Südtirol: Terror­an­schläge, die keine waren

Von REINHARD OLT | Es gehört zu den wissen­schaft­li­chen Stern­stunden, wenn die histo­ri­sche Forschung hervor­bringt, was ihre urei­gene Aufgabe und Zweck­be­stim­mung sein sollte, nämlich neue Einblicke auf Hand­lungen und Einsichten in Gescheh­nisse zu eröffnen, für die bis dato gemeinhin galt, es seien alle Tatbe­stände und Zusam­men­hänge bereits klar zutage getreten gewesen und in der Geschichts­schrei­bung quasi amtlich oder unver­rückbar darge­stellt worden. Nicht selten spielt dabei die Entde­ckung und akri­bi­sche Analyse bisher unbe­kannter oder unbe­ach­teter, wenn nicht gar igno­rierter Archi­va­lien die entschei­dende Rolle.

So stieß der (Militär-)Historiker Hubert Speckner auf äußerst brisante Verschluss­akten im Öster­rei­chi­schen Staats­ar­chiv. Als er sie erschloss, erschien ein Vorfall in einem gänz­lich anderen Licht. Insbe­son­dere von italie­ni­scher Seite war er als blutigstes Attentat Südti­roler Wider­stands­kämpfer der 1960er Jahre gebrand­markt worden, und Rom hatte ihn als Hebel benutzt, um Wiens EWG-Asso­zia­tion zu unter­laufen. Denn Speckner erkannte alsbald, dass die sogleich auch von der öster­rei­chi­schen Regie­rung als zutref­fend erach­teten Beschul­di­gungen von italie­ni­scher Seite gegen die der Tat bezich­tigten und in Öster­reich in Haft genom­menen Personen, Erhard Hartung, Peter Kienes­berger und Egon Kufner, äußerst zwei­fel­haft waren. Die Akti­visten des Befrei­ungs­aus­schusses Südtirol (BAS) sollen den Mast einer Über­land­lei­tung gesprengt und eine Spreng­stoff­vor­rich­tung im unmit­telbar benach­barten Gelände ange­bracht haben, bei deren Deto­na­tion drei italie­ni­sche Mili­tär­an­ge­hö­rige getötet und einer schwer verletzt worden seien.

In Italien in Abwe­sen­heit verur­teilt, in Öster­reich freigesprochen

Die BAS-Leute waren später in einem Prozess in Florenz in Abwe­sen­heit zu hohen (Kufner) bis lebens­langen Haft­strafen (Hartung, Kienes­berger) verur­teilt, in Öster­reich hingegen „in dubio pro reo“ frei­ge­spro­chen worden. Speckner konnte in seiner umfang­rei­chen Studie Zwischen Porze und Roßkar­spitz ….1) von 2013 aufgrund zahl­rei­cher Akten­stücke den Nach­weis führen, dass sich besagtes Geschehen an der Porze­scharte keines­falls so abge­spielt haben konnte, wie es italie­ni­scher­seits darge­stellt wurde und in histo­risch-poli­ti­schen Publi­ka­tionen seinen Nieder­schlag fand. Es gab und gibt begrün­dete Verdachts­mo­mente, dass die italie­ni­schen Mili­tär­an­ge­hö­rigen dort über­haupt nicht zu Tode gekommen sein dürften. Es zeigten sich über­dies gewich­tige Indi­zien, die dafür spre­chen, dass die Tat mit hoher Wahr­schein­lich­keit einer fingierten Aktion des italie­ni­schen Mili­tär­ge­heim­dienstes SIFAR/SID/SISMI und des damit verquickten „Gladio“-Arms der geheimen „Stay behind“-Organisation der Nato gewesen sein dürfte.

In  seiner aufse­hen­er­re­genden und doppelt umfang­rei­chen Studie von 2016 Zwischen ‚Feuer­nacht‘ und Porze­scharte….2) unter­suchte Speckner  mehr als 50 Fälle, welche sich im Rahmen des brisanten Südtirol-Konflikts zwischen Dezember 1955 bis März 1970 zutrugen. Seine darin luzide aufbe­rei­tete und minu­tiös ausge­brei­tete Aufar­bei­tung der Gescheh­nisse machte deut­lich, wie weit und gravie­rend die offi­zi­elle Darstel­lung von der Akten­lage des von ihm im Staats­ar­chiv aufge­fun­denen sicher­heits­dienst­li­chen Bestandes abwichen.

