Rechts­staat­lich­keit: Spiel Polen-Holland 1:0

Marcin Romanowski · Foto: Mylosz - Praca własna, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=79278502

Von Olivier Bault *

„Holland ist ein Abszess am Körper der Euro­päi­schen Union“, erklärte der stell­ver­tre­tende polni­sche Justiz­mi­nister Marcin Roma­nowski nach einem Urteil des Euro­päi­schen Gerichts­hofs gegen die Nieder­lande. Ein Abszess, der, so dieses Mitglied der Regie­rung von Mateusz Mora­wi­ecki, „unsere gemein­samen Werte einem Prozess der Zerstö­rung und Dege­ne­ra­tion unter­wirft“. „Ich denke, dass die Rolle Polens, Ungarns und anderer Länder darin besteht, sich diesen Tendenzen entschieden entge­gen­zu­stellen“, fügte er hinzu.

Die Äuße­rungen des Polen über die Nieder­lande waren Teil einer Diskus­sion im polni­schen katho­li­schen Radio­sender Radio Maryja über ein Urteil des EUGH vom 17. Dezember, das Holland das Recht abspricht, die Voll­stre­ckung euro­päi­scher Haft­be­fehle, die von polni­schen Gerichten ausge­stellt wurden, einzu­stellen. Seit zwei Jahren verwei­gern nieder­län­di­sche Gerichte syste­ma­tisch die Voll­stre­ckung polni­scher Euro­päi­scher Haft­be­fehle mit der Begrün­dung, dass es Zweifel an der Unab­hän­gig­keit der Justiz gegen­über den poli­ti­schen Behörden in Polen gibt.

Der EuGH weist die nieder­län­di­sche Justiz an, sich um ihre eigenen Ange­le­gen­heiten zu kümmern

In seinem Urteil stellte der EuGH jedoch fest, dass „das Vorhan­den­sein von Beweisen für syste­mi­sche oder allge­meine Mängel in Bezug auf die Unab­hän­gig­keit der Justiz in Polen oder für die Verschlim­me­rung dieser Mängel an sich nicht recht­fer­tigt, dass die Justiz­be­hörden anderer Mitglied­staaten die Voll­stre­ckung eines von einer polni­schen Justiz­be­hörde ausge­stellten Euro­päi­schen Haft­be­fehls ablehnen“. Für euro­päi­sche Richter kann die Voll­stre­ckung eines Euro­päi­schen Haft­be­fehls nur dann abge­lehnt werden, wenn im konkreten Fall begrün­dete Zweifel bestehen, nicht aber gene­relle Zweifel am Justiz­system eines anderen Mitgliedsstaates.

Mit anderen Worten: Es ist nicht Sache der nieder­län­di­schen Richter, zu entscheiden, ob die Justiz in Polen weniger gut funk­tio­niert als in den Nieder­landen oder anderswo in Europa.

Holland, das Lehren erteilt und linke Ideo­logie in die EU bringt

Die Heftig­keit der Reak­tion des polni­schen Vize­mi­nis­ters ergibt sich aus dem brei­teren Kontext der wieder­holten Angriffe eines „rechts­staat­lich“ gesinnten Hollands gegen Polen und Ungarn, wobei Premier­mi­nister Mark Rutte viel­leicht der unnach­gie­bigste Befür­worter des neuen Rechts­staats­me­cha­nismus ist, der Warschau und Buda­pest dazu veran­lasst hatte, eine Zeit lang ein Veto gegen den neuen EU-Haus­halt und den Konjunk­tur­plan einzulegen.

Anfang Dezember stimmte das nieder­län­di­sche Parla­ment über eine Reso­lu­tion ab, in der die Regie­rung Rutte aufge­for­dert wird, beim EU-Gerichtshof eine Klage gegen Polen wegen der polni­schen Justiz­re­formen einzu­rei­chen – ein Novum in der Euro­päi­schen Union.

Rechte von Fami­lien und Pati­enten in den Nieder­landen verletzt

Im September lehnte ein Warschauer Gericht die Voll­stre­ckung eines euro­päi­schen Haft­be­fehls gegen eine Familie ab, die ihren eigenen autis­ti­schen Sohn von nieder­län­di­schen Sozi­al­diensten entführt hatte und dann in Polen Zuflucht suchte. Ihr Sohn war von den nieder­län­di­schen Behörden gewaltsam wegge­nommen worden, und der polni­sche Richter stellte fest, dass ihre Grund­rechte verletzt worden waren. Nach Meinung der polni­schen Experten kümmerten sich die Eltern des kleinen Martin gut um ihr Kind und es gab keine Recht­fer­ti­gung, ihn ihnen wieder wegzunehmen.

Was aber beson­ders inter­es­sant war und einen Präze­denz­fall schaffen könnte, waren die Gründe für die Entschei­dung des polni­schen Rich­ters. Er hatte nämlich nicht nur fest­ge­stellt, dass die Grund­rechte dieser Familie in ihrem Aufent­halts­land nicht respek­tiert worden waren, sondern auch, dass eine reale Gefahr für die Rechte und Frei­heiten des Jungen und seiner Eltern bestand, wenn sie den nieder­län­di­schen Behörden über­geben würden. Der polni­sche Richter hatte nämlich als zentralen Grund für seine Weige­rung, den Euro­päi­schen Haft­be­fehl zu voll­stre­cken, das nieder­län­di­sche Eutha­na­sie­ge­setz ange­führt, das die Eutha­nasie von Minder­jäh­rigen und Personen mit psychi­schen Problemen erlaubt. Dies würde, so der Richter, letzt­lich eine Gefahr für das Leben des Kindes darstellen, wenn es den nieder­län­di­schen Behörden über­geben würde.

Zweifel an der Unpar­tei­lich­keit und Unab­hän­gig­keit der nieder­län­di­schen Justiz

Bei dieser Gele­gen­heit hatte die polni­sche Justiz auch Zweifel an der Unpar­tei­lich­keit und Unab­hän­gig­keit des Amster­damer Gerichts geäu­ßert, das den Euro­päi­schen Haft­be­fehl gegen diese Familie erlassen hatte. Ein Gericht, das es verdäch­tigte, „aus poli­ti­schen oder ideo­lo­gi­schen Gründen“ in Abstim­mung mit der Staats­an­walt­schaft gehan­delt zu haben, obwohl dasselbe Gericht die Voll­stre­ckung der von den polni­schen Gerichten ausge­stellten Euro­päi­schen Haft­be­fehle ausge­setzt hatte, nachdem es dem EuGH eine Vorab­frage zur Unab­hän­gig­keit der Justiz in Polen vorge­legt hatte. Eine Frage, die der EuGH somit am 17. Dezember zugunsten Polens beant­wortet hat.

Laut dem stell­ver­tre­tenden polni­schen Justiz­mi­nister, der sich nach dem EuGH-Urteil äußerte, „ist Holland seit vielen Jahren in vielen Berei­chen aktiv, in denen es mehr Diskre­tion zeigen sollte. Dieses Land ist die Vorhut der linken Ideo­lo­gi­sie­rung, mit der wir in der Euro­päi­schen Union und in der west­li­chen Welt konfron­tiert sind.“


Dieser Artikel erschien zuerst in fran­zö­si­scher Sprache in der Tages­zei­tung Présent sowie bei Visegrád Post.


*) Über den Autor:

Olivier Bault, seit Anfang der neun­ziger Jahre in Polen lebender Fran­zose, ist Warschauer Korre­spon­dent der Visegrád Post und der Tages­zei­tung Présent. Als frei­be­ruf­li­cher Jour­na­list, der die polni­schen und euro­päi­schen Nach­richten genau verfolgt, schreibt er auch in polni­scher Sprache in der polni­schen Wochen­zei­tung Do Rzeczy und in engli­scher Sprache auf der Website kurier.plus des polnisch-unga­ri­schen Koope­ra­ti­ons­in­sti­tuts Wacław Felczak.


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