posi­tion in eine sitzende zu gelangen. Später brachte man mir bei, mit einem soge­nannten Rutsch­brett selbst in den Roll­stuhl zu kommen. Ein Ereignis der beson­deren Art war mein erster Besuch in einer Dusche. Seit dem Unfall wurde ich nur im Bett liegend mit Wasch­lappen gerei­nigt. Nun stellt man mir einen Dusch­rolli zur Verfü­gung. Der Roll­stuhl hatte auf der Sitz­fläche ein Loch, damit man damit nicht nur in die Dusche fahren, sondern auch ohne aufzu­stehen seine Notdurft verrichten konnte.

Bei der ersten Dusche musste ich fest­stellen, dass große Teile meines Körpers das herun­ter­flie­ßende Wasser einfach nicht spürten und auch die Wasser­tem­pe­ratur nicht wahr­nehmen konnten. Ich musste also vor dem Dusch­gang immer die Tempe­ratur mit der Hand prüfen, um mich nicht zu verbrühen. Trotzdem fühlte ich mich nun wieder ein biss­chen mehr wie ein Mensch. Frisch geduscht und rasiert fühlte ich mich den Heraus­for­de­rungen der Reha gewachsen.

Nun ging es daran, für mich einen Thera­pie­plan zu erstellen. Da gab es zunächst vor allem die für mich so wich­tigen Einzel­the­ra­pien, Grup­pen­gym­nastik, Roll­stuhl­trai­ning und Behindertensport.

Jede dieser Einheiten war für mich in den ersten Wochen zunächst mit großen Schmerzen verbunden. Die Wunde am Rücken war noch nicht abge­heilt. Ich war beispiels­weise auch nicht in der Lage, mir selbst die Schuhe zuzu­binden oder mich beim Essen über den Teller zu neigen.

In der Grup­pen­gym­nastik musste ich erst einmal lernen, mich vom Roll­stuhl sitzend auf die Gymnas­tik­matte am Boden zu bewegen. Dazu war es notwendig, den Körper langsam nach vorne zu schieben, sich dann mit den Händen am Boden abzu­stützen – Schweiß­aus­brüche wegen der Schmerz­be­las­tung inklu­sive – und dann den Ober­körper langsam auf der Matte abzu­setzen. Die ersten Übungs­ein­heiten waren ernüch­ternd, doch nach einigen Wochen war ich bereits in der Lage, auf dem Bauch liegend meine Unter­schenkel zu heben und mit der Ferse das Gesäß zu berühren. Eine Übung, die ich zwischen­durch stun­den­lang im Bett geübt hatte. Auch die ersten Sit Ups waren nach einiger Zeit bereits möglich.

Beson­ders schwierig waren die Übungen am Gehbarren. Dazu wurde der Roll­stuhl an die Stirn­seite des Barrens gestellt und man wuch­tete sich mit den Händen auf den Barren. Die Beine hingen mehr oder weniger lose am Ober­körper und es galt, sich unter Nach­ah­mung einer Gehbe­we­gung am Barren vorwärts zu bewegen. So armselig das für unbe­darfte Zuseher aussehen muss, so toll ist aber auch das Gefühl, die Beine wieder am Boden zu haben. Der Gehbarren wurde in dieser Zeit zu einem guten Freund. Nach Ende der offi­zi­ellen Trai­nings­ein­heiten und nach dem Abend­essen bin ich mit meinem Rolli oft zum Barren gefahren, um dort am Abend weiter zu trainieren.

Eines Tages stand dann die erste Wasser­gym­nastik auf dem Programm. Die größte Heraus­for­de­rung bestand schon alleine darin, vom Roll­stuhl in das Becken zu gelangen. Beson­ders schwierig ist es dabei, im Wasser zu stehen, weil ich meinen linken Fuß nicht spüren konnte. So passierte es nicht nur einmal, dass ich einfach umge­kippt bin und mehr als unge­schickt wieder Halt im Becken suchen musste. Doch mit der Zeit gelangen die Übungen immer besser und ich war irgend­wann auch wieder so weit, ein paar Längen im Becken schwimmen zu können. Mit jeder Trai­nings­stunde wuchs mein Selbst­ver­trauen und ich hatte viel Spaß an der Bewegung.

