Polni­sches Verfas­sungs­ge­richt: EUGH hat kein Recht, seine Zustän­dig­keit zu erweitern

Polnisches Verfassungsgericht · Bildquelle: polen-heute.de

Kann die EU selbst ihre Kompe­tenzen, die sich der Kontrolle der Staaten entziehen, durch die Entschei­dungen des Gerichts­hofs der Euro­päi­schen Union erwei­tern? Diese Frage hatte das polni­sche Verfas­sungs­ge­richt zu beant­worten, als es am Mitt­woch, den 14. Juli, einen Antrag der Diszi­pli­nar­kammer des Obersten Gerichts (des polni­schen Kassa­ti­ons­ge­richts) prüfte, der vom EUGH aufgrund einer im Früh­jahr 2020 erlas­senen einst­wei­ligen Verfü­gung „ausge­setzt“ worden war. Am 3. August werden die polni­schen Verfas­sungs­richter auf ein ähnli­ches Ersu­chen von Minis­ter­prä­si­dent Mateusz Mora­wi­ecki reagieren müssen. Der Regie­rungs­chef hatte das Verfas­sungs­ge­richt ange­rufen, als der EUGH am 2. März behaup­tete, dass das polni­sche Oberste Verwal­tungs­ge­richt (NSA) das Recht habe, Ernen­nungen von Rich­tern, die nach einer Reform des polni­schen Gesetzes über den Natio­nalen Justizrat (KRS) vorge­nommen wurden, nicht anzu­er­kennen. Nach polni­schem Recht und der Verfas­sung hat die NSA keine solche Befugnis.

Aus Eifer­sucht auf den Vorrang des euro­päi­schen Rechts forderte die Euro­päi­sche Kommis­sion den polni­schen Minis­ter­prä­si­denten am 9. Juni auf, seinen Antrag zurück­zu­ziehen, was dieser jedoch ablehnte. Eben­falls am 9. Juni leitete die Kommis­sion ein Verfahren gegen Deutsch­land wegen eines Urteils des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts aus dem Jahr 2020 ein, in dem bekräf­tigt wurde, dass

die Mitglied­staaten Herren der Verträge bleiben, was bedeutet, dass die Insti­tu­tionen nicht selbst ihre Kompe­tenzen unter Miss­ach­tung von Verträgen ausweiten können, die von den 27 durch einen demo­kra­ti­schen Prozess unter­zeichnet und rati­fi­ziert wurden.

Eben­falls im Juni erin­nerte das rumä­ni­sche Verfas­sungs­ge­richt den EUGH an die Grenzen seiner Kompe­tenzen, indem es sich weigerte, die Gültig­keit seiner Entschei­dungen in Berei­chen anzu­er­kennen, die in die Zustän­dig­keit der Staaten fallen. Dies war eine ähnliche Situa­tion wie die, die den polni­schen Minis­ter­prä­si­denten dazu veran­lasste, einen Fall vor das Verfas­sungs­ge­richt seines Landes zu bringen.

In seinem Urteil vom 14. Juli erin­nerte das polni­sche Verfas­sungs­ge­richt daran, dass die vorläu­figen Maßnahmen des EUGH zur Orga­ni­sa­tion und Arbeits­weise der polni­schen Gerichte mit der polni­schen Verfas­sung unver­einbar seien, da Polen seine Kompe­tenzen in diesem Bereich nie an die EU über­tragen habe.

Eine solche Kompe­tenz­über­tra­gung könne nur durch einen Vertrag erfolgen, der nach dem übli­chen demo­kra­ti­schen Verfahren unter­zeichnet und rati­fi­ziert wird, und nicht durch eine Ausle­gung der bestehenden Verträge, die weit über den Wort­laut und den Geist der Verträge hinausgeht.

Dies ist im Wesent­li­chen das, was das polni­sche Verfas­sungs­ge­richt in juris­ti­scher Sprache unter Bezug­nahme auf die entspre­chenden Artikel der euro­päi­schen Verträge und der polni­schen Verfas­sung gesagt hat.

Es ist also ein wahrer Krieg der Gerichte, den wir heute zu erleben scheinen, denn am selben Tag, dem 14. Juli, erließ die spani­sche Vize­prä­si­dentin des EUGH (dieselbe, die nach einer Anhö­rung in einem Einzel­rich­ter­ver­fahren die Schlie­ßung des Berg­werks in Turów anord­nete) auf Ersu­chen der Euro­päi­schen Kommis­sion eine zweite einst­wei­lige Verfü­gung, mit der die Diszi­pli­nar­kammer des Obersten Gerichts Polens ange­wiesen wurde, alle Akti­vi­täten einzu­stellen. Die Kommis­sion war der Ansicht, dass die vom EUGH im letzten Jahr getrof­fenen einst­wei­ligen Maßnahmen nicht ange­wendet wurden. Und das aus gutem Grund! Wie das polni­sche Verfas­sungs­ge­richt soeben bestä­tigt hat, lässt die polni­sche Verfas­sung eine solche Über­tra­gung von Befug­nissen, die allein auf den will­kür­li­chen Entschei­dungen der Richter in Luxem­burg beruht, nicht zu.

