Stuart Hall, Kultur­wis­sen­schaften und die Verherr­li­chung der „Viel­falt“

Stuart Hall · Bildquelle: CM

Von Fran­cesco Erario

 

Von Birmingham in die Welt: die Geburt der „Kultur­wis­sen­schaften“

Die Kultur­wis­sen­schaften, die in den 1960er Jahren in England entstanden und sich dann in den Verei­nigten Staaten und dem Rest der Welt ausbrei­teten, haben im Laufe der Jahre immer mehr an Gewicht und Einfluss gewonnen.

Birmingham ist das Zentrum der Entwick­lung und Verbrei­tung dieser Strö­mung, wo der engli­sche Gelehrte und Akade­miker Herbert Richard Hoggart 1964 ein univer­si­täres Forschungs­zen­trum grün­dete, das sich dem Studium kultu­reller und sozialer Prak­tiken widmete: das Centre for Contem­po­rary Cultural Studies. Dieses Zentrum, das im Schick­sals­jahr 1968 von Stuart Hall geleitet wurde, sollte sich in den folgenden Jahren als Brut­stätte von Denkern und Ideen erweisen, die in der Lage waren, Konzepte wie Kultur und Gesell­schaft neu zu gestalten. Halls Arbeit über die Verän­de­rungen im zeit­ge­nös­si­schen Groß­bri­tan­nien ist sehr nütz­lich, um die starke Affi­nität zum italie­ni­schen und west­li­chen linken Gedan­kengut zu erkennen.

Immi­gra­tion und „neuer Rassismus“

Die Auflö­sung des kolo­nialen Impe­riums und sein Streben nach Welt­herr­schaft, die Ameri­ka­ni­sie­rung der Kultur, die Umwand­lung in eine Konsum­ge­sell­schaft, die neuen Logiken der Massen­kom­mu­ni­ka­tion, die Entste­hung neuer Jugend­kul­turen sind die Haupt­ge­gen­stände der Analyse des Kultu­ra­listen. Ein Beispiel dafür ist die Veröf­fent­li­chung Race, Culture, and Commu­ni­ca­tions: Looking Back­ward and Forward at Cultural Studies aus dem Jahr 1989. Eine der trei­benden Kräfte hinter Stuart Halls Analyse ist der Prozess der „ethni­schen Verwäs­se­rung“ der engli­schen Gesell­schaft (die bis dahin sehr viel homo­gener war) aufgrund des Zustroms von Menschen aus dem Common­wealth, insbe­son­dere aus der Karibik und Asien. Diese Rekon­fi­gu­ra­tion der Bevöl­ke­rung, die durch die Migra­ti­ons­wellen aus den ehema­ligen briti­schen Kolo­nien hete­rogen geworden ist, bringt die Frage der „schwarzen Diaspora“ in den Mittel­punkt des briti­schen kultu­rellen Lebens, seiner Städte und seiner sozialen und poli­ti­schen Exis­tenz. Eine Schwarze und briti­sche Diaspora aus stän­diger Besied­lung“.

Die Konzen­tra­tion auf den Bereich der Massen­kom­mu­ni­ka­tion und die damit verbun­dene soziale Dynamik wird deut­lich, wenn Stuart Hall über die Rolle der Medien bei der Konstruk­tion des Realen spricht. Es handelt sich nicht um eine einfache Beschrei­bung, sondern um eine reale Konstruk­tion der Realität und der „Dinge“, die die Medien durch ihre Darstel­lung betreiben und real machen. Dieses Konzept wird bei der Unter­su­chung der Erschei­nungs­formen der Begriffe „Rasse“ und „ethni­sche Zuge­hö­rig­keit“ und des daraus resul­tie­renden „neuen Rassismus“, der in der engli­schen Gesell­schaft seiner Zeit verbreitet war, beson­ders wirksam sein und breite Anwen­dung finden. Ein verän­derter Rassismus, der von einer eben­falls „impe­rialen“ Form zu einer besser an die „schwarze Diaspora“ ange­passten Version über­ging, die die Zusam­men­set­zung des briti­schen Volkes verän­derte: der „kultu­relle Rassismus“. Ein Rassismus, bei dem Unter­schiede in der Kultur, im Lebens­stil, im Glau­bens­system, in der ethni­schen Iden­tität und in der Tradi­tion wich­tiger sind als die tradi­tio­nellen „gene­ti­schen“ Varianten.

