web analytics
Bildquelle: VP

Könnte sich die PiS, die die EU-Mitgliedschaft bisher bedingungslos unterstützt hat, in der Frage des Polexit ihre Meinung ändern? Nach der Bekanntgabe der Forderung der Europäischen Kommission nach einer täglichen Geldstrafe gegen Polen wegen seiner Justizreform deutete der Vorsitzende der PiS-Fraktion im Sejm, Ryszard Terlecki, dies an und sagte: „Wir sollten darüber nachdenken, wie wir so weit wie möglich zusammenarbeiten können, damit wir alle in der EU sind, aber damit diese Union für uns akzeptabel ist“, und fügte hinzu: „Wenn sich die Dinge so entwickeln, wie es scheint, werden wir nach drastischen Lösungen suchen müssen.“ Diese Worte wurden von der Opposition als Drohung mit Polexit interpretiert, zumal Terlecki dann das britische Beispiel anführte: „Die Briten haben gezeigt, dass ihnen die Diktatur der Brüsseler Demokratie nicht liegt. Sie kehrten ihr den Rücken zu und gingen. Wir wollen nicht weg. Die Unterstützung für die EU-Mitgliedschaft ist in unserem Land sehr groß. Aber wir dürfen uns nicht in etwas hineinziehen lassen, das unsere Freiheit und Entwicklung einschränkt.

Eine Umfrage der Zeitung Rzeczpospolita vom Juli ergab, dass heute nur 17 % der Polen einen Austritt aus der EU befürworten würden. Das ist nicht viel, aber ein deutlicher Anstieg gegenüber den 7-8 % in zwei Umfragen im Herbst 2020. „Das jahrelange Gerangel mit Brüssel zeigt Wirkung. Nur die Hälfte der Polen vertraut der EU“, titelte schon die Zeitung Rzeczpospolita im Mai nach der Veröffentlichung der jüngsten Eurobarometer-Umfrage, aus der hervorging, dass das Vertrauen in die Europäische Union in Polen im vergangenen Jahr am stärksten gelitten hat. Nur noch 50% der Polen vertrauen der EU (ein Minus von 6 Punkten), während 38% ihr nicht vertrauen und 12% keine Meinung dazu haben. Die Polen, die traditionell (wie die meisten Völker des ehemaligen kommunistischen Blocks) überwiegend EU-freundlich sind, liegen nun weit hinter dem europhilsten Land (den Portugiesen mit 78 % Vertrauen in die EU) zurück.

Im Gegensatz zu dem, was die liberale und linke Opposition zu glauben versucht, die der Partei von Jarosław Kaczyński seit 2015 vorwirft, sie wolle Polen, ohne es zuzugeben, zum Austritt führen, hat die PiS immer die EU-Mitgliedschaft befürwortet, die ihrer Ansicht nach im strategischen Interesse Polens liegt und zudem von der großen Mehrheit der Wähler gewünscht wird. Der Regierungssprecher von Mateusz Morawiecki, Piotr Müller, bekräftigte dieses Engagement nach der vom Vorsitzenden der PiS-Fraktion im Sejm ausgelösten Kontroverse. Er versicherte, dass Warschau nicht die Absicht habe, die EU zu verlassen, dass es allerdings nicht darum gehe, alles, was von Brüssel auferlegt werde, „wie in der Ära Tusk“, kleinlaut zu akzeptieren.

