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Karte: Russland’s 14 Nachbarländer; Quelle: Stepmap.de

Geographische und demographische Faktoren Russlands
Politische Geographie: Fallstudie Russland – Teil 2

Im Verlaufe der Neuzeit und in dem Masse, wie sich Russland über die Jahrhunderte nach Zentralasien und Sibirien ausdehnte, wurde eben dieses Land zunehmend zentral im Verständnis der politischen Geographie Eurasiens, also des geopolitischen Schlüssel-Kontinents. Aufgrund seiner massiven territorialen Ausdehnung, seines enormen Reichtums an Bodenschätzen, sowie seiner strategisch positionierten Lage als natürliche Landbrücke zwischen Europa und Ostasien erlangte Russland im Verlaufe des 19. Jahrhunderts nicht nur eine internationale Bedeutung als Großmacht, sondern es spielte auch eine wichtige Rolle in der Balance der Weltmächte insgesamt. Und kein anderer Faktor als die Geographie hat dies mehr mitgeprägt. Was Russland betrifft, so bezeichnet die Geographie jedenfalls ein Universum für sich!

Zunächst fällt bei der Betrachtung der politischen Weltkarte auf, dass Russland mit Abstand das territorial größte Land der Erde ist, und dass es mit Ausnahme von Skandinavien fast den gesamten nördlichen Teil Eurasiens abdeckt. Selbst im Rahmen der nördlichen Hemisphäre stellt das russische Territorium einen herausragenden Brocken dar. Nicht nur ist Russland mit seinen kolossalen 17,1 Mio. km2! ein regelrechter territorialer Gigant, v.a. innerhalb Eurasiens, das selbst auch den größten und geographisch zentralsten Kontinent der Welt darstellt; das Land erstreckt sich wie angedeutet gar über zwei Kontinente hinweg (Europa und Asien), was sonst kein anderes Land der Erde schafft – es sei denn, man argumentiere, dass Russland ein von Europa wie Asien ‘separater Weltteil’ darstelle, wie es bisweilen in westlichen Wissenschaftskreisen tendenziell und implizit repräsentiert wird (was hingegen aus dem Blickwinkel der Geographie keinen eigentlichen Sinn macht; bzw. das einzige Land, das gleichzeitig auch einen separaten Kontinent bildet, ist Australien). Als Vergleich bemisst sich die Landesfläche von Kanada, also des zweitgrößten Landes, auf gerade mal 10 Mio. km2, gefolgt von den USA (9.8 Mio. km2), China (9.6 Mio. km2), und Brasilien (8.6 Mio. km2). Man halte sich fest: Russlands Luftlinie von West nach Ost misst satte 7’000 km. Dies entspricht jener von Kairo nach Kapstadt, und somit hätte Afrika, beinahe quer gelegen, Platz im russischen Territorium. Und die Luftlinie von Norden nach Süden bemisst sich in Russland auf 4.500 km, was wiederum derjenigen von Los Angeles nach New York entspricht und somit bedeutet, dass man die USA, um 90 Grad gedreht, innerhalb von Russlands Territorium platzieren könnte – also von dessen nördlichstem Zipfel beim Arktischen Meer bis zu seinem südlichsten Pol in Zentralasien; all jene, die mal die Reise von der Amerikanischen Ost- an die Westküste unternommen haben (oder umgekehrt), egal mit welchen Mitteln, mögen sich bestimmt an solche räumlichen wie zeitlichen Distanz erinnern!