Für Hall hat dieser neue Rassismus seinen Ursprung in der Angst der weißen Briten vor dem Leben mit Unter­schieden. Eine Angst, die Stuart Hall als erschre­ckend, inner­lich und tief­ge­hend beschreibt. Es geht also darum zu verstehen, warum Verhal­tens­weisen als zutiefst anti­human defi­niert werden, was er mit der Angst vor dem Aufbau einer neuen engli­schen Iden­tität in Verbin­dung bringt, die aus kultu­ra­lis­ti­scher Sicht akzep­tieren muss, „mit Unter­schieden zu leben“.

Nicht nur die Schwarzen: die anderen „unter­drückten“ Minderheiten

Die weiße engli­sche Gesell­schaft und der Rassismus gegen­über Schwarzen, aber nicht nur: In Stuart Hall scheint sich der Rassismus um andere Kate­go­rien und Tren­nungen herum zu arti­ku­lieren. Der Kampf um die Über­win­dung der Margi­na­li­sie­rung in der weißen engli­schen Gesell­schaft, der Kampf darum, die Weißen dazu zu bringen, mit den Unter­schieden zu leben, das Bemühen um eine Neupo­si­tio­nie­rung der Realität der Ereig­nisse und der Bezie­hungen zwischen den „Weißen“ und den „Anderen“ (durch den Zugang zum „Kontroll­raum“ der Medien und der sozialen Reprä­sen­ta­tion) sind nicht mehr nur „von Schwarzen“. Schwarze“, „Klasse“, „Geschlecht“, „Sexua­lität“ und „Ethni­zität“ können nur als Seiten desselben Würfels betrachtet werden. In dieser Schluss­fol­ge­rung, zu der Stuart Hall in seiner 1988 erschie­nenen Publi­ka­tion gelangt, sind die zentralen Kate­go­rien des aktu­ellen linken Diskurses zusam­men­ge­fasst, dessen Politik sich fast ausschließ­lich um sie herum zu arti­ku­lieren scheint. Schwarz, Klasse, Geschlecht, Sexua­lität und Ethni­zität sind die glei­chen Kate­go­rien für das Mons­trum der poli­tisch Korrekten.

Der sozio­po­li­ti­sche Rahmen, der sich aus den Beiträgen von Stuart Hall ergibt, beschreibt eine Macht, die in der Lage ist, über die Medien (aber nicht ausschließ­lich) kultu­relle Hege­monie auszu­üben, in einem „Umfeld“, in dem die Bedeu­tung von Worten, die Bedeu­tung von Ereig­nissen und sozialen Reali­täten aus „Macht­be­zie­hungen zwischen Parteien“ entsteht. In solchen Bezie­hungen konstru­iert die herr­schende Mehr­heit die soziale Wirk­lich­keit und setzt sie durch, während Minder­heiten an den Rand gedrängt werden und keinen Zugang zu den „Orten“ der Sinn­ge­bung haben. Wörter, Begriffe, Kate­go­rien sind das Ergebnis einer Bezie­hung zwischen Gruppen, in der die größere oder gerin­gere „Macht“ jeder Gruppe ausschlag­ge­bend für die Zuschrei­bung (wenn auch nicht für die tatsäch­liche Aufer­le­gung) ihrer Bedeu­tung ist.

