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Von unserem Korrespondenten Lionel Baland*

Im zweiten Teil seines Buches Indispensables frontières mit dem Titel „Des frontières prises d’assaut“ („Grenzen im Sturm erobert“) befasst sich der Vorsitzende der niederländischen Partei Forum voor Democratie Thierry Baudet mit der Frage des Vorgehens der westeuropäischen Nationalstaaten gegen die Existenz nationaler Grenzen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dieser Teil des Buches widmet sich der Feststellung der fortschreitenden Schwächung des Nationalstaates, intern durch Multikulturalismus und extern durch Supranationalismus.

Thierry Baudet unterscheidet die Tatsache, dass ein souveräner Staat Bündnisse mit anderen souveränen Staaten schließt – so etwa NATO (Nordatlantikvertrag), UNO (Vereinte Nationen – mit Ausnahme des Sicherheitsrates) und OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) – und dass es zum Aufbau supranationaler Strukturen kommt – so etwa IStGH (Internationaler Strafgerichtshof), EMRK (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte), IGH (Internationaler Gerichtshof), WTO (Welthandelsorganisation) , UN-Sicherheitsrat, EU (Europäische Union). Das erste dieser beiden Phänomene ist natürlich und beeinflusst den Nationalstaat nicht, während das zweite Organisationsformen schafft, die über den Staaten agieren. Im ersten Fall behalten die Staaten ihren freien Willen und im zweiten verlieren sie ihn.

Argumente für den Supranationalismus

Baudet führt zwei Argumente der Befürworter des Supranationalismus an und widerlegt sie.

Das erste ist, dass Entscheidungen auf supranationaler Ebene “universell” sind, dass sie einer strengen wirtschaftlichen Logik folgen und dass sie tatsächlich “unpolitisch” sind. Diejenigen, die diese Position verteidigen, fügen häufig hinzu, dass die Fragen, die eine politische Entscheidung erfordern, in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten bleiben müssen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sagt beispielsweise, er sei nur für universelle, unpolitische Debatten zuständig. In dem Maße, in dem viele der Grundsätze und Regeln dieses Gerichts (wie die Abschaffung der Todesstrafe) in vielen europäischen Staaten eindeutig den Positionen großer Minderheiten und sogar Mehrheiten zuwiderlaufen, kann dieser simple Universalitätsbegriff als Spannungsquelle erscheinen.

Wir finden diese Idee einer vermeintlichen “Universalität” von Entscheidungen auch in der Politik der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) der Europäischen Union, die eine einheitliche Währung mit fixem Zinssatz eingerichtet hat, und die eine Kontrolle der Inflation nach “unpolitischen” Kriterien ermöglichen soll. Befürworter dieser supranationalen Entwicklungen gehen daher vielfach davon aus, dass eine große Anzahl von Entscheidungen, die früher den nationalen politischen Autoritäten vorbehalten waren, jetzt durch universelle wirtschaftliche oder moralische Gesetzgebung geregelt werden können und das eben deshalb, weil viele wirtschaftliche oder moralische Fragen unpolitisch wären. John Laughland sagt: „Die wirtschaftlichen und antipolitischen Voraussetzungen, die dem europäischen Aufbau zugrunde liegen, sind die größte Bedrohung für Demokratie und Recht. In Europa (und nicht nur auf der Ebene der europäischen Institutionen) ist allgemein anerkannt, dass Politik einfach die Verwaltung der Wirtschaft ist und dass es ausreicht, diese Aufgabe auch ohne Demokratie gut zu erfüllen. […] In den Augen der Befürworter des Ökonomismus sind der Staat und die politische Aktivität umständlich und absurd. Es scheint ihnen besser, die Welt rational zu organisieren, Diskussionen und Streitigkeiten zu beenden und politisch-wirtschaftliche Systeme einzurichten, die eher Harmonie als Konflikte fördern.” (1).

In der Tat hat „die Wirtschaftssprache die politische Sprache weitgehend ersetzt“ (2) […]. Das ist in voller Deutlichkeit bei der Europäischen Union festzustellen wie auch bei der Welthandelsorganisation […]. Was Supranationalisten bei der Bezugnahme auf diese “universellen” Bestimmungen übersehen, ist, von welcher politischen Autorität diese Bestimmungen ausgehen, da das, was nicht im politischen Bereich liegt, anscheinend keine politische Legitimation erfordert.

Das zweite Argument, das allgemein zur Rechtfertigung supranationaler Entwicklungen vorgebracht wird, stammt von jenen, die zwar die politischen Auswirkungen dieser Entwicklungen anerkennen, jedoch behaupten, dass der Verlust der Souveränität und (gleichzeitig) der politischen Unabhängigkeit in gewissem Maße durch Wirtschaftswachstum oder andere Vorteile ausgeglichen würde. Dies gilt insbesondere für die WTO, von der es heißt, sie arbeite im Interesse aller ihrer Mitglieder, die aber in einigen Fällen auch gegen das Interesse oder den Willen einiger ihrer Mitglieder handeln kann. Das gleiche Argument gilt für Debatten über die Europäische Union, den Euro und den Gemeinsamen Markt, die, wie die Befürworter des europäischen Supranationalismus immer wieder betonen, für alle von Vorteil sind, ohne jedoch die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass sie für einige Mitgliedstaaten auch nachteilhaft sein könnten.“(3).