Kurz: Russland hält geographisch fast alle Rekorde. Seine Landesgrenze ist denn so lange, dass sie sich fast eineinhalb Mal um den Äquator spannen ließe (57’000 km), wobei alleine der ans Meer grenzende Anteil (37’000 km) beinahe so lange ist wie der Erdumfang! Entsprechend misst seine kontinentale Landesgrenze entlang des euroasiatischen Festlandes sage und schreibe den halben Erdumfang (20’000 km), was mit Abstand die längste Landes-Innengrenze der Welt darstellt. Zum Vergleich: Während die längste kontinentale Landesgrenze weltweit zwischen zwei souveränen Staaten, nämlich diejenige zwischen den USA und Kanada, 8.900 km beträgt (einschließlich der Grenze zwischen Kanada und dem Bundesstaat Alaska, also eines verhältnismäßig großen US-Bundesstaates und der ferner im 19. Jahrhundert von Russland an Amerika verkauft wurde!), erstreckt sich Russlands gemeinsame Grenze alleine mit Kasachstan auf 7’000 km. Während hingegen Kanada, also das territorial zweitgrößte Land der Erde, eigentlich nur die USA als direktes Nachbarland aufweist, sind es im Fall von Russland ganze 14 Nachbarländer. Schließlich grenzt Russland an nicht weniger als 10 Meere, inklusive das Schwarze Meer und das Kaspische Meer, den Pazifik noch nicht einmal mitgezählt!

Dabei verläuft Russlands Landesgrenze entlang von so unterschiedlichen Nachbarstaaten wie Norwegen und Nordkorea, und während in sämtlichen seiner 14 Nachbarstaaten je eigene nationale Sprachen gesprochen werden, gilt das Russische im Falle der meisten der ehemaligen Sowjetrepubliken, wenn nicht de jure, aber de facto noch immer also die zweite offizielle Landessprache (siehe auch die Karte weiter unten, die die vergleichende Ausdehnung der heutigen russischen Föderation und der ehemaligen Sowjetunion darstellt). Somit ist das Russische auch mit Abstand die am weitesten verbreitete Sprache im Rahmen einer integrierten kontinentalen Zone. Andere Europäische Sprachen wie etwa das Englische, aber auch das Spanische oder  Französische haben sich global z.T. noch weiter ausdehnen können, jedoch nur aufgrund einer maritimen Ausweitung nach ‘Über-See’. In diesem Sinne kann man selbst die Vereinigten Staaten linguistisch als ein Territorium betrachten, das historisch betrachtet zum Britischen Imperium und Commonwealth gehörte und im Rahmen dessen bekanntlich «die Sonne nie unterging»; und genau gleich könnte man die Geschichte eben dieser Politischen Geographie noch weiter zurück deuten, und entlang der linguistischen Linie, nämlich mit der Ausdehnung der englischen Sprache ursprünglich von England auf die Britischen Inseln, bzw. das Vereinigte Königreich.

Karte: Territoriale Ausdehnung von Russland im Vergleich zur Sowjetunion.
Quelle: Wikipedia.

Zwischen Russlands Angrenzung sowohl an Westeuropa als auch Nordamerika (Alaska) liegen seine Nachbarländer denn auch entlang politisch, kulturell, und klimatisch bunt zusammengewürfelten Regionen wie Skandinavien, dem Baltikum, Osteuropa, Zentralasien, und Ostasien. Während die Länge von Russlands gemeinsamen Grenzen auch mit China (4’200 km) sowie der Mongolei (3’500 km) im internationalen Vergleich weit vorne mithalten und Russland historisch nicht nur vom Mongolischen Reich, sondern auch von anderen Mächten mehrfach existentiell bedroht wurde, entstand interessanterweise entlang von Russlands Landesgrenzen nie so etwas wie eine ‘Chinesische Mauer’. Wiederum in Europa erstreckt sich Russlands Landesgrenze selbst mit der heute – von Russland unabhängigen! – Ukraine auf beinahe 2’000 km, was der längsten Landesgrenze zwischen zwei souveränen Staaten in Europa entspricht. Zum Vergleich ist die Landesgrenze zwischen Norwegen und Schweden 1’600 km lang, und diejenige zwischen Deutschland und Frankreich, also der beiden zentralen Eckpfeiler der Europäischen Union, und die sich im Verlaufe der jüngeren Neuzeit häufig bekriegten, gerade mal 450 km.

Dabei ist Russlands gewaltige territoriale Dimension ein verhältnismäßig altes Phänomen, denn bereits vor Ablauf des 17. Jahrhunderts hatte es seine heutige Ausdehnung erreicht, also zu einer Zeit, als z.B. die Vereinigten Staaten noch unter Britischer Kolonialer Herrschaft war und der Bärenanteil Nordamerikas unter Französischer sowie Spanischer Herrschaft lag.