Irgend­wann war es dann soweit. Man drückte mir zwei Vier­punkt­krü­cken in die Hand und ich lernte, mich an den Krücken stüt­zend aufzu­stehen und später erste, ganz kleine Schritte zu machen. Bis dann der große Tag des Cooper Tests am Programm stand. Viele Sportler kennen diesen Test. Es geht darum, inner­halb von 12 Minuten möglichst weit zu laufen, um damit die eigene Ausdau­er­leis­tung zu prüfen. In meiner Zeit vor dem Unfall schaffte ich 3,6 km. Doch jetzt sah alles ganz anders aus. Der Test wurde auf den Gängen im Unter­ge­schoß des weißen Hofs durch­ge­führt. Ich wuch­tete mich vor dem Start aus dem Roll­stuhl, die Krücken fest umklam­mert und setzte nach dem Start, das Gewicht vor allem auf den Armen ruhend, einen Fuß langsam vor den anderen. Es war unglaub­lich anstren­gend und am Schluss sollte ich in diesen 12 Minuten eine Strecke von 125 m zurück­ge­legt haben. 125 m oder 17 cm pro Sekunde, ich war unend­lich stolz darauf und begann, wie in alten Zeiten wieder ein Trai­nings­ta­ge­buch zu führen, in dem ich meine Fort­schritte penibel festhielt.

Lange nach der Entlas­sung aus dem Weißen Hof dachte ich an diesen ersten Versuch zurück. Ich hatte es damals geschafft, 8 km ohne Stock auf meiner alten Lauf­strecke in den Wäldern des Leitha­ge­birges zurück­zu­legen. Ich war fast drei Stunden unter­wegs und trotzdem bereits Licht­jahre von den ersten Anfängen entfernt. Dazwi­schen lagen tausende Trai­nings­stunden, jede davon hat sich gelohnt.

Ein wesent­li­cher Bestand­teil unseres Trai­nings betraf den Umgang mit dem Roll­stuhl. Ich hatte mich zuerst sehr dagegen gewehrt, weil ich fest davon über­zeugt war, einmal ohne ihn auskommen zu können. Doch die Chancen waren in Wirk­lich­keit zunächst eher gering und daher das Trai­ning für das Meis­tern des Alltags von großer Bedeu­tung. Ich gewöhnte mich auch schnell daran und die inner­liche Ableh­nung wurde rasch vom Inter­esse an den umfang­rei­chen Möglich­keiten im Roll­stuhl­sport verdrängt. Zunächst war es notwendig, nur auf den beiden Haupt­rä­dern balan­cieren zu lernen. Dazu wurden wir mit einem Seil, das an der Decke des Sport­raums hing, gesi­chert und versuchten immer wieder, die beiden kleinen vorderen Räder vom Boden abzu­heben, indem der Roll­stuhl kurz und heftig nach vorne bewegt wurde. Dann galt es, die Vorder­räder möglichst lange in der Luft zu halten. Wie beim Erlernen jeder neuen Fertig­keit hatte ich zuerst den Eindruck, dass es sich um eine unend­lich schwie­rige Aufgaben handeln würde. Wochen später konnte ich den Roll­stuhl minu­ten­lang balan­cieren, mich dabei um die eigene Achse drehen oder Hinder­nissen auswei­chen. Später kam das Trai­ning für Roll­stuhl­bas­ket­ball dazu. Wer das noch nie probiert hat sollte es unbe­dingt einmal versu­chen. Es ist extrem anstren­gend und eine echte Heraus­for­de­rung. Am schwie­rigsten gestal­tete sich das „Stufen­steigen“ mit dem Roll­stuhl. Es ist aber durchaus möglich, auf zwei Rädern balan­cie­rend auch mehr als nur eine Stufe nach oben oder nach unten zu fahren, wenn man nur ausrei­chend übt.

Wie oft meine Trai­nings­kol­legen und ich aus dem Roll­stuhl gefallen sind? Ich weiß es nicht mehr. Aber wir haben uns dabei nie ernst­haft verletzt. Wir berei­teten sogar eine Wette für die Sendung „Wetten dass“ vor. Zwei Lang­bänke wurden auf den Rücken gedreht, sodass der dünne Balken nach oben zeigte. Die Lang­bänke wurden auf einer Höhe von rund einem Meter befestig und eine kleine Rampe ermög­lichte es, mit dem Roll­stuhl wie auf Schienen auf den Bänken zu balan­cieren und dabei nach vorne zu fahren. Dabei konnten wir nicht direkt nach unten sehen, sondern fixierten einen Punkt weit vorne, um die Spur zu halten. Kam man nur ein kleines Stück von dieser Spur ab, dann ging es ganz schnell nach unten. Nur drei Roll­stuhl­fahrer schafften das Kunst­stück. Doch die Wette haben wir dann doch nie einge­reicht. Es hat uns schon gereicht, die Aufgabe über­haupt gemeis­tert zu haben.

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