Stuart Hall spricht von der Notwen­dig­keit eines „Kampfes der schwarzen Gemein­schaft“, um sich das Wort „Schwarz“ wieder anzu­eignen, um seine Bedeu­tung völlig neu zu defi­nieren, die ihm bis dahin von der mäch­ti­geren weißen Gemein­schaft aufge­zwungen wurde. Ein „Kampf“ der schwarzen Gemein­schaft der „perma­nenten Diaspora“, um ihre Unter­schiede in den Mittel­punkt des gesell­schaft­li­chen Diskurses zu stellen. Unter­schiede, die in den Mittel­punkt des Diskurses rücken müssen, um ein entschei­dendes Gewicht in einer Gesell­schaft zu erlangen, die, um nicht rassis­tisch zu sein, sie notwen­di­ger­weise als Teil ihrer selbst akzep­tieren und auf eine privi­le­gierte Ebene der Reprä­sen­ta­tion stellen muss.

Die Schwarze-Frage wird notwen­di­ger­weise mit anderen Minder­heiten verbunden werden müssen, die nicht im eigent­li­chen Sinne ethnisch sind, d.h. die mit femi­nis­ti­schen Fragen, Geschlecht und Sexua­lität zu tun haben, um den Rahmen für eine neue Iden­tität zu bilden, die wir hier als multi­kul­tu­rell und pluri­dif­fe­rent defi­nieren könnten. Ich will nicht rassis­tisch sein, aber in der engli­schen Gemein­schaft, die durch die kolo­niale Diaspora verwäs­sert wurde, gibt es keine wirk­liche Alter­na­tive zum „Leben mit Unter­schieden“. Die einzige wirk­liche Frage, die Frage „Wer sind die Engländer heute?“, wird also mit dieser „neuen“ Iden­tität beant­wortet werden müssen.

Die „perma­nente Diaspora“ in Italien

An dieser Stelle wird es dem Leser nicht schwer fallen, die große Analogie zwischen der engli­schen Gesell­schaft von Stuart Hall und der italie­ni­schen Gesell­schaft des 21. Jahr­hun­derts zu erkennen, die auch das „Ziel“ einer ähnli­chen „perma­nenten Diaspora“ ist: der Diaspora der Migranten. Dem Leser wird auch nicht entgangen sein, dass ein ähnli­ches Phänomen dem ideo­lo­gi­schen Rahmen der italie­ni­schen Linken sehr entge­gen­kommt. Da es sich nicht in einem echten ehema­ligen Kolo­ni­al­reich bewegt, musste es lange warten, bis es seine Diaspora loswerden konnte. Ein Prozess, bei dem sie im Namen der univer­sellen Ideale des „Guten“ und der „Mensch­lich­keit“ an vorderster Front steht und sich in gera­dezu erpres­se­ri­scher Weise gegen jeden wendet, der versucht, Zweifel zu äußern. Ein prak­ti­scher, konkreter Kampf, der die impo­sante und viel­fäl­tige Schar von Jour­na­listen, Blog­gern, Künst­lern und Influen­cern in einer konti­nu­ier­li­chen Anstren­gung zur Unter­stüt­zung des Kampfes zur Förde­rung der „Landung“ antreten lässt.

Was die Konstruk­tion der „italie­ni­schen Diaspora“ anbe­langt, so ist es schwierig, sie „wissen­schaft­lich“ zu belegen, vor allem wegen der Schwie­rig­keit der Bewe­gung, die dem sozio­lo­gi­schen Bereich eigen ist. Ein Versuch in diese Rich­tung kann jedoch unter­nommen werden – und zwar mit Hilfe der von Stuart Hall vorge­schla­genen „Methode“. In dem bereits erwähnten Werk aus dem Jahr 1989, in dem die Forschungs- und Analy­se­me­thoden beschrieben werden, die bei der Unter­su­chung des Vorhan­den­seins und des Inhalts der rassis­ti­schen Ideo­logie in der engli­schen Gesell­schaft seiner Zeit ange­wandt wurden, gab der Wissen­schaftler an, sich auf die Medien zu konzentrieren:

Die Unter­su­chung der vielen verschie­denen Arten, wie neue Erschei­nungs­formen von Rasse, ethni­scher Zuge­hö­rig­keit und Rassismus in den Massen­me­dien gedacht und darge­stellt wurden, war eines der Probleme, mit denen wir im Zentrum für Kultur­stu­dien konfron­tiert waren: wie man die tiefsten histo­ri­schen Spuren der Rasse in der engli­schen Kultur ans Licht bringen konnte.