Umgekehrt erreichte Russland im 20. Jahrhundert und zur Zeit der Sowjetunion eine noch wesentlich größere Ausdehnung, was auf der folgenden Karte veranschaulicht wird.

Je nach dem könnte in diesem Zusammenhang ferner noch auf den Warschauer Pakt (1955-1991) hingewiesen werden (siehe auch die folgende Karte), also der Militärallianz der Sowjetunion, die im Kalten Krieg in Europa der NATO gegenüberstand. Denn hiermit entstand in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch ein größerer Staaten-Block, der nicht nur von Moskau aus organisiert war, sondern innerhalb dessen sich auch die Russische Sprache weiter ausdehnte bis nach Mitteleuropa, also etwa bis nach Berlin und der ehemaligen DDR.

Karte: Territoriale Ausdehnung des Warschauer Paktes; Quelle: Wikimedia.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion und der darauffolgenden Auflösung des Warschauer Paktes im Jahre 1991 setzte sodann ein in umgekehrter geographischer Ausrichtung erfolgender Prozess ein, bei dem sämtliche jener nun unabhängigen Mittel-Ost-Europäischen Staaten, die bis zum Ende des Kalten Krieges zum Warschauer Pakt gehörten, bzw. die im Verlaufe des 2. Weltkrieges (Bulgarien, Moldawien, Polen, Ost-Deutschland, Rumänien, Ungarn) und z.T. auch während des Kalten Krieges von der UDSSR besetzt wurden (damalige Tschechoslowakei, 1968), sowie die drei Baltischen Staaten, die vormals gar zur Ex-Sowjetunion gehörten, sowohl der NATO als auch der EU beitraten, mit dem Resultat, dass die aktuellen östlichen Außengrenzen dieser neuen, sogenannten Euro-Atlantischen Staatengruppe, deren Epizentrum Brüssel ist, gleich bis an Russlands Landesgrenze reicht.

Noch während der Verhandlungen zwischen den Vereinigten Staaten und der vormaligen Sowjetunion zur Wiedervereinigung des seit dem Ende des 2. Weltkrieges geteilten Deutschlands insistierten die Amerikaner darauf, dass insbesondere das wiedervereinigte Deutschland der NATO einverleibt werden solle. Hiermit folgten sie denn auch jener Anglo-Amerikanischen Geostrategie in Kontinental-Europa, die im Ersten Teil angesprochen wurde, deren oberstes Ziel es ist seit gut 200 Jahren, dass die beiden wichtigsten Kontinentalmächte in Europa, Deutschland und Russland, keine strategische Zusammenarbeit anstreben können. Dabei darf nicht vergessen werden, dass nebst Russland eben gerade Deutschland seit dem 20. Jahrhundert zur herausragendsten Rivalin sowohl von Großbritannien als auch der USA herausgewachsen war, und dass jenseits der Alliierten-Banden auch heute noch starke geo-ökonomische Spannungen herrschen innerhalb des NATO-Bündnisses, und angesichts der zunehmenden technologischen und realwirtschaftlichen Dominanz Deutschlands.

Als eine herausragende zeitgenössische Illustration hierfür könnte man den Vortag von George Friedman erwähnen, also dem Gründer von StratFor, im Chicago Council anlässlich des Krisen-Eskalation in der Ukraine (2014), der den provokativen Titel trägt «Europe, Destined for Conflict?» (https://www.youtube.com/watch?v=QeLu_yyz3tc), und im Rahmen dessen der renommierte amerikanische Geostrategie-Berater nicht nur versucht, Siemens gegen Google auszuspielen, sondern implizit darlegt, dass es für die Atlantische Gemeinschaft darum geht, eben nicht nur Russland sondern vor allem auch Deutschland einzudämmen. Dass dies jedoch historisch gesehen immer schon ein explizites Motto war, dies demonstrierte niemand anders als der erste Generalsekretär der NATO, General Hastings Ismay, der diese geopolitische Grundregel der Atlantischen Seemächte in Europa mit der Gründung der NATO selbst in Verbindung brachte, bzw. hiermit deren raison d’être markierte: «to keep the Soviet Union out (from Europe), the Americans in, and the Germans down!»