Neue Erkennt­nisse, neue Befunde

Zudem ergänzte er seine Befunde aus den Primär­quellen der öster­rei­chi­schen Staats­po­lizei (StaPo) mittels der durch in zahl­rei­chen Gesprä­chen mit den Frei­heits­kämp­fern des BAS gewon­nenen Aussagen, was histo­rio­gra­phisch durch „Oral history“ seine metho­di­sche Recht­fer­ti­gung findet. Die von Speckner erschlos­senen sicher­heits­dienst­li­chen Akten erbrachten in vielen dieser Fälle neue, von der Forschungs­lage bis dahin abwei­chende Sicht­weisen, Erkennt­nisse und Ergeb­nisse sowohl auf die Gescheh­nisse im Einzelnen, als auch bezogen auf die Südtirol-Thematik insgesamt.

Exper­tise von Fach­leuten führt amtliche italie­ni­sche Darstel­lungen ad absurdum

Schließ­lich stellt Speckner im Zusam­men­wirken mit fundierten Exper­tisen amtlich aner­kannter Fach­leute in seinem jüngst erschie­nenen Buch3) auf Ratio­na­lität fußende, exqui­site Weise jene echoreichsten, blutigsten Fälle vom Kopf auf die Füße und führt damit deren amtliche italie­ni­sche Darstel­lungen ad absurdum.

Die Explo­sion am Pfitscherjoch

So im Falle eines todbrin­genden Ereig­nisses am Pfit­scher­joch, das sich am 23. Mai 1966 ereignet hatte. Dort war in einem von Guardia di Finanza, Cara­bi­nieri und Alpini-Soldaten genutzten Stütz­punkt infolge einer Explo­sion ein Ange­hö­riger der Finanz­wache ums Leben gekommen. Laut der „offi­zi­ellen“ italie­ni­schen Version des Gesche­hens habe er während des Patrouil­len­gangs die Tür zum Schutz­haus geöffnet, worauf eine Spreng­la­dung von unge­fähr 50 Kilo­gramm Spreng­stoff explo­diert sei. Wie bei ähnlich gela­gerten Vorfällen in den 1960er Jahren „wussten“ italie­ni­sche Medien wie Politik, dass die gewal­tige, das Gebäude nahezu völlig zerstö­rende Explo­sion von „Terro­risti“ verur­sacht worden sei. Und alsbald wurden die vier „Pusterer Buben“ Sieg­fried Steger, Josef Forer, Hein­rich Ober­leiter und Hein­rich Ober­lechner von Italien als Täter mehrerer Anschläge beschul­digt – darunter  des nie bewie­senen (und durch die spätere Aussage eines seiner Kame­raden jemand anderem zuge­schrie­benen) Mordes am Cara­bi­niere Vittorio Tiralongo 1964 in Mühl­wald bei Taufers.

Keine Spreng­stoff­ex­plo­sion, sondern eine Gasex­plo­sion in der Hüttenküche

Der Beur­tei­lung mehrerer dama­liger Spreng­sach­ver­stän­diger zufolge weist die Aufnahme des am Pfit­scher­joch­haus Getö­teten ebenso wie die Fotos von der zerstörten Holz­hütte ursäch­lich auf eine Gasex­plo­sion in der Hütten­küche hin. Auch das auf den offi­zi­ellen Tatort­fotos der Guardia di Finanza zu erken­nende einge­sackte Dach der Hütte wider­spreche mit aller Deut­lich­keit der Verwen­dung von Spreng­stoff, noch dazu in der erwähnten Menge von 50 Kilo­gramm: Dies­falls wäre das Dach, anstatt in sich zusam­men­zu­sa­cken viel­mehr in Trüm­mern in die Luft geflogen. Speckner kam aus den von ihm entdeckten und erst­mals ausge­wer­teten Archi­va­lien zum Ergebnis, wonach sich der Pfit­scher­joch-Vorfall „also kaum so zuge­tragen haben konnte wie von offi­zi­eller italie­ni­scher Seite dargestellt“.

