Offene Türen für Afghanen? Auf der Suche nach einer Position

Bildquelle: Centro Machiavelli

Von Marco Malaguti
 

Kabul ist gefallen, und im Westen erin­nert man sich plötz­lich an die Exis­tenz Afgha­ni­stans. Dieje­nigen, die aus kultu­rellem Inter­esse, aber auch aus beruf­li­chen Gründen die Situa­tion in Afgha­ni­stan kennen und einge­hend studiert haben, wissen, dass der Sturz der Haupt­stadt der vom Westen aner­kannten Regie­rung eine reine Form­sache war. Seit Jahren ist der „demo­kra­ti­sche“ Staat, der zunächst von Hamid Karzai und dann von Achraf Ghani regiert wurde, nichts weiter als ein Schein­staat, der in anderen Zeiten als „Mario­net­ten­staat“ bezeichnet worden wäre, und die afgha­ni­schen Staats­ober­häupter sind stets wenig mehr als Bürger­meister von Kabul geblieben. Dieje­nigen, die das Geschehen in Afgha­ni­stan schon immer verfolgt haben, wissen, dass die Zentral­re­gie­rung das Land nie wirk­lich kontrol­liert hat, nicht einmal in seinen stabilsten Zeiten.

Als im Dezember 2001 die letzte Taliban-Hoch­burg Kandahar fiel, zogen sich die Isla­misten einfach in ihre Häuser zurück und warteten geduldig darauf, dass die west­li­chen Streit­kräfte vor Ort nach­ließen. Der Krieg, wie wir ihn kennen, mit Schüt­zen­gräben und Bombar­de­ments, in Afgha­ni­stan, zwischen den Taliban und den west­li­chen Armeen, dauerte nur wenige Monate; dann ein müder, aber dennoch unun­ter­bro­chener Tropf von Spreng­fallen und Auto­bomben, der keine nennens­werten Ergeb­nisse brachte. Die Ameri­kaner und ihre west­li­chen Verbün­deten blieben so lange, bis sie das Gefühl hatten, dass zu viel Geld ausge­geben worden war. Dann wünschten sie Achraf Ghani alles Gute und über­gaben das Land, nicht einmal zu heim­lich, an die einzige orga­ni­sierte Kraft, die es zu einen vermag, die Islamisten.

Und die Afghanen? Was wird mit den Afghanen geschehen, die wir jahre­lang, wie uns die Medien erzählen, mit Träumen und Hoff­nungen erfüllt haben? Wie üblich werden wir immer wieder mit dem klas­sischsten aller Fehler konfron­tiert: den Erzäh­lungen zu glauben. Sind wir wirk­lich sicher, dass wir, wie uns Anfang der 2000er Jahre gesagt wurde, nach Afgha­ni­stan gegangen sind, um „die Frauen zu befreien“ und dort Demo­kratie zu schaffen, in einer Art zentral­asia­ti­scher Neuauf­lage des Zweiten Welt­kriegs? Dennoch hat Afgha­ni­stan weder die Scharia abge­schafft, die von Karzai mit der Verfas­sung von 2004 bekräf­tigt wurde, noch die Todes­strafe, noch hat es jemals Homo­se­xua­lität entkri­mi­na­li­siert, noch wurde die Burka jemals verboten (wenn über­haupt, wurde die Pflicht abge­schafft, was eine ganz andere Sache ist, aber nur wenige haben einen Unter­schied in den Straßen von Kabul und den afgha­ni­schen Dörfern bemerkt). Ganze Provinzen sind stets unter der Kontrolle der Taliban oder dschi­ha­dis­ti­scher Gruppen (einschließ­lich des Isla­mi­schen Staates) geblieben. Welchen Sinn hat es also, bittere Kroko­dils­tränen über das Schicksal von „Männern, Frauen und jungen Afghanen, die ein anderes Leben gekostet haben“ zu weinen? Über wen reden west­liche Poli­tiker, wenn sie diese Worte und diesen emotio­nalen Jargon verwenden?