Wenn man jedenfalls in Rechnung stellt, dass die Russische Föderation auch nach dem Zerfall der Sowjetunion eine nukleare Supermacht geblieben ist und hier weiterhin mit den USA auf gleicher Ebene steht und beide Staaten hiermit auch heute noch eine exklusiv hohe Anzahl an Nuklearwaffen aufweisen, dann weist es im Vergleich zu den anderen vier führenden Nuklearmächten und permanenten Mitgliedern im UNO-Sicherheitsrat (USA, Großbritannien, Frankreich, China) ein verhältnismäßig dezentralisiertes und heterogenes Verwaltungssystem auf, einschließlich vier Autonome Kreise (Awtonomnyj Okrug), neun Regionen (Kraj), 46 Gebiete (Oblast’), sowie drei Städte mit Sonderstatus (Moskau, Sankt Petersburg, Sewastopol).

Auch bleibt Russland trotz seiner mehrheitlich europäisch geprägten Demographie (wie weiter unten vermerkt) ein Vielvölkerstaat, und insbesondere Sibirien weist eine hohe ethnischen Diversität auf. Auch Zentralasien und die Kaukasus-Region, wo Russland seit längerem als dominante Regionalmacht Einfluss nahm, war schon immer von diversen ethnischen Volksgruppen beheimatet. Im Verlaufe der territorialen und imperialen Ausdehnung Russlands in Eurasien gab es hingegen nie einen Völkermord an lokalen Bevölkerungsgruppierungen, jedenfalls nichts was nur annäherungsweise mit den Zuständen in Nordamerika vergleichbar wäre. Umgekehrt erhielt Russland bis zur Entstehung der Sowjetunion immer schon einen stetigen Bevölkerungszustrom insbesondere aus Westeuropa, und nur schon seine deutschstämmige Bevölkerung (siehe etwa die Wolga-Deutschen) ist beachtlich.

Die wohl charakteristischste Eigenschaft der physischen Geographie Russlands steht im Zusammenhang mit den spezifischen klimatischen Bedingungen des Landes, ganz besonders was das weitflächige Sibirien östlich des Urals anbelangt, wo im Winter arktische Temperaturen herrschen. Während das Thermometer in den nordöstlichen Teilen Sibiriens auf unter 60 Grad Celsius fallen kann, bleiben in gewissen Teilen die Jahresdurchschnitt-Temperaturen unter -15 Grad Celsius. Es sind denn auch die Jahresmitteltemperaturen (siehe die folgende Karte), die immer schon dafür sorgten, dass sich der Bärenanteil von Russlands Bevölkerung auf die in Europa liegende westliche Zone konzentrierte. Seit der Aufzeichnung meteorologischer Daten zu Beginn des 19. Jahrhunderts bemisst sich Russlands Jahresdurchschnittstemperatur auf ein Mittel von -5,52 Grad Celsius; während im selben Zeitraum das monatliche absolute Maximum lediglich 16,89 Grad Celsius betrug (Juli 2010), sank das absolute Minimum auf sage und schreibe -30,58 (Januar 1838); hierzu wäre allenfalls beizufügen, dass dieser Tiefpunkt in die Kleine Eiszeit fiel, die bis Mitte des 19. Jahrhunderts andauerte.

Karte: Jährliche Durchschnittstemperatur in Russland; Quelle: russian-realestate.com/air-temperature-in-russia%5B/caption%5D