Wie ein Unfall zu einem Anschlag wurde

Sein Befund ist von unlängst vorge­nom­menen und auf modernen natur­wis­sen­schaft­lich-spreng­tech­ni­schen  Instru­men­ta­rien fußenden Unter­su­chungen durch Experten so erhärtet worden, dass sie der Wahr­heit des Gesche­hens zwei­fels­frei am nächsten kommen und somit als bewiesen gelten dürfen. So allein schon durch die Fall­be­ur­tei­lung des Spreng(mittel)experten Max Ruspeck­hofer, der in seiner COLD CASE PFITSCHERJOCH – Wie ein Unfall zu einem Anschlag wurde kurz und bündig fest­stellte: „Wenn man alle diese Dinge in Betracht zieht, bleibt eigent­lich nur mehr eine einzige Schluss­fol­ge­rung übrig: Es handelte sich bei diesem Ereignis nicht um ein Attentat, bei dem bewusst der Tod von Menschen in Kauf genommen wurde, sondern um einen tragi­schen Unfall.“ 

Die amtliche italie­ni­sche Darstel­lung widerlegt

Eine letzt­ver­ge­wis­sernde Exper­tise durch den beei­deten unab­hän­gigen Sach­ver­stän­digen Dr. Ing. Harald Hasler unter­mauert Ruspeck­ho­fers Beur­tei­lung nicht nur, sondern stellt die amtliche italie­ni­sche gänz­lich in Abrede. Sie wurde zudem durch Haslers ballis­ti­sche Berech­nungen in Bezug auf das Verhalten von Personen bei Explo­sionen auf Grund­lage der inter­na­tional aner­kannten Basis­li­te­ratur4) komplet­tiert. Für ihn steht zwei­fels­frei fest, dass „aufgrund der fest­ge­stellten tech­ni­schen Tatsa­chen und Sach­ver­halte zwei­fels­frei klar [ist], dass sich der akten­kundig beschrie­bene Vorfall am 23. Mai 1966 am Pfit­scher­joch mit an Sicher­heit gren­zender Wahr­schein­lich­keit so NICHT ereignet haben kann. Alle Indi­zien spre­chen eindeutig für eine Gasex­plo­sion. Sach­ver­halts­dar­stel­lungen, Fach­be­ur­tei­lungen und entschei­dende Schluss­fol­ge­rungen aus den vorlie­genden Akten sind in keinster Weise nach­voll­ziehbar, mangel­haft und unter­liegen keinen fach­lich fundierten und objektiv ermit­telten gerichts­ver­wert­baren Erkenntnissen.“

Tatort Steinalm

Analog dazu ergaben sich für Speckner wie für die beigezo­genen Sach­ver­stän­digen in der „Causa Steinalm“ ähnlich gear­tete Ergeb­nisse. Knapp fünf Monate nach dem Geschehen rund um das Pfit­scher­joch-Haus waren zufolge einer Explo­sion in einem kaser­nierten Stütz­punkt der Guardia di Finanza (Finanz­wache) auf der Steinalm nahe dem Bren­ner­pass zwei Finanz­wache-Soldaten ums Leben gekommen. Ein Schwer­ver­letzter verstarb  wenige Tage später.

Tatort Steinalm

Italien bezich­tigt die drei BAS-Mitglieder weiterhin des „blut­rüns­tigen Anschlags“

Bis heute werden in Italien poli­tisch sowie justiz­amt­lich drei BAS-Akti­visten, darunter der legen­däre Frei­heits­kämpfer und Schüt­zen­major Georg („Jörg“) Klotz, des „blut­rüns­tigen Anschlags“ bezich­tigt – wenn­gleich Klotz nach­weis­lich in Öster­reich im Exil war und auch die beiden anderen Beschul­digten hieb- und stich­feste Alibis hatten. Ehefrau Rosa, gebo­rene Pöll,  deren mutigem, aufop­fe­rungs­rei­chem und entsa­gungs­vollem Leben  Tochter Eva jüngst eine warm­her­zige Biogra­phie widmete5) war daraufhin verhaftet und für 14 Monate einge­ker­kert, ihre sechs Kinder Verwandten und Nach­barn über­stellt worden.

