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Jarosław Kaczyński und Viktor Orbán · Foto: Kancelaria Sejmu / Paweł Kula · https://flickr.com/photos/141152160@N02/37244174281 · cc-by-2.0

Von Olivier Bault*

Magyar Nemzet, die wichtigste konservative Tageszeitung Ungarns, sieht darin eine Rückkehr zur „Breschnew-Doktrin aus Brüssel“. Nach der von Moskau auferlegten Breschnew-Doktrin durften die Länder Osteuropas die Prinzipien und Werte des Marxismus-Leninismus auf ihre eigene Weise anwenden, jedoch unter der Bedingung, dass sie nicht davon abweichen und den Zusammenhalt des Blocks nicht in Frage stellen. Heute wird der Marxismus-Leninismus durch die berühmten “europäischen Werte” ersetzt, die eine Mischung aus neomarxistischem Progressivismus und Föderalismus sind.

Während der ungarische Außenminister Peter Szijjártó am 7. April vor seinem Parlament bemerkte, “als Reaktion auf die Epidemie funktionieren Antworten auf nationaler Ebene am besten”, und während Polen und Ungarn zu den EU-Ländern zählen, die die Ausbreitung der Covid-19-Epidemie am besten unter Kontrolle haben, hat das Europäische Parlament am Freitag seine Entschließung “zu koordinierten EU-Maßnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie und ihrer Folgen” mit “einer Verurteilung von Polen und Ungarn” verbunden. Der polnischen Regierung wird vorgeworfen, kurz vor den Wahlen das Wahlgesetz geändert zu haben und der ungarischen Regierung wird vorgeworfen, den Ausnahmezustand auf unbestimmte Zeit verlängert zu haben. Der polnische Liberale Donald Tusk, heute der Vorsitzende der EVP, erklärte dazu in einem Interview mit dem deutschen Nachrichtenmagazin Der Spiegel, dass der deutsche Jurist Carl Schmitt, der die Machtergreifung der Nazis in den 1930er Jahren legitimiert hatte, auch Viktor Orbáns Politik gegen die Epidemie nicht missbilligt hätte.

Wie so oft waren die Europaabgeordneten mit Dingen konfrontiert, von denen sie wenig verstehen, und worüber sie gerade von den radikalsten Mitgliedern der Opposition in den beiden Ländern, die sie verurteilen, falsch informiert wurden. In Ungarn gibt es keinen Ausnahmezustand, sondern einen Gefahrenzustand, aufgrund dessen der Regierung außergewöhnliche Befugnisse verliehen werden, wobei jedoch ihre Maßnahmen auf die in Frage stehende Gefahr beschränkt sind, in diesem Fall die Covid-19-Epidemie. Die unbegrenzte Dauer entspricht tatsächlich der Dauer des Gefahrenzustands, der vom Parlament erklärt und auch wieder widerrufen wird. Das ungarische Parlament ist jedoch weiterhin in voller Funktion und kann daher diese außergewöhnlichen Befugnisse jederzeit widerrufen.

In Polen diskutiert das Parlament derzeit, wie am 10. Mai die Präsidentschaftswahlen im Zusammenhang mit der Corona-Epidemie abgehalten werden können. Die wichtigste Oppositionspartei (der Donald Tusk entstammt) möchte diese Wahlen auf den Herbst oder, noch besser, auf das nächste Jahr verschieben, um Zeit dafür zu gewinnen, selber einen anderen Kandidaten aufzustellen, da der derzeitige Kandidat sich als wahre Katastrophe für die Partei erwiesen hat.

Dies ist allerdings nicht möglich, ohne zuvor einen mehrmonatigen Katastrophenzustand zu beschließen (andernfalls würde das Mandat von Andrzej Duda am 6. August enden und Polen müsste ohne Präsidenten auskommen), was jedoch die Mehrheit der Regierungspartei PiS ablehnt, um zu vermeiden, dass der Staat mit kostspieligen Entschädigungsforderungen konfrontiert wird. PiS würde es vorziehen, die Wahl um höchstens ein oder zwei Wochen zu verschieben und nur eine Briefwahl abzuhalten, wie dies vor einigen Wochen in Bayern für die zweite Runde der Kommunalwahlen geschehen war.

Kurz gesagt, die Europaabgeordneten kritisieren Ungarn für die Erklärung des Ausnahmezustands und beschuldigen Polen, sich geweigert zu haben, den Ausnahmezustand zu erklären.

Warum diese Vorwürfe? Wie in anderen ähnlichen Fällen auch liegt es wohl auch hier daran, dass diese beiden Länder der neuen Breschnew-Doktrin nicht beugen wollen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in französischer Sprache auf dem Online-Nachrichtenportal Présent, https://present.fr/2020/04/21/la-crise-vue-de-bruxelles-la-pologne-et-la-hongrie-plus-problematiques-que-le-covid-19/


*) Über den Autor:

Olivier Bault ist ein französischer freiberuflicher Journalist, der seit den 1990er Jahren in Polen lebt. Arbeitet mit Do Rzeczy, Présent, Réinformation TV, Visegrád Post u.a.

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