Die äußerst kalten Wintermonate speziell im sibirischen Teil haben dazu geführt, dass sich nicht nur die große Mehrheit der Bevölkerung, sondern auch der Großstädte und Industriezonen auf die westlichen und südlichen Gebiete konzentrieren. Das Paradox Russlands politischer Geographie besteht darin, dass es territorial zwar mehrheitlich zu Asien gehört und dort praktisch ganz Nordasien umfasst, andererseits jedoch die überwiegende Mehrheit der Menschen im Europa zugewandten Teil westlich des Urals angesiedelt ist, also jenes Gebirgszuges, der geographisch Europa von Asien trennt. Somit ist Russland politisch, wirtschaftlich, und kulturell im Kern ein europäisches Land. Russland wurde schon vor über 1000 Jahren von Byzanz aus christianisiert (siehe: Kiewer Rus) und weist heute die größte orthodoxe Glaubensgemeinschaft des Christentums auf. Europas Zivilisationsgeschichte wäre jedenfalls undenkbar ohne den russischen Beitrag zur Wissenschaft, Literatur, bildenden Künste, klassischen Musik, sowie natürlich das Bolschoi Theater!

Karte: Bevölkerungsverteilung in Russland: Quelle: de.maps-russia.com/russland-bev%C3%B6lkerung-dichte-karte%5B/caption%5D

Russland ist somit nicht nur mit weitem Abstand das territorial größte Land Europas (selbst was den Europäischen Teil westlich des Urals betrifft), sondern es ist auch heute noch klar demographisch Europas größtes Land. Dabei wurde seine Demographie im Verlaufe des 20. Jahrhunderts in Europa und auch im Weltmaßstab unverhältnismäßig stark in Mitleidenschaft gezogen, ein demographischer Einbruch, der, was die absoluten Opferzahlen anbelangt, allenfalls noch von den Verhältnissen in der Volksrepublik China im selben Zeitraum übertroffen wird (siehe nebst den Folgen von Kolonisation und militärischer Besetzung jene der politischen Persekutionen insbesondere während der Kulturrevolution sowie der Ein-Kind-Politik, aufgrund derer China statistisch bis zu 100 Mio. Zivilisten, mehrheitlich Frauen verlor). Was wiederum Russland und die darauffolgende Sowjetunion anbetrifft, so belaufen sich die kumulativen Opferzahlen aufgrund der beiden Weltkriege, der Bolschewistischen ‘Revolution’ (die ferner mitten im Ersten Weltkrieg begann und von westlichen Mächten maßgeblich mitfinanziert wurde), dem darauffolgenden Bürgerkrieg, sowie von politischer Persekution auf mindestens 30 Millionen Tote kollektiver Gewalt, Soldaten wie Zivilisten. Hinzu kommt eine relativ hohe Zahl mehrheitlich ziviler Opfer von Straf- und Arbeitslagern (Gulag), Flucht, Vertreibung, und Hungersnöten, welche in Russland und der Sowjetunion die politischen und wirtschaftlichen Katastrophen sowie profunden gesellschaftlichen, wenn nicht ideologischen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts forderten.

Während es wie auch im Falle Chinas unterschiedliche Quellen-Informationen gibt und sich die Wissenschaft bis heute punkto genaue Opferzahlen jener historischen Ereignisse uneinig ist, so wird doch implizit klar, dass eine Hand von Ländern den Bärenanteil am ungeheuerlichen Gemetzel des 20. Jahrhunderts zu verzeichnen hat. Während auch Deutschland über 6 Millionen Soldaten auf den Schlachtfeldern des 2. Weltkrieges verlor, nachdem es bereits im 1. Weltkrieg stark geblutet hatte, bleiben die Zahlen der zivilen deutschen Opferzahlen rund um den 2. Weltkrieg kontrovers und jenes der Vertreibung deutschstämmiger Bevölkerungsteile nach dem Krieg gar weitgehend ein Tabu. Ähnliches könnte zu Japan angemerkt werden, u.a. was wiederum die zivilen Opferzahlen aufgrund der flächendeckenden Bombardierungen aller größeren Städte, einschließlich mit phosphorhaltigen Feuerbomben durch die US Navy (und vergleichbar mit der systematischen Bombardierung deutscher Städte) auch vor dem Einsatz der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki betrifft.