Der Regie­rung in Öster­reich von Italien eine Mitschuld zugewiesen

Wenn­gleich damals schon zahl­reiche Gutachten, die von mehreren Sach­ver­stän­digen zu dem Vorfall auf der Steinalm ange­fer­tigt worden waren, die Explo­sion einer Gasfla­sche oder die Deto­na­tion einer Kiste mit Hand­gra­naten in deren unmit­tel­barer Nähe, als ursäch­lich für den Tod der Finanzer sowie die Zerstö­rung des Stütz­punktes ansahen, blieb und bleibt Italien gera­dezu doktrinär bei seiner Hergangs­ver­sion und der Täter­be­schul­di­gung. Es wies, wie stets bei derar­tigen Vorfällen, Wien eine „Mitschuld“ zu, da die öster­rei­chi­schen Behörden zu wenig gegen den Terro­rismus in Italien unternähmen.

Grund­lagen des dama­ligen Gerichts­ur­teisl vom Sach­ver­stän­digen widerlegt

Dass diese offi­zi­elle römi­sche Schuld­zu­schrei­bung zu verwerfen ist, zeigt eigent­lich allein schon Speck­ners Durch­leuch­tung des dama­ligen Vorfalls. Zudem unter­mauert die wissen­schaft­lich begrün­dete Begut­ach­tung durch den Sach­ver­stän­digen Hasler seine akten­mäßig erschlos­senen histo­ri­schen Ergeb­nisse. Hasler stellt nämlich aufgrund seiner umfang­rei­chen Befun­dung, einer foren­sisch-krimi­nal­tech­ni­schen Analyse sowie der Bewer­tung der  Sach­ver­halte unum­wunden fest, dass sich der akten­kundig beschrie­bene Vorfall am 9. September 1966 auf der Steinalm mit an Sicher­heit gren­zender Wahr­schein­lich­keit so NICHT ereignet haben konnte“ und verwirft die dem dama­ligen Gerichts­ur­teil zugrund­le­genden Ergeb­nisse italie­ni­scher Gutachter, indem er konsta­tiert, sie unter­lägen „keinen fach­lich fundierten und objektiv ermit­telten gerichts­ver­wert­baren Schluss­fol­ge­rungen“.

Wie eine Verbal­note Italiens den angeb­li­chen Terror­an­schlag Porze­scharte darstellte

Schließ­lich der an Tragik und Verwerf­lich­keit des amtli­chen Wirkens italie­ni­scher Politik wie Justiz sowie des publi­zis­ti­schen ebenso wie des gene­rellen histo­rio­gra­phi­schen Nach­halls im Blick auf die „Südti­roler Bomben­jahre“ wohl kaum zu über­tref­fende „Fall Porze­scharte“. In einer Auflis­tung von (nach heutigen Erkennt­nissen angeb­li­chen) Terror­an­schlägen, die einer Wien über­mit­telten diplo­ma­ti­schen „Verbal­note“ des römi­schen Außen­mi­nis­te­riums vom 18. Juli 1967 beigeheftet ist, wird das Geschehen auf der Porze­scharte am 25. Juni 1967 wie folgt „klar und eindeutig“ beschrieben: „Spren­gung des Mastes einer Hoch­span­nungs­lei­tung durch eine mit Uhrwerk verse­hene Spreng­vor­rich­tung. Während des Lokal­au­gen­scheins tritt der Alpini-Soldat Armando Piva auf eine Tret­mine und verur­sacht eine Explo­sion. Infolge der schweren Verlet­zungen stirbt der Soldat kurz darauf im Zivil­kran­ken­haus von Inni­chen. Gegen 15 Uhr desselben Tages gerät eine Feuer­werker-Truppe nach Säube­rung des um den Hoch­span­nungs­mast gele­genen Geländes in eine weitere Minen­falle. Die Explo­sion verur­sacht den Tod des Kara­bi­nie­ri­haupt­manns Fran­cesco GENTILE, des Fall­schirm­jä­ger­leut­nants Mario DI Legge und des Fall­schirm­jäger-Unter­of­fi­ziers Olivo TOZZI [sic!, der rich­tige Name ist DORDI], sowie schwere Verlet­zung des Fall­schirm­jäger-Feld­we­bels Marcello FAGNANI. Am Tatort wurde ein Gerät mit der Aufschrift B.A.S. aufgefunden.“