Leider ist auch die rechte Mitte nicht gegen solche Verzer­rungen gefeit. Von vielen Seiten, selbst von so genannten souve­ränen Popu­listen, wird gefor­dert, dass die Afghanen, die von einem anderen Leben träumten, nicht den Taliban-Horden ausge­lie­fert werden sollten. Sehr gut. Was sind die Lösungen? Der Progres­si­vismus hat einen, immer den einen, und der heißt unter­schieds­lose Aufnahme. Es ist eine unhei­lige Antwort auf ein unlös­bares Problem, aber sie ist zumin­dest mit der Welt­an­schauung der poli­ti­schen Kräfte, die sie vorschlagen, vereinbar. Was schlagen dagegen die Kräfte von Mitte-Rechts und Rechts vor? Ist es wirk­lich möglich, all dieje­nigen in Europa will­kommen zu heißen, die sich zumin­dest theo­re­tisch gegen das Regime der Mullahs gestellt haben und stellen? Und warum in Europa und nicht in den rund ein Dutzend absolut fried­li­cher musli­mi­scher Länder, die zwischen dem Alten Konti­nent und Afgha­ni­stan liegen?

Die Zwei­deu­tig­keit spielt auf einen Mangel an Mut an, der dem gesamten poli­ti­schen Vorschlag der Kräfte der euro­päi­schen Rechten zugrunde liegt, die nur in seltenen Fällen den Mut haben, zu sagen: „Die Türen sind ohne Wenn und Aber geschlossen“, und sich eher darauf beschränken zu sagen: „Wir nehmen nur dieje­nigen auf, die wirk­lich die Voraus­set­zungen dafür haben“. Das Problem mit Afgha­ni­stan, aber nicht nur mit Afgha­ni­stan, besteht darin, dass, da die Taliban eine terro­ris­ti­sche Diktatur sind, alle 38 Millionen afgha­ni­schen Staats­bürger in Europa Asyl bean­tragen können, was viel klingt, aber nicht über­trieben ist. Niemand sollte unter einem Regime isla­mis­ti­scher Tyrannei leben müssen, aber nirgendwo steht geschrieben, dass jeder das Recht hat, anders­wohin auszu­wan­dern, um dem zu entgehen.

Ein solcher Surrea­lismus mag fort­schritt­li­chen Kräften zuge­standen werden, aber nicht denen, die zumin­dest in Worten behaupten, Kohä­renz zu ihrem Banner zu machen: Warum also nur Afghanen? Fünf­und­dreißig Millionen Saudis leben unter einem Regime, das dem afgha­ni­schen ähnelt, wollen wir sie allein lassen? Wer denkt an die Träume der Frauen von Riyadh? Und was ist mit den 83 Millionen Iranern? Haben sie nicht auch ein Recht darauf, das Para­dies der Rechte zu genießen, das sich der Westen nennt?

Wir müssen uns wieder zurecht­finden. Jahre der media­ti­sierten Politik und schließ­lich der Instant-Politik auf sozialer Ebene haben zu einer gefähr­li­chen Senti­men­ta­li­sie­rung der Politik geführt: Wir haben die Staats­räson, die nur den Bürgern gegen­über verant­wort­lich ist, aus den Augen verloren, um uns den Gründen des Herzens und der Empa­thie zuzu­wenden. Über die Ursa­chen dieses Phäno­mens ließe sich viel sagen, aber vor allem können wir uns daran erin­nern, dass es nicht die Aufgabe der Politik ist, Seelen in den Himmel zu schi­cken. Wie im Fall von Patrick Zaki bereitet das Mitleid mit den Afghanen in Wirk­lich­keit auf etwas ganz anderes vor: Haben die Souve­rä­nisten bereits die Wellen von „Syrern“ vergessen, die sich über den Balkan, Mittel­eu­ropa und den Nord­osten unserer Halb­insel ergossen haben?