Nun, um Hall zu para­phra­sieren, wird unseren Lesern die Frage gestellt, ob es nicht heute mehr denn je notwendig ist, „die viel­fäl­tigen Formen der Darstel­lung linker Ideo­logie in den Massen­me­dien zu unter­su­chen, die tiefsten Spuren der kultu­rellen Hege­monie der Linken in den Medien und im Diskurs der sozialen Medien und ihre Folgen für die italie­ni­sche Gesell­schaft ans Licht zu bringen“.

Dieses Bedürfnis entspringt nicht dem Wunsch zu verstehen, ob sich hinter dem stumpfen Schleier der poli­ti­schen Korrekt­heit tatsäch­lich das wahre Gesicht einer Linken verbirgt, die in Italien kultu­rell und poli­tisch hege­mo­nial geworden ist. Diese Notwen­dig­keit ergibt sich aus der Notwen­dig­keit zu verstehen, welche Art von Narrativ von der italie­ni­schen Linken ausge­ar­beitet wird, als eine Weiter­ent­wick­lung des bestehenden Narra­tivs, das darauf abzielt, die italie­ni­sche Kultur und natio­nale Iden­tität vor der Diaspora“ zu dekonstruieren.

Angriff auf die kultu­relle Iden­tität Italiens

Wie eingangs erwähnt, sind die Ähnlich­keiten zwischen den Theo­rien der Kultur­wis­sen­schaften und der poli­ti­schen Praxis der heutigen italie­ni­schen Linken groß. Dem inter­na­tio­nalen und inter­tem­po­ralen Faden folgend, der zwei geogra­fi­sche Reali­täten (England und Italien) und zwei histo­ri­sche Momente (die 1970er und die 1920er Jahre) mitein­ander verbindet, sollte die nächste „erzäh­le­ri­sche Episode“, der nächste „Kampf“, der ausge­fochten werden muss, der um die Stabi­li­sie­rung der „Unter­schiede“ in der italie­ni­schen Gesell­schaft sein. Auch in Italien geht es um die glei­chen Fragen wie im Centre for Contem­po­rary Cultural Studies in England: Wer sind die Italiener heute? Was ist die kultu­relle Iden­tität Italiens heute?

Die Linke scheint genau wie Stuart Hall antworten zu wollen: durch die Konstruk­tion eines Italie­ni­schen, das sich aus einem sehr breiten Spek­trum kultu­reller Kompo­nenten und „Unter­schiede“ zusam­men­setzt, die gegen­über der auto­chthonen Iden­tität vor der Diaspora privi­le­giert werden sollen. Wie die Engländer zu Halls Zeiten müssen sich auch die Italiener von heute daran gewöhnen, mit Unter­schieden zu leben. Zahl­reiche und zerklüf­tete Unter­schiede, die sich nicht nur auf rein ethni­scher Ebene, sondern auch auf der Ebene des Geschlechts, der Sexua­lität usw. arti­ku­lieren, sind zu bewältigen.

Fran­cesco Erario
Bachelor-Abschluss in Kommu­ni­ka­tion, Verlags­wesen und Jour­na­lismus (Univer­sität Sapi­enza Rom), Master-Abschluss in Wirt­schafts­kom­mu­ni­ka­tion (Univer­sität Salerno), Aufbau­stu­dium in Wirt­schafts­wis­sen­schaften (Univer­sität Perugia). Er arbeitet in Italien in den Berei­chen Marke­ting und Geschäfts­ent­wick­lung für ein kleines belgi­sches Unter­nehmen. Er beschäf­tigt sich leiden­schaft­lich mit Sozio­logie, Medien und Politik und unter­sucht neue kultu­relle und subkul­tu­relle Phäno­mene unter jungen west­li­chen Menschen.

Dieser Beitrag erschien zuerst bei CENTRO MACHIAVELLI, unserem Partner in der EUROPÄISCHEN MEDIENKOOPERATION


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