Auffäl­lige Wider­sprüche von Anfang an

Schon von Anfang an jedoch hatten sich daran äußerst auffäl­lige Wider­sprüche ergeben. Bereits am 26. Juni, also einen Tag nach den ersten italie­ni­schen Meldungen, die öster­rei­chi­schen Stellen über­mit­telt worden waren, ließ sich der Ostti­roler Bezirks­haupt­mann Dr. Doblander mit einem Hubschrauber an den Ort des Gesche­hens bringen. Das Ergebnis seines Erkun­dungs­fluges meldete die Sicher­heits­di­rek­tion für Tirol an das öster­rei­chi­sche Innen­mi­nis­te­rium: „Der Bezirks­haupt­mann schließt mit 100 %-iger Sicher­heit‘ aus, daß in der Nähe dieses Mastes eine andere Explo­sion erfolgt ist. Es konnten weder Fußspuren noch Blut­spuren noch irgendwie andere Spuren fest­ge­stellt werden, die darauf hindeuten würden, daß sich hier mehrere Menschen befunden haben. Der italie­ni­sche Grenz­trupp soll aber aus 25 Personen bestanden haben. Die Anwe­sen­heit dieser 25 Personen in der Nähe dieses Mastes hält der Bezirks­haupt­mann auf Grund der Boden­lage und ‑beschaf­fen­heit für ausgeschlossen.“

Der Akten­ver­merk vom 27. Juni 1967

Dies deckte sich mit dem Inhalt eines Akten­ver­merks der Tiroler Sicher­heits­di­rek­tion aufgrund von Angaben der Verbund­ge­sell­schaft, wonach zwei von deren Monteure aus dem Standort Lienz in Beglei­tung eines Gendar­me­rie­be­amten am 27. Juni auf der Porze­scharte zur Scha­dens­be­gut­ach­tung an der Leitung von Lienz nach Pelos waren. In besagtem Akten­ver­merk wurde daraufhin fest­ge­halten: „Im näheren Bereich des Mastes auch auf italie­ni­schem Gebiet konnte außer einem Zettel, italie­nisch beschriftet, einigen Drähten, keine Spuren gefunden werden, die auf Minen­ex­plo­sionen und vor allem auf das Verun­glü­cken von Menschen schließen lassen. Es wäre anzu­nehmen, daß in solchen Fällen Verband­reste, Blut­spuren oder ähnli­ches wahr­nehmbar gewesen wäre. Außer einem weit entfernten Posten in der meist besetzten Kaverne aus dem 1. Welt­krieg waren im gesamten Bereich weder Grenz­schutz­or­gane, Militär noch Arbeiter zu bemerken.“ 