Das Wehklagen über das ideo­lo­gi­sche Debakel des Westens wird zu keinem anderen prak­ti­schen Ergebnis führen als zur Opti­mie­rung des bereits gut geölten Rezep­ti­ons­me­cha­nismus; in einem Klima der Akzep­tanz der Para­digmen der Gegner kann sich kein alter­na­tives Denken entfalten. Die rechte Mitte soll sich entscheiden, ob sie wirk­lich eine Alter­na­tive zum Progres­si­vismus sein will oder nur dessen leichte, grausam-freie, versüßte und umsich­tige Version.

Marco Mala­guti ist seit über zehn Jahren in den Berei­chen Politik, Kultur und Meinungs­bil­dung tätig. Mitbe­gründer und Animator des Infor­ma­tions- und Analy­se­por­tals Progetto Prometeo. Der Philo­so­phie­stu­dent beschäf­tigt sich seit Jahren mit dem Thema der Aufar­bei­tung des Nihi­lismus und der deut­schen roman­ti­schen Philosophie.

Dieser Beitrag erschien zuerst bei CENTRO MACHIAVELLI, unserem Partner in der EUROPÄISCHEN MEDIENKOOPERATION.


4 Kommentare

  1. Wenn oben geschrieben wird “ zogen sich die Isla­misten einfach in ihre Häuser zurück “ , mag viel­leicht sein – aber wo waren dann ihre Waffen ? Heute sieht man alle Talliban mit Maschi­nen­ge­wehren rumstehen, hatte sie diese vergraben ? Ich möchte eher behaupten, dass für so ein großes Land eigent­lich zu wenige west­liche Soldaten dort waren. Auch wenn man das mal vergleicht mit dem Einsatz 1945. Damals wurde wohl jedes kleinste deut­sche Dorf besetzt und das war bei der Solda­ten­an­zahl in Afgha­ni­stan nicht möglich – viel­leicht war das der Hauptfehler.

  2. Lasst die in Öfghö­nisan – auch deren Woiber schreien Dir giftig entgegen „Du belei­digst meinen Pröpheten, Du belei­digst meine Röli­giön“, wenn man auch nur ansatz­weise mal anregt, diese soge­nannte Röli­giön zu über­denken. – Die sind alle gehirn­ge­wö­schen seit Möhämmed und wollen genau das – die Männer dort wie die Woiber dort – m. E..

  3. Zum Thema:
    „Auf der Suche nach einer Position“
    Bundes­kanzler viel­leicht? Eine Staats­füh­rung von Erichs Gnaden haben wir bald hinter uns gebracht, nun kann die afgha­ni­sche Version getestet werden. 

    „Dennoch hat Afgha­ni­stan weder die Scharia abgeschafft“
    Das passt schon. In Deutsch­land wurde die Scharia neu eingeführt.

  4. „Kabul ist gefallen“

    Der Artikel fängt ja gut an. Afgha­ni­stan war unter unfrei­wil­liger US-ameri­ka­ni­scher Besa­tung. Seit wann sagt man „gefallen“, wenn eine Besat­zungs­macht ein besetztes Land verlässt? Das sind doch völlig neue Kunst­worte des Main­streams. Geschaffen, um das Volk zu vera*schen. Arm, wenn man dieses System­gender nicht nur mitmacht, sondern auch noch weiter­ver­breitet. Außerdem wäre da ohnehin nichts „gefallen“, sondern aktuell wird eine im Februar 2020 zwischen den Taliban und Washington ausge­han­delte Verein­ba­rung umgesetzt.

    Hier lesen, ich schreiben das jetzt nicht noch einmal.
    unser-mitteleuropa.com/pariser-gericht-verweigert-visum-fuer-afghanische-hilfskraft-der-franzoesischen-armee/#comment-22018

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