Aber der Fall ist noch kompli­zierter, weil am nächsten Tag, also am Donnerstag, den 15. Juli, der EUGH, der diesmal nicht mit einem Einzel­richter wie im Fall der einst­wei­ligen Verfü­gungen tagte, ein Urteil in der Sache fällte und entschied, dass die Diszi­pli­nar­ord­nung für Richter in Polen nicht mit dem EU-Recht vereinbar ist.

Obwohl das polni­sche Verfas­sungs­ge­richt nur über die vom EUGH erlas­senen einst­wei­ligen Maßnahmen entschieden hat, ist das Problem bei diesem endgül­tigen Urteil dasselbe: Es entscheidet über die Orga­ni­sa­tion des polni­schen Justiz­sys­tems, ohne dass die Polen (oder irgendein anderes Volk übri­gens) irgend­welche Kompe­tenzen in diesem Bereich an die euro­päi­schen Insti­tu­tionen über­tragen haben.

Entweder werden die polni­sche Regie­rung und der Sejm nun die Justiz­re­formen rück­gängig machen, um das Gesetz mit den Wünschen der Kommis­sion und des EUGH in Einklang zu bringen, und damit eine große De-facto-Erwei­te­rung der EU-Kompe­tenzen durch die Recht­spre­chung statt durch einen demo­kra­ti­schen Prozess verstärken, oder das polni­sche Verfas­sungs­ge­richt wird erneut ange­rufen werden und es wird wieder­holen müssen, dass die Entschei­dung des EUGH in Polen nicht ange­wendet werden kann, weil sie einen Bereich natio­naler Kompe­tenz betrifft. Der Konflikt zwischen Warschau und Brüssel könnte dann sehr ernst werden.

In einer Erklä­rung sagte die Euro­päi­sche Kommis­sion, sie sei „zutiefst besorgt über den Beschluss des polni­schen Verfas­sungs­ge­richts­hofs, in dem es heißt, die vom Gerichtshof der Euro­päi­schen Union in Bezug auf die Arbeits­weise der Justiz ange­ord­neten einst­wei­ligen Maßnahmen seien nicht mit der polni­schen Verfas­sung vereinbar.“ Weiter heißt es, dass „Die Kommis­sion hat sich in dieser Frage stets sehr klar und eindeutig geäu­ßert und bekräf­tigt erneut: EU-Recht hat Vorrang vor natio­nalem Recht“ und „alle Entschei­dungen des Euro­päi­schen Gerichts­hofs, einschließ­lich einst­wei­liger Anord­nungen, sind für die Behörden aller Mitglied­staaten und für die natio­nalen Gerichte bindend.“

Wie Jerzy Kwaś­niewski, Präsi­dent des Insti­tuts Ordo Iuris, jedoch betont, „liegt das Problem in der evolu­tio­nären Verän­de­rung des EU-Rechts. Polen hat die Beitritts­ver­träge und dann vor allem den Vertrag von Lissabon rati­fi­ziert. Aller­dings haben die EU-Insti­tu­tionen, insbe­son­dere die Kommis­sion und der Gerichtshof, im Laufe der Zeit ihre Zustän­dig­keiten erwei­tert und zusätz­liche Befug­nisse erhalten – zum Nach­teil der Mitglied­staaten. Und

Gegen­stand des Verfah­rens vor dem Verfas­sungs­ge­richt ist die Verein­bar­keit dieser syste­ma­tisch ohne Zustim­mung der Mitglied­staaten erwei­terten Unions­kom­pe­tenzen mit der polni­schen Verfassung.“

Dieser Beitrag erschien zuerst bei der VISEGRÁD POST. unserem Partner in der EUROPÄISCHEN MEDIENKOOPERATION.


6 Kommentare

  1. Jetzt passiert genau das, wovor Altprä­si­dent Roman Herzog (vermut­lich der letzte Präsi­dent der Deut­schen) und Lüdger Gerken schon 2007 in einem weit­sich­tigen Aufsatz im Centrum für Euro­päi­sche Politik (cep) gewarnt hatten: Die Gefahr, dass die nimmer­satte EU mithilfe des selbst­im­ple­men­tierten (!) EuGH immer mehr ihre Befug­nisse ausweiten lässt; mithin unter Umge­hung demo­kra­ti­scher Legi­mi­ta­tion die Natio­nal­staaten zuneh­mend poli­tisch kastriert. (Gut, die EUzis in DE gehen mit ihrer Selbst­ent­mün­di­gung einen „vorbild­haften“ Sonderweg, aber das ist hier nicht das Thema.)
    Nachdem nun also seitens des EuGH unlängst „fest­ge­stellt“ wurde, dass das BVerfG seine „Kompe­tenzen über­schreitet“ (welch unglaub­li­ches „Demokratie“verständnis!) war völlig klar, dass sich die EU als nächstes das zurecht auf seiner (noch) verbrieften Souve­rä­nität behar­renden Polen vorknöpft. Auch das Maßre­geln von Ungarn wird mit demago­gi­schen Mitteln (Lügen und Verdrehen) schon medi­en­wirksam eingeleitet.
    Die Kritiker haben leider Recht behalten: China ist das große Vorbild.
    Hier der Artikel von 2007: www.cep.eu/fileadmin/user_upload/sop-cep.de/SOP/SOP-Presse/Presse-Archiv/Ein_Beitrag_zur_EU-Verfassung_Gerken_-_Herzog.pdf