Der „blutigste Terrorakt“, aber keine Spuren davon auffindbar

Fest steht, dass die alsbald für „den blutigsten Terrorakt“ verant­wort­lich gemachten und in Inns­bruck in Unter­su­chungs­haft genom­menen Akti­visten des Südti­roler Frei­heits­kampfs Erhard Hartung (Arzt), Peter Kienes­berger (Elek­triker) und Egon Kufner (Soldat) in besagter Nacht im Juni 1967 gemeinsam am Ort des Gesche­hens waren. Sie waren nach Einbruch der Dunkel­heit – um vom Alpini-Stütz­punkt Forcella Dignas aus nicht gesehen zu werden – in Rich­tung Porze­scharte aufge­stiegen, um, wie sie stets beteuer(te)n, dort einen verwun­deten Südti­roler BAS-Mann zu über­nehmen, brachen das Vorhaben aber aufgrund von unüb­li­chen Wahr­neh­mungen des durch viele ähnliche Einsätze erfah­renen Kienes­berger, der sie als mögliche italie­ni­sche Falle deutete,  aber ab. Buch­autor Speckner arbei­tete heraus, dass Kienes­ber­gers Erkenntnis, in dieser Nacht nicht allein auf der Porze­scharte zu sein, mit einiger Sicher­heit der Wirk­lich­keit entspro­chen haben dürfte.

Vehe­ment stellen Hartung und Kufner, die beiden noch Lebenden – Kienes­berger verstarb 2015 – das von italie­ni­scher Seite unter­stellte Ziel der gezielten Tötung von Ange­hö­rigen der italie­ni­schen Sicher­heits­kräfte mittels Minen in Abrede. Die in Italien verur­teilten und dort nach wie vor von Inhaf­tie­rung bedrohten, in Öster­reich hingegen frei­ge­spro­chenen beiden lebenden Akti­visten beteuern in aller Klar­heit, mit dem Tod der vier italie­ni­schen Soldaten am 25. Juni 1967 nicht das Geringste zu tun zu haben. Das ist in den öster­rei­chi­schen Gerichts­ver­fahren, in dem damals zugrun­de­lie­genden, von ihren Vertei­di­gern initi­ierten Gutachten sowie von den  in Speck­ners vorge­legtem Buch einge­gan­genen jüngsten Sach­ver­stän­digen-Exper­tisen unter­mauert worden.

Das poli­ti­sche Öster­reich folgt der wider­legten italie­ni­schen Darstel­lung nach wie vor

Die italie­ni­sche Darstel­lung der Ereig­nisse um den 25. Juni 1967 ist unter Druck, dem sich Wien nicht wider­setzt hat, vom poli­ti­schen Öster­reich und dessen Sicher­heits- sowie partiell auch Justiz­or­ganen letzt­lich über­nommen worden. Dieser Darstel­lung zufolge soll die Gruppe Kienes­berger binnen einer halben Stunde den Strom­mast direkt an der Grenze doppelt vermint und zwei perfekt getarnte Spreng­fallen derart optimal verlegt haben, dass sie ihr mörde­ri­sches Ziel erreicht hätten. Fest­zu­halten ist, dass diese Darstel­lung trotz aller neuen Archiv­funde und seit 2013 erschie­nenen Publi­ka­tionen, welche sie erheb­lich in Zweifel ziehen, als allein­gül­tige ange­sehen wird – in Italien sowieso – und auch von einigen Histo­ri­kern, insbe­son­dere in Südtirol, geteilt wird. Dies vornehm­lich infolge des ideo­lo­gisch moti­vierten „erkennt­nis­lei­tenden Inter­esses“ und merk­li­cher Bedacht­nahme auf die viel­fach obwal­tende „poli­ti­sche Korrekt­heit“, wonach die „Porze­scharte-Atten­täter“ aus Öster­reich „eindeutig dem Rechts­extre­mismus zuzu­rechnen“ seien.

„Ein Attentat, das keines war“

Wie sich in Speck­ners vorlie­gendem Buch zeigt, miss­achtet die erwähnte Über­nahme der italie­ni­schen Darstel­lung die sicher­heits­dienst­liche Akten­lage sowie die spreng­tech­ni­schen und natur­wis­sen­schaft­li­chen Bedin­gungen des Gesche­hens auf der Porze­scharte. Diese werden in den darin enthal­tenen gutach­ter­li­chen Stel­lung­nahmen der Sach­ver­stän­digen Ruspeck­hofer und Hasler ausführ­lich erör­tert. So resü­miert Max Ruspeck­hofer die von ihm ange­stellten umfäng­li­chen spreng­tech­ni­schen Analysen und fasst deren Ergeb­nisse unum­wunden in der aussa­ge­kräf­tigen Fest­stel­lung „ein Attentat, das keines war“ zusammen.

Hasler stellte nach vier Jahren umfang­rei­cher wissen­schaft­li­cher Feld­ver­suche  Rekon­struk­tionen zum Vorfall und den beschrie­benen Sach­ver­halten im Detail zusammen. In foren­si­schen Unter­su­chungen wurden die aufgrund der vorhan­denen Akten sich erge­benden Sach­ver­halte nach modernsten, aus naturwissenschaftlich-(spreng)technischen Erkennt­nissen gewon­nenen Methoden auf Plau­si­bi­lität sowie Repro­du­zier­bar­keit hin über­prüft und bewertet sowie schließ­lich den akten­kun­digen Ergeb­nissen gegenübergestellt.

Die gutach­ter­liche Zusammenfassung

Der Gutachter stellte zusam­men­fas­send fest: „Aufgrund der sehr umfang­rei­chen Befund­auf­nahme, der Feldversuche/ Rekon­struk­tionen sowie Detail­ana­lysen der einzelnen Sach­ver­halte zu den akten­kun­digen Angaben der Ereig­nisse vom 25. Juni 1967 auf der Porze­scharte kann […] mit an Sicher­heit gren­zender Wahr­schein­lich­keit gesagt werden, dass sich die Ereig­nisse so NICHT ereignet haben können. Die doku­men­tierten Ereig­nisse sind nicht im Ansatz repro­du­zierbar, absolut uner­klärbar und nicht im Ansatz nach­voll­ziehbar. […] Prak­ti­sche Feld­ver­suche bei denen die Spren­gung vom 25.06.1967 mehr­mals mit ballis­ti­scher Gela­tine, huma­no­iden Dummies und Indi­ka­toren nach den Akten­an­gaben wissen­schaft­lich hinter­fragt und nach­ge­stellt wurden“, belegten dies „eindeutig und zweifelsfrei“.

Speck­ners Nach­weis: Atten­tate der Südti­roler Frei­heits­kämpfer waren es nicht

Speck­ners Buch enthält bisher unbe­kannte Illus­tra­tionen aus den von ihm erschlos­senen Akten sowie solche, die von den wissen­schaft­li­chen Feld­ver­su­chen der Gutachter herrühren, und es  schließt mit einem anlass­be­zo­genen poin­tierten Über­blick über jene überaus beach­tens­werten geheim­dienst­li­chen Akti­vi­täten in Italien, welche  vor allem im Zusam­men­hang mit der Südtirol-Proble­matik von Belang und Substanz sind. So bleibt abschlie­ßend fest­zu­halten, dass der Beharr­lich­keit und Ziel­stre­big­keit  des einschlägig ausge­wie­senen Autors das Haupt­ver­dienst zukommt, in gründ­li­chen Forschung(sarbeit)en den Nach­weis erbracht zu haben, dass die Anschläge von 1966 und 1967 auf dem Pfit­scher­joch, der Steinalm und der Porze­scharte keines­wegs unter die Verant­wor­tung der  Frei­heits­kämpfer des BAS  rubri­ziert werden dürfen,  sondern entweder als Unfälle zu verbu­chen sind oder den von höchsten Stellen, Amts­trä­gern und Poli­ti­kern des Staates ange­ord­neten und/oder gebil­ligten Umtriebe natio­na­lis­tisch-auto­ritär gesinnter italie­ni­schen Geheim­dienste und darin wirkenden Funk­ti­ons­trä­gern anheim­zu­stellen sind.

Pfit­sa­cher­jochFunk­ti­ons­träger in Politik, Justiz, Wissen­schaft, Medien verschließen die Augen

Es gereicht Italien eben­so­wenig zur Ehre wie einer gewissen Spezies der Histo­riker- wie der Poli­to­lo­gen­zunft, dass trotz längst ding­fest gemachter Wider­sprüch­lich­keiten und nach­ge­wie­sener Unrich­tig­keiten gera­dezu unnach­giebig an herkömm­li­chen Darstel­lungen fest­ge­halten wird. Und allen in die Südtirol-Frage invol­vierten Amts- und Funk­ti­ons­trä­gern in Politik, Justiz, Wissen­schaft und Medien Öster­reichs und Tirols als Ganzes ist leider der Vorwurf nicht zu ersparen, ange­sichts aller neuen Erkennt­nisse, die sie aufrüt­teln müssten, vor diesem untrag­baren Zustand die Augen zu verschließen.

Zum Autor:
Prof. Dr. Dr. h.c. Rein­hard Olt war vom  1. November 1985 an poli­ti­scher Redak­teur der Frank­furter Allge­meinen Zeitung und vom 1. September 1994 bis zu seinem Ausscheiden am 31. August 2012 mit Sitz in Wien deren poli­ti­scher Korre­spon­dent für Öster­reich, Ungarn, Slowe­nien, zeit­weise auch für die Slowakei. In der FAZ hat er die meiste Zeit seines beruf­li­chen Wirkens zuge­bracht. Daneben nahm er Lehr­auf­träge an deut­schen und öster­rei­chi­schen Hoch­schulen sowie in Buda­pest wahr. Seit 1990 ist er Träger des Tiroler Adler-Ordens, seit 2013 des Großen Adler-Ordens. 1993 erhielt er den Medi­en­preis des Bundes der Vertrie­benen. 2003 zeich­nete ihn der öster­rei­chi­sche Bundes­kanzler mit dem Leopold-Kunschak-Preis aus, und der Bundes­prä­si­dent verlieh ihm  im glei­chen Jahr den Titel Professor. 2004 wurde er als erster mit dem Otto-von-Habs­burg-Jour­na­lis­ten­preis für Minder­hei­ten­schutz und kultu­relle Viel­falt geehrt; eben­falls 2004 wurde ihm das Goldene Ehren­zei­chen der Stei­er­mark verliehen. 2012 ernannte ihn die Eötvös-Loránd-Univer­sität in Buda­pest zum Ehren­doktor (Dr. h.c.) sowie Professor, und 2013 verlieh ihm der öster­rei­chi­sche Bundes­prä­si­dent das Ehren­kreuz für Wissen­schaft und Kunst.  Geboren wurde Olt 1952 als Sohn eines Bauern. Sein Abitur bestand er 1971 in Michel­stadt (Oden­wald). Nach Ableis­tung des Wehr­dienstes studierte er Germa­nistik, Volks­kunde, osteu­ro­päi­sche Geschichte und Poli­tik­wis­sen­schaft in Mainz, Frei­burg und Gießen bis zur Promo­tion 1980. Es folgte an der Univer­sität Gießen eine Assis­ten­ten­tä­tig­keit bis 1985.

1) Hubert Speckner: Zwischen Porze und Roßkar­spitz… Der „Vorfall“ vom 25. Juni 1967 in den öster­rei­chi­schen sicher­heits­dienst­li­chen Akten. Verlag Gra & Wis, Wien 2013. 29,70 Euro. ISBN 978–3‑902455–21‑5.

2)  Hubert Speckner: Zwischen ‚Feuer­nacht‘ und ‚Porze­scharte…. Das ‚Südtirol-Problem‘ der 1960er Jahre in den öster­rei­chi­schen sicher­heits­dienst­li­chen Akten„. Verlag Gra & Wis, Wien 2016. ISBN 978–3‑902455–23‑9.

3) Hubert Speckner: Pfit­scher­joch Steinalm Porze­scharte – Die drei „merk­wür­digen Vorfälle“ des Höhe­punktes der Südti­roler Bomben­jahre 1966 und 1967. Verlag effekt!, Neumarkt a. d. Etsch 2022. 284 Seiten. 25 Euro. ISBN 979–12–5532004–3.

4) TNO Green Book (Methods for the deter­mi­na­tion of possible damage to people and objects resul­ting from releases of hazar­dous materials).

5)  Eva Klotz. Rosa Pöll – Die Frau des Frei­heits­kämp­fers. Verlag effekt!, Neumarkt/Etsch 2022. 390 Seiten. 25 Euro. ISBN 9788897053965.

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