Thierry Baudet untersucht dann die sechs supranationalen Institutionen: “Der Klarheit halber habe ich sie in zwei Gruppen unterteilt: einerseits die supranationalen Gerichte, andererseits die supranationalen Organisationen. Der erste umfasst den Internationalen Strafgerichtshof, den Internationalen Gerichtshof und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte; die zweite umfasst die Welthandelsorganisation, den Sicherheitsrat und die Europäische Union. […] Alle diese Organisationen, die sich erst vor relativ kurzer Zeit entwickelt haben, sind in ihren Befugnissen bislang relativ begrenzt. Zusammen bilden sie jedoch ein Netzwerk von Entscheidungsinstitutionen, die eine Multi-Level-Governance schaffen, die das erste Element des Doppelangriffs auf die Grenzen darstellt. “(4)

Die entkleideten Nationalstaaten

„Jede dieser supranationalen Institutionen entzieht ihren Mitgliedstaaten auf ihre Weise bestimmte Attribute ihrer nationalen Souveränität. Die Mitgliedstaaten können daher Regeln oder Entscheidungen unterliegen, zu denen sie nie ihre Meinung oder ihre Zustimmung geäußert haben und die manchmal ihren Interessen oder Präferenzen zuwiderlaufen.

Nicht alle diese Entscheidungen sind von kapitaler Bedeutung. Nicht alle supranationalen Institutionen haben unbedingt äußerst weitreichende Befugnisse oder Handlungsspielräume. Die Welthandelsorganisation hat beispielsweise nur begrenzte Befugnisse. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat nur wenige Mittel, um seine Ansichten durchzusetzen. Doch im Großen und Ganzen gesehen wurde in den letzten Jahrzehnten ein ganzes Netzwerk supranationaler Engagements aufgebaut, das es jeder Institution ermöglicht, den einen oder anderen Teil der nationalen Entscheidungsbefugnis in bestimmten politischen Bereichen zu übernehmen, so dass sie eine immer wichtigere Rolle bei den politischen und gerichtlichen Entscheidungen spielen können, welche die europäischen Staaten betreffen.

Diese Organisationen sind alle erst vor kurzem entstanden und ihre Befugnisse bleiben relativ begrenzt. Wenn sich jedoch nichts ändert, werden sie in den kommenden Jahren ihren Einfluss auf ihre Mitgliedstaaten weiter ausbauen. Ihre Befugnisse werden weiter zunehmen. Jede Gerichtsentscheidung stellt einen Präzedenzfall dar und jede neue Regelung oder Richtlinie enteignet die nationale Demokratie in einem noch so kleinen Entscheidungsbereich.

Zunehmend können Zentralregierungen von Mehrheiten anderer Nationen oder einem anonymen Kollektiv von Bürokraten überstimmt werden. Ausländische Richter können sich über nationale Richter in rechtlichen oder moralischen Fragen immer häufiger hinwegsetzen.

Per Definition unterliegen und können diese supranationalen Mehrheiten und ausländischen Richter nicht der gleichen Gewaltenteilung unterliegen wie die nationalen Parlamente und Richter, solange keine integrierte politische Struktur vorliegt, z.B. solange noch kein Weltstaat geschaffen wurde.“ (5).

Mit zunehmender Verbreitung des Supranationalismus verfolgten die meisten westlichen Staaten infolge eines großen Zustroms von Einwanderern in zunehmenden Maße de facto eine Politik des Multikulturalismus, was in vielen dieser Länder zu weiterer Infragestellung des nationalen Zusammenhalts und des Konzepts der nationalen Identität führte.

Für eine Leitkultur

Baudet glaubt, dass “Supranationalismus und Multikulturalismus per Definition nicht mit der nationalen Selbstverwaltung vereinbar sind”. Wer für parlamentarische Demokratie und Rechtsstaatlichkeit eintritt, könne deren Existenz nicht begrüßen.

Thierry Baudet verteidigt den multikulturellen Nationalismus – also eine vielfältige und pluralistische Gesellschaft, die dennoch von einem monokulturellen Kern aufrechterhalten würde, der aus einer Leitkultur besteht, welche die grundlegenden Werte definiert, während der Multikulturalismus die Idee einer Leitkultur ablehnt. Er schreibt: “Der sozial homogene Nationalstaat ist ein relativ junges Phänomen, und nichts in seiner Philosophie ist einer pluralistischen Gesellschaft grundsätzlich entgegengesetzt.”

Anmerkungen

(1) Laughland John, The Tainted Source. The Undemocratic Origins of the European Idea, Little Brown, Boston, 1997, p. 192.

(2) Siedentop Larry, La démocratie en Europe (trad. A. Collas et H. Prouteau), Buchet/Chastel, Paris, 2003, p. 58.

(3) Baudet Thierry, Indispensables frontières. Pourquoi le supranationalisme et le multiculturalisme détruisent la démocratie, préface de Pascal Bruckner, Éditions du Toucan, Paris, 2015, pp. 141-143.

(4) Ibid., pp. 143-144.

(5) Ibid., pp. 271-272.

Dieser Bericht erschien zuerst in französischer Sprache bei EuroLibertés, https://eurolibertes.com/politique/thierry-baudet-frontieres-prises-dassaut/


*) Lionel Baland schreibt für patriotische französischsprachige Medien wie Eurolibertés, Boulevard Voltaire und Breizh-info. Er tritt auch gelegentlich als Kommentator bei TVLibertés und RadioLibertés auf. Sein politischer Blog: lionelbaland.hautetfort.com/