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  2. Es sieht so aus, als ob die (nur über viele Ecken demo­kra­tisch legi­ti­mierten) EU-Insti­tu­tionen sich gegen­seitig mehr und mehr Befug­nisse zuschus­tern. Dem muss entschieden entgegen getreten werden.

    Zuerst mal müssen die (nicht demo­kra­tisch legi­ti­mierten) EU-Kommis­sare jeder­zeit von den natio­nalen Regie­rungen abbe­rufen werden können. Die gebärden sich inzwi­schen wie kleine Macht­haber jenseits aller demo­kra­ti­schen Kontrolle. Das EU-Parla­ment ist ein Pseudo-Parla­ment ohne Initia­tiv­recht, das nur die Eingaben der EU-Kommis­sion abni­cken darf. Das kann auch weg. Für die Bestä­ti­gung oder Ableh­nung der EU-Kommis­sions-Eingaben haben wir die natio­nalen Parlamente.

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    • Wie es ausieht haben sie den Begriff EU-Euro­päi­sche Union nicht verstanden. Das Ziel der Grün­der­väter, Adenauer wie de Gaulle WAR ES, dass niemals mehr Kriege wie die beiden Welt­kriege I und II Europa derart schwä­chen sollten.
      Sie scheinen wieder das Gespenst des Natio­nal­staates aufleben lassen zu wollen. Wenn wir wieder Natio­nal­staaten werden und als Einzelne Staaten in der Welt agieren, werden wir einer nach dem anderen schach­matt gestellt werden. Die EU, als Union und nicht als Föde­ra­tion, sollte das Ziel sein.
      Es scheint aber in etli­chen poli­ti­schen Köpfen die Tren­nung vor dem Verbin­denden zu stehen. Polen und seine Visegrad Partner sind erst durch die EU so weit gekommen. Die GUS sowie auch die RUS wäre nie im Stande gewesen und auch nicht willens euch zu helfen. Ihr wart Boll­werk gegen den „Westen“ Im Kriegs­fall wäret ihr als Trup­pen­übungs­platz verwendet worden. Genauso wie das „neutrale Öster­reich und West­deutsch­land“. Wenn das euro­päi­sche Parla­ment geschwächt wird, so ihr Wunsch, haben sie die Idee der EU nicht verstanden oder sind mit dem derzei­tigen Lissa­bonner-Vertrag nicht einver­standen. Herr Junkers hatte schon den Fehler begangen, den Natio­nal­staaten mehr Rechte einzu­räumen, weil er Angst hatte, dass die EU als UNION und Souverän mit Regionen verhan­deln zu müssen. Unionen bedeutet, dass Grenzen sich erle­digen, dass Völker handeln und reisen können, ohne das poli­ti­sche Befind­lich­keiten Grenzen setzen. Die Erde ist bekannt­lich ein Geoid. Grenzen setzen Lebe­wesen, die sich ihrer zivi­li­sa­to­ri­schen Aufgabe nicht gewachsen sehen und Angst vor Konkur­renz haben oder es wird ein Olig­ar­chi­sches Staats­kon­strukt ange­dacht. Das auf Kosten die Bevöl­ke­rung sich berei­chert. Siehe die RUS, China, die Türkei, teil­weise Ungarn und anschei­nend auch Polen.
      In Bezug der EU-Kommis­sare sei erwähnt, dass sie von den jewei­ligen NATIONALSTAATEN und deren gewählten Regie­rungen gestellt werden. So viel zu ihrer Anschei­nenden nicht demo­kra­ti­schen Legimation

  3. Da haben die Polen Recht die Eu nimmt sich Sachen heraus die so nicht gewollt waren und sind
    den das EU Parla­ment ist von keinem Gewählt worden und legitimiert.

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  4. Die mora­li­sche Verwahr­lo­sung der EU ist in erster Linie auf die globa­lis­ti­sche Desta­bi­li­sie­rungs­po­litik von Merkel, von der Leyen und Timmer­mans zurück­zu­führen. Was wir brau­chen ist ein Europa der Natio­nal­staaten, die sich nur in wenigen Punkten auf ein gemein­sames Vorgehen einigen, denn die Regu­lie­rungswut der EU macht vor nichts mehr halt.

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    • Demo­kra­tisch legi­ti­miert ist in der EU gar nichts. Die EU besteht aus geset­zes­losen Wege­la­gern, die wie im Mittel­alter das gemeine Volk auspressen.

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