Man stelle sich im Falle des 2. Weltkrieges jedenfalls mal folgende Proportion, wenn nicht Verhältnismäßigkeit vor, zumal deswegen, weil ja nebst der Sowjetunion und anderen Alliierten gerade die USA mit Abstand zu den Hauptgewinnern der Krieges zählten, nicht zuletzt  im wirtschaftlichen Sinne (nach dem Krieg umfasste die US Wirtschaft beinahe die Hälfte des Welt-Bruttosozialproduktes und avancierte der US-Dollar bald zur dominanten Devisenwährung): während man noch ganz am Ende des 2. Weltkrieges in den USA, also auch jener Siegermacht, deren eigenes Territorium mit der Ausnahme von Hawaii (Pearl Harbor) selbst auch im Vergleich zu Großbritannien wirklich weit entfernt lag von den wichtigsten Kriegsschauplätzen, und deren zivile Bevölkerung und Infrastruktur somit praktisch unversehrt blieben, argumentierte, dass der Einsatz der Atombombe gegen Japan bis zu einer Million Amerikanischer Soldaten den Tot ersparen würde, verlor alleine die Sowjetrepublik Kasachstan im Krieg genauso viele Soldaten wie letztlich die USA im Krieg insgesamt, d.h. alle gefallenen US-Soldaten an beiden Fronten in Europa und dem Pazifik zusammen genommen (ca. 400’000). Und während die Sowjetunion die historische Rekordsumme von 12 Millionen Soldaten (etwa doppelt so viel wie Deutschland) in diesem bisher verheerendsten Krieg der Menschheitsgeschichte verlor, hiermit aber umgekehrt auch entscheidend zur Aufreibung der Wehrmacht und schließlich zum Sieg gegen Nazi-Deutschland beitrug, verlor sie ebenso viele Zivilisten, u.a. aufgrund des von den Nazis gegen ost-slawische, mehrheitlich orthodoxe Länder und Völker geführten totalen Vernichtungsfeldzuges. Um die apokalyptische Dimension dieses Kriegsverbrechens zu illustrieren: die damalige Sowjetrepublik Weißrussland alleine verlor während dieses Horrors einen Drittel seiner Bevölkerung! Solch extreme demographischen Statistiken kennt man allenfalls noch von der Schwarzen Pest im Mittelalter. Jedenfalls wären somit die insgesamt zwölf Millionen gewaltsam zu Tode gekommenen unbewaffneten slawischen Zivilisten doppelt so viel im Vergleich mit der bereits schon horrenden Zahl an Opfern (sechs Millionen), die die jüdische Bevölkerung Europas durch den ebenso von den Nazis inszenierten Holocaust erlitt!

All dies zeigt jedenfalls, dass die geographische Position eines Landes direkte Auswirkungen auch auf seine allgemeine demographische Entwicklung hat, und dass dieser Faktor häufig noch weit gewichtiger in Erscheinung tritt als wirtschaftliche oder politische Faktoren. Hätte Russland etwa wie z.B. im Falle der USA sozusagen von einem ‘weit entfernten’ Kontinent aus an den hauptsächlichen kriegerischen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts teilnehmen können, wäre seine Bevölkerung heute ungefähr doppelt so groß, bzw. beinahe gleich groß wie diejenige der heutigen USA (300 Mio.), selbst v.a. dann, wenn man in Rechnung stellt, dass es wirtschaftlich stärker gewachsen wäre im selben Zeitraum und hiermit auch eine größere demographische Zuwanderung erfahren hätte. Dabei bleibt auch Russlands heutige Bevölkerung von 145 Mio. noch immer stark rückläufig aufgrund der Altlasten der Sowjetunion sowie der direkten Folgen der in den 1990er Jahren durch den Internationalen Währungsfonds verhängten ‘Strukturellen Anpassungsprogramme’, die das post-sowjetische Russland beinahe zurück auf den Stand eines Entwicklungslandes geworfen hätt. Statistisch verlor Russland seit dem Ende des Kalten Krieges 1991 ca. eine Million Menschen pro Jahr. Und selbst hiermit ist Russland noch so groß wie diejenige der beiden demographisch größten Länder Westeuropas zusammengenommen, Deutschland (82 Mio.) und das Vereinte Königreich (63 Mio.).