Bisher war nur die Opposition rechts von der PiS, d.h. die Konfederacja (Koalition aus Nationalisten und Libertariern), mit 11 Abgeordneten im Sejm (von 460) für den EU-Austritt. Die Diskussion über die Möglichkeit eines Austritts aus der EU und die Notwendigkeit, sich in Konflikten mit Brüssel diese Lösung notfalls vorzubehalten, wurde jedoch vor fast einem Jahr von der liberal-konservativen Wochenzeitung Do Rzeczy angestoßen, die regelmäßig als einflussreichste Wochenzeitung in Polen gilt, was die Anzahl der Zitate in anderen Medien angeht. Nachdem sie es gewagt hatte, die Debatte zu eröffnen, wurde Do Rzeczy Anfang August von Donald Tusk, dem ehemaligen Präsidenten des Europäischen Rates und derzeitigen Vorsitzenden der Bürgerplattform (PO), einer liberal-libertären Partei, die zunehmend euroföderalistisch eingestellt ist (im Gegensatz zur sozialkonservativen PiS, die eine Europäische Union bevorzugt, die die nationale Souveränität stärker respektiert), beschuldigt, ein Vertreter der „russischen Ordnung“ zu sein. In Anlehnung an die Rhetorik der Opposition, die ihre Anhänger davon abhalten will, sich an die „schlechten“ Medien zu wenden, nutzte Tusk die Gelegenheit, diese Wochenzeitung als „Sprecher der PiS“ zu bezeichnen. Dies ist völlig ungerechtfertigt, da die PiS in dieser Wochenzeitung oft heftig kritisiert wird, u.a. gerade wegen der Zugeständnisse, die sie gegenüber Brüssel gemacht hat (aber auch z.B. wegen ihrer allzu „sozialistischen“ Wirtschaftspolitik und ihrer Anti-Covid-Politik, die als übermäßig hysterisch gilt und die bürgerlichen Freiheiten untergrabe). All dies zeigt, dass die von Do Rzeczy angestoßene Debatte keine PiS-Debatte ist, sondern eine Debatte innerhalb der polnischen konservativen Rechten. Und das ist die Neuheit.

Es sei auch daran erinnert, dass die PiS-Fraktion im Parlament aus Abgeordneten der PiS und dreier kleinen verbündeten Parteien besteht, darunter die Partei Solidarna Polska von Justizminister Zbigniew Ziobro. In einem Interview mit der Zeitung Rzeczpospolita, das am 5. August veröffentlicht wurde, wies Ziobro darauf hin, dass, wenn die Folgen des Klima-Energie-Pakets berücksichtigt werden, der Zeitraum, der vom EU-Haushalt 2021-27 abgedeckt wird, das erste Mal wäre, dass die EU-Mitgliedschaft Polen mehr kosten würde, als sie in Form von Subventionen und anderen Hilfen einbringen würde. „Polens Mitgliedschaft in der EU wird immer teurer“, betonte er und verwies auf Berechnungen von Wirtschaftswissenschaftlern, die auf einen negativen Saldo der Finanztransfers aus Westeuropa in die ehemaligen osteuropäischen Länder (einschließlich Polen) hindeuten, wenn nicht nur die EU-Mittel, sondern auch die Transfers von Unternehmen berücksichtigt werden.

Auf die Frage „Sollen wir um jeden Preis in der EU sein?“, antwortete Ziobro am 5. August: „Wir müssen uns bemühen, unsere Rolle und Position in der EU um jeden Preis zu verteidigen. Andernfalls werden Polen und die Polen durch die Mitgliedschaft in der EU verlieren. Also: EU-Mitgliedschaft ja, aber nicht um jeden Preis. Dies ist der Standpunkt von Solidarna Polska, denn ich spreche hier nicht im Namen der Regierung oder der anderen Koalitionsparteien.“

Ohne Ziobros Partei verfügt die PiS-Fraktion allerdings nicht über die Mehrheit im Parlament. Und den Umfragen zufolge kann die von der PiS geführte Koalition der Vereinigten Rechten, zu der nun auch Solidarna Polska gehört, nach den nächsten Parlamentswahlen möglicherweise nicht mit einer absoluten Mehrheit rechnen. Der einzige mögliche Verbündete wäre die Konfederacja, die viel euroskeptischer ist als Ziobro und dessen Partei. Bis dahin könnte die unaufhörliche Einmischung Brüssels in die inneren Angelegenheiten Polens einen noch größeren Teil der Wählerschaft für einen Polexit gewonnen haben.

Fazit: Auch wenn der Polexit derzeit absolut nicht auf der Tagesordnung steht, beginnt sich in den Reihen der polnischen Rechten im weitesten Sinne zum ersten Mal seit dem EU-Beitritt 2004 ein Nachdenken über dieses Thema zu entwickeln.

3 Gedanken zu „Polexit-Option ist im rechten Lager kein Tabu mehr“
  1. Solange Deutschland Finanzhilfen (u.a. 100-150? Mio. €Kindergeld/Jahr) nach Polen transferiert, werden sich die Polen den Austritt zweimal überlegen. Aber ein Ausstieg der Polen wäre für den Deutschen Steuerzahler und für die Polnische Unabhängigkeit durchaus vorteilhaft.

    3
    1

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert