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Römisch-katholischer Dom in Temeswar. Foto: MJB

Von Martin Josef Böhm
 

Zwischen dem Budapester Ostbahnhof und Temeswar (Timișoara/Temesvár) fuhr damals schon der Orientexpress auf seinem Weg nach Konstantinopel, und auch heute noch hat der Grenzübertritt ins Nicht-Schengen-Gebiet seinen östlich-exotischen Reiz, allemal für einen Deutschen.

Die Landschaft ist durchgehend flach, mal steppenartig, der Blick fällt zuvörderst auf endlose Acker, Pappeln und Streifen von Mohn, dazwischen werfen die silbernen Dächer der Kirchtürme die Sonne in den Wagon. An verschlafenen Dorfbahnhöfen wacht man vom Quietschen der Zugbremsen auf, mustert den uniformierten Bahnhofswärter, der angesichts der gut gegossenen Geranien den Halt sicherlich auch sein Zuhause nennt.

Zwischen Arad und Temeswar, den beiden größten Städten des Banats, nehmen die Reisenden nach und nach ihre Maske ab. Sie dient nunmehr als Accessoire, um sich Krümel im Schnauzer zu verbergen, zudem tropft der Schweiß am Kinn herab an diesem brütend heißen Spätfrühlingstag Anfang Juni. Umsteigen in Temeswar – dem Kleinen Wien –, das zweifellos zu den schönsten Städten Rumäniens gehört und ganz wie Großwardein sein Antlitz der Monarchie gewahrt hat.

Bis zum Zweiten Weltkrieg war Deutsch mit wienerischem Einschlag die Alltagssprache in der Stadt, schließlich ist Temeswar nicht nur die Hauptstadt des Banats, sondern zugleich auch das Zentrum der Banater Schwaben.

Eine der vielsprachigsten Gegenden Europas

Die sogenannten Schwaben wanderten zu einem großen Teil bereits im 18. Jahrhundert in den Donauraum ein und bauten die Region nach den Verwüstungen infolge der Türkenkriege wieder auf. Vor allem das Banat sticht auf den ethnischen Karten vom Anfang des 20. Jahrhunderts als farbiges Kreuz-und-Quer hervor, neben den Donauschwaben siedelten dort seit Jahrhunderten Serben, Ungarn, Rumänen sowie Juden, Bulgaren und Roma. Es war bis zu den Kriegsereignissen eine der vielsprachigsten Gegenden Europas.

Während – anders als in Polen oder in der Tschechoslowakei – die Rumäniendeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg nicht kollektiv vertrieben wurden, sank die Zahl der Schwaben hingegen in erster Linie im Zuge der Auswanderung. Diese erfolgte konstant in der Zeit unter dem kommunistischen Diktator Nicolae Ceaușescu, der die Angehörigen der jüdischen und deutschen Minderheit für „Kopfgelder“ nach Israel und Deutschland verhökerte, die wiederum ihre neuen Bürger dementsprechend „freikauften“.

Die zweite große Welle der Aussiedlung erfolgte nach der Öffnung 1990. Von einst mehreren hunderttausend deutschsprachigen Siebenbürger Sachsen, Banater- und Sathmarer Schwaben leben deshalb gegenwärtig nur noch um die dreißigtausend in Rumänien, rund die Hälfte davon stellen die Banater Schwaben. Trotz des Exodus und der damit einhergehenden ethnischen Homogenisierung kann Temeswar noch eine Handvoll deutschsprachiger Institutionen aufweisen, darunter das international renommierte Deutsche Staatstheater.

Kulturhauptstadt Europas

Nicht nur hierfür lohnt eine Reise in die Stadt, die vom liberalen Bürgermeister, dem gebürtigen Lörracher Dominic Fritz geführt wird: 2023 wird Temeswar Kulturhauptstadt Europas sein, gemeinsam mit dem ungarischen Veszprém und Eleusis in Griechenland. Aus diesem Anlass sei es dem werdenden Gast nahegelegt, sich dann anhand des Werkes von Herta Müller ein wenig in das Banat einzulesen.

Eine Zugangsmöglichkeit in die Mentalität sowie Geschichte und Leidensgeschichte der Region. Foto: MJB

Ich kenne bisher zwar niemanden, der ihr den Literaturnobelpreis, den sie 2009 gewann, gönnen würde: Wenige mögen ihre eigenwillige Art des Schreibens. Doch erlauben ihre Bücher einen tieferen Zugang in die Mentalität sowie Geschichte und Leidensgeschichte der Region. Einmal vor Ort erschließt sich einem der verborgene Sinn hinter den Pappeln, den Käfern und den trinkenden Bauern, von denen in ihren Büchern so oft die Rede ist.

Zurück zum Bahnhof Temesvar Nord. Es ist vielleicht eines der übelsten Bahnhofsgebäude weit und breit, so wie das Rathaus von Sathmar in Nord­rumänien regelmäßig in die Liste der hässlichsten Bürgermeistereien der Welt gewählt wird. Freilich kann auch das rumänische Parlament in Bukarest nicht zu den schönsten seiner Art gezählt werden. Doch schon hier dämmert es dem Reisenden, der hiervor möglicherweise schon zuhauf in Spanien oder Italien zugegen war: Während in Florenz oder Sevilla alles „einfach schön“ ist, und daher bauliche Irrtümer und Stillosigkeiten viel deutlicher auffallen, einem daher Kummer und Weltschmerz bereiten, ist das Vulgäre in der sozialistischen Architektur hier am östlichsten Rande Mitteleuropas hingegen allgegenwärtig.

Das wirklich ästhetische in der Baukunst trifft man hier oft nur in der Minderheit an, doch umso mehr weiß man es zu schätzen. Ein zwischen Oberleitungskabeln und Storchennestern eingezwängter einfacher Kirchenturm im Banater Nirgendwo mag daher viel mehr entzücken, als der fünfte oder sechste Renaissancedom in der Toskana.

„Weimar des Banats“

Der Zug nach Hatzfeld (Jimbolia/Zsimbolya) ist voll, stickig, es wird munter gesprochen, Klingeltöne mit kitschiger Panflötenuntermalung ertönen, das geöffnete Zugfenster schnippelt immer ein wenig von den vorbeihuschenden Holunderbüschen ab, obgleich man nur so schnell wie mit einem Fahrrad unterwegs ist.

Hatzfeld, das „Weimar des Banats“ oder auch die „Perle der Banater Heide“, war einst zu 90 Prozent von Schwaben bewohnt, die den Ort, wie die Kolonisten in Nordamerika, schachbrettartig anlegten. Die breiten Straßen sind durchgehend von Akazien gesäumt, die langgezogenen, typischen Häuser der Donauschwaben sind überraschenderweise größtenteils in gutem Zustand, nur an wenigen Stellen schneiden die phantasielosen, neuen Einfamilienhäuser ihre Fratzen ins ansonsten idyllische Bild einer ländlichen Kleinstadt.

Akazienallee im Zentrum von Hatzfeld, im Hintergrund die Turmspitze der katholischen Kirche. Foto: MJB

Einige Straßennamen sind auch auf Deutsch ausgeschildert, in der Ortsmitte befindet sich die deutsche katholische Kirche. Alles hat ein wenig den Anschein einer alten, vergangenen Welt, die doch damals für die Siedler die neue Welt war.

Zudem begeistert die – in manchen anderen Teilen des Landes ungewohnte – Ordnung: Die Bürgersteige erfreuen sich der Makellosigkeit, das Gras ist gemäht, die Bäume gestutzt. Man kann sich den hier geborenen Stefan Jäger, den „Maler der Donauschwaben“, gewiss beim Schaffen vorstellen, aber ebenso einen Einblick in sein Werk im örtlichen Gedenkmuseum gewinnen. Deutsch zu hören, ist dagegen eher unwahrscheinlich. Weniger als drei Prozent der Einwohner sprechen heute noch Deutsch als Muttersprache.

Geburtsort von Béla Bartók

Weiter geht es nach Großsanktnikolaus (Sânnicolau Mare/Nagyszentmiklós), wo sich bei der letzten Volkszählung von 2011 noch 890 der etwa 12.000 Einwohner zur deutschen Nationalität bekannten. Es ist Samstagabend halb zehn, vom Bahnhof muss man vierzig Minuten ins Herz der Ortschaft spazieren. Doch ein Anschlussbus wartet pünktlich, und ich denke mir, dass es so etwas in Deutschland nicht gäbe, wo an Sonnabenden generell in Ortschaften solcher Größe kein Bus mehr fährt. Mitteleuropa? Der Bus fährt dann die Strecke mit offener Vordertür: Balkan.

Am nächsten Morgen gehe ich am Geburtshaus des ungarischen Komponisten Béla Bartók vorbei. Bartók, einer der bedeutendsten Vertreter der Moderne, sah in der Avantgarde-Musik das Potenzial, durch das Aufgreifen der gemeinsamen Motive in der Volksmusik der verschiedenen Ethnien des Karpatenbeckens der Völkerverständigung zu dienen. Mit seinen Rhapsodien im Ohr gelange ich zur katholischen Kirche, aus der zu meiner Verwunderung eine Gruppe rumänischer Gläubiger herauskommt – die überwiegende Mehrheit der Rumänen ist orthodox.

Str. Ion Slavici / Luxemburger Gasse in Hatzfeld. Foto: MJB

Beim Hineingehen setzt plötzlich, während die letzten katholischen Rumänen noch hinausgehen, Punkt zehn Uhr der Klang der Orgel ein, die ungarische Messe beginnt, die Gläubigen sitzen neben den Stationen des Leidens Christi mit deutscher Beschriftung. Im Anschluss an die Messe lädt mich ein Banater Serbe, der mich Verlorenen schon am Vorabend in der Fußgängerzone erblickte, zu Kaffee und serbischer Marlboro ein. Im Gegenzug gebe ich ihm eine Hungária-Zigarette und mein Feuerzeug mit einem Model drauf. Sein Kommentar: „Fain, fain!“. Rumänisch, Ungarisch, Deutsch, Serbisch, wer braucht da noch Englisch?

Gemisch von Mentalitäten

In diesem kulturellen und sprachlichen Abenteuer zeigt sich zugleich das Gemisch der Mentalitäten zwischen Osteuropa und Mitteleuropa, und das, wie so oft am besten, auch beim Zugfahren.

Nun in Richtung Arad. Auf dem Gegengleis in Perjamosch (Periam/Perjámos) sitzt ein Mann auf den Treppen der Einstiegstür und raucht beim Losfahren des Zuges, im Vorderteil des Zuges zieht dazu der Schaffner bei offener Vordertüre an seiner Zigarette. Etwas frech frage ich daher den Zugbegleiter unseres Wagens, „wo ich denn hier im Zug vielleicht mal eine rauchen könnte“. Er verweist mich ins Gepäckabteil.

Schafsherden ziehen hier und da vorbei, und immer wieder die einzelnen Türme der katholischen, reformierten, orthodoxen Kirchen. Letztere sind im Banat mittlerweile zumeist neobyzantinischen Baustils und reich mit der rumänischen Trikolore beflaggt. Nichtsdestotrotz findet man in den dortigen Landstrichen noch oft die barocken, mitteleuropäisch aussehenden Gotteshäuser der Orthodoxie, die denen der anderen christlichen Gemeinschaften äußerlich sehr ähneln.

Kurz vor der Grenze kaufe ich im Supermarkt des mehrheitlich ungarischsprachigen Großsalontha noch eine Flasche „Schwaben-Wein“ vom Banater Weingut Recaș. Mit dazu importiert werden bei jedem Rumänienaufenthalt pflichtgemäß Pufuleți, der markanteste rumänische Snack.

Am Grenzbahnhof komme ich mit den Beamten der „Poliția de Frontieră“ ins Gespräch. „Deutschland? Gibt’s von dort auch mal gute Nachrichten?“ fragt der Mann. Umgekehrt gibt es aus Großsalontha aber auch keine nennenswerten guten Nachrichten, erfahre ich von ihm. Doch immerhin ist der andere rumänische Grenzpolizist an seiner Seite stolz darauf, Ungarisch von seinem Nachbarn zu lernen. Etwas gerührt von dieser guten Nachricht, diesem Beispiel des friedlichen Miteinanders der Sprachen und ihrer Sprecher steige ich ein.

Der Autor ist Forschungsassistent am Deutsch-Ungarischen Institut für Europäische Zusammenarbeit.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der BUDAPESTER ZEITUNG, unserem Partner in der MITTELEUROPÄISCHEN MEDIENKOOPERATION.


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