Ansonsten aber blieb Russland immer schon aufgrund seines immensen Territoriums und v.a. dem Umstand, dass weite Teile praktisch unbewohnbar sind, ein insgesamt dünn besiedeltes Land. Im krassen Gegensatz etwa zum dichtesten bevölkerten Land der Erde, Bangladesch, das ungefähr dieselbe Bevölkerungsgröße aufweist (155 Mio.) wie Russland, jedoch im Vergleich winzig klein erscheint (knapp 150’000 km2), und das mit über 1’000 Bewohner pro Quadratkilometer unverhältnismäßig dicht besiedelt ist, zählt Russland gerade mal neun Bewohner pro Quadratkilometer im Schnitt, vergleichbar mit Kanada, wo durchschnittlich elf Menschen pro Quadratkilometer leben. Auch Argentiniens Bevölkerungsdichte von 15 Menschen pro Quadratkilometer wäre noch halbwegs vergleichbar. Zum weiteren Vergleich zählen die USA 35 Menschen pro Quadratkilometer, China 148, Westeuropa 183, und Indien 382. Nur gerade Island und Australien, wo auch schwierige meteorologischen Bedingungen herrschen, sind mit je drei Bewohnern pro Quadratkilometer noch dünner besiedelt als Russland, während die Gesamtbevölkerung von Australien (25 Mio.), also eines der entwickeltsten Länder, und das zugleich ein separater Kontinent darstellt, unwesentlich grösser ist als Indiens Hauptstadt, New Delhi (22 Mio.)!

Schließlich ist Moskau mit seinen 12,5 Mio. Einwohnern (und weiter wachsend) klar Europas größte Stadt, ein Drittel grösser als Europas zweitgrößte Stadt, London (9.0 Mio.), gefolgt von Madrid (6.7 Mio.) und Berlin (3.8 Mio.). Und auch Russlands zweitgrößte Stadt, St. Petersburg ist mit seinen 5 Mio. Einwohnern nicht nur die viert größte Stadt Europas, sondern so groß wie Paris (2.15 Mio.) und Rom (2.85 Mio.) zusammengenommen, die Hauptstädte zweier G7 Länder. Dagegen ist Shanghais Bevölkerung fast doppelt so groß wie diejenige Moskaus und China weist heute über 100 Städte mit einer Bevölkerung von über einer Mio. Einwohnern auf, was doppelt so viel ist wie alle ein Mio.+ Großstädte Europas zusammengenommen.

Es wundert denn nicht, dass insbesondere westeuropäische Länder immer schon mit großem Staunen ihren geographisch erhabenen osteuropäischen Nachbarn betrachteten (geschweige denn das, was insbesondere im demographischen Sinne danach folgt in Richtung Asien!), und dass bei jener ‘westlichen’ Wahrnehmung viel Bewunderung, Faszination, und Attraktion, aber auch Vorsicht, Skepsis, wenn nicht Misstrauen herrschte. Auch ist Westeuropas Geographie im Vergleich zu anderen Kontinenten nicht nur territorial verhältnismäßig klein, macht sie auch einen territorial zerstückelten und hiermit relativ fragilen Eindruck (es reicht, eine Weltkarte zu betrachten). Hätte sich Russland jedenfalls im selben Masse und mit vergleichbarer Effizienz wie etwa Deutschland oder auch Japan industrialisieren können (die beiden Länder mit der größten industriellen Produktivität seit der Wende zum 20. Jahrhundert), so wäre Russland wohl zur ultimativen Hyper-Macht aufgestiegen – nicht nur in Europa, sondern im Weltmaßstab und vermutlich auch in direktem Vergleich zu den USA. Zwar holte die Sowjetunion unter Stalin gegenüber dem Westen industriell in beachtlicher Weise auf; andererseits aber hatte bereits die Russische Konstitutionelle Monarchie um die Jahrhundertwende einen makablen wirtschaftlichen Aufschwung erfahren und hätte Russland damals schon zu einer der führenden Industriellen Volkswirtschaften avancieren können, wenn nicht die kriegerischen und geopolitischen Ereignisse zu Beginn des 20. Jahrhunderts seine wirtschaftliche und demographische Entwicklung ausgebremst hätten.

Trotz der Altlasten aus der Zeit der Sowjetunion, seiner heute demographisch stark rückläufigen Entwicklung, sowie der derzeitigen harschen westlichen Wirtschaftssanktionen durch die USA und die EU, hat Russland aufgrund der sogenannten ‘Straßen- und Gürtelinitiative’ (Auch ‘Neuen Seidenstraße’ genannt), die China 2013 lancierte, neue Aussichten auf Prosperität und Anschluss an die Spitze der führenden Weltmächte. Gemäß prospektiven makroökonomischen Daten wird Russlands Wirtschaft in den kommenden zwei Jahrzehnten merklich wachsen und somit auch im Jahre 2030 noch unter den Top-10 Volkswirtschaften verbleiben und von derzeit Platz 6 auf Platz 8 wechseln, während in Westeuropa nur noch Deutschland unter den Top-10 verbleiben wird und vom derzeitigen Platz 5 auf Platz 10 rutschen wird, gleich nach Japan, das vom 4. auf den 9. Platz sinken wird. In diesem Zusammenhang wäre interessanterweise noch zu erwähnen, dass die USA bis 2030 nicht nur von China, sondern auch durch Indien überrundet sein werden. Und selbst ein Land wie die Türkei wird vom derzeitigen 9. Platz auf Platz 5 avancieren und somit nach Indonesien aber vor Brasilien stehen, während zu diesem Phänomen nicht nur die Neue Seidenstraße, sondern eben auch die zentrale geostrategische Position des Landes im logistischen Scharnier zwischen Asien, Europa und Afrika beitragen werden. Im selben Sinne, und aufgrund der Ausweitung der Neuen Seidenstraße nach Westasien und Afrika wird selbst Ägypten vom bisher 21. auf den 7. Rang vorrücken; denn auch hier wird einmal mehr in der Geschichte die exklusive Rolle und geographische Position dieses Landes als Landbrücke zwischen Afrika und Eurasien zu einem wirtschaftlichen Comeback führen.

Graphik: Die größten Volkswirtschaften im Jahre 2030; Quelle: VisualCapitalist.

Der dritte Teil dieser Studie wird denn sein Augenmerk auf die strategischen Aspekte von Russlands politischer Geographie werfen, angefangen bei seinem ausgesprochenen Reichtum an Bodenschätzen, seiner einzigartigen Rolle als Landbrücke zwischen Europa und Asien, sowie den neuen geopolitischen Parametern, die in Eurasien u.a. mit der Neuen Seidenstraße entstanden sind.

Hier sei lediglich beigefügt punkto Geographie Russlands, dass das Land mit dem Elbrus im Kaukasus (5’642 m ü. M.) und nahe der Grenze zu Georgien auch den mit Abstand höchsten Berg in Europa aufweist, beinahe tausend Meter höher als der Mont Blanc, also die höchste Erhebung in den in Westeuropa positionierten Alpen (4’808 m ü. M.). Ein schlafender Vulkanberg, ist der Elbrus ferner der höchste Stratovulkan in Eurasien. Im weltweiten Vergleich erheben sich nur die alles überragenden Gipfel des Himalaya in Asien (bis weit über 8000 Meter hoch), einige Gipfel in den südamerikanischen Anden (die über 7000 Meter reichen), sowie zwei Peaks in den Nordamerikanischen Rocky Mountains (Mount Denali, Alaska: 6140 m ü M.; Mount Logan, Canada: 5959 m. ü. M.) und auch der Kilimandscharo in Afrika (5’895 m ü. M) noch höher.

Bild: Der Berg Elbrus in Kaukasus-Gebirge;
Quelle: http://justfunfacts.com/interesting-facts-about-mount-elbrus

Teil III: Strategische Aspekte Russlands politischer Geographie

Zum Autor: Dr. Alexandre Lambert ist Akademischer Direktor des
Genfer Instituts für Geopolitische Studien (GIGS)

Die Erstveröffentlichung des Artikels erfolgte auf: www.stephanossenkopp.com

Von Redaktion

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