Warum sich der Isla­mismus so gut mit der Woke-Bewe­gung verträgt

Ayaan Hirsi Ali · Bildquelle: Magyar Nemzet

Von Ayaan Hirsi Ali
 

Nach dem Unter­gang des Isla­mi­schen Staates sind Isla­misten auf der ganzen Welt gezwungen, ihre Stra­tegie gegen den Westen radikal neu zu über­denken. Indem der Fall des Kali­fats die utopi­schen Hoff­nungen seiner Anhänger zerstörte, stutzte er der isla­mis­ti­schen Sache für die nächsten Jahr­zehnte die Flügel. So wie viele Kommu­nisten desil­lu­sio­niert wurden, als ihre Ideo­logie in der Sowjet­union umge­setzt wurde, kann die Barbarei des Isla­mi­schen Staates nicht länger igno­riert werden.

Sicher­lich, auch im Jahr 2021 bleiben Gruppen wie die wieder­auf­le­benden Taliban und Boko Haram – ganz zu schweigen vom irani­schen Regime – einer isla­mis­ti­schen Mili­tanz verpflichtet, die sich auf Gewalt stützt, mit all dem mensch­li­chen Leid, das damit einher­geht. Aber im Großen und Ganzen hat sich die dschi­ha­dis­ti­sche Mili­tanz unter den Muslimen als unpo­pulär erwiesen und oft eine gewalt­tä­tige Gegen­re­ak­tion hervor­ge­rufen. Sein Verspre­chen eines isla­mis­ti­schen Traum­staates hat seinen Reiz verloren.

Dennoch scheinen Isla­misten im Westen eine mögliche Lösung gefunden zu haben, die, zumin­dest vorerst, die Anwen­dung expli­ziter Gewalt umgeht. Der Kern dieser alter­na­tiven Stra­tegie ist es, sich so viel wie möglich auf die Dawa zu konzentrieren.

Fast zwanzig Jahre nach 9/11 ist die Dawa im Westen immer noch unbe­kannt. In der Theorie bedeutet der Begriff einfach einen Aufruf zum Islam, eine Art Einla­dung; Westler würden ihn als eine Form der Missio­nie­rung erkennen.

In der Praxis verlassen sich Isla­misten jedoch auf die Dawa als ein umfas­sendes System von Propa­ganda, Öffent­lich­keits­ar­beit und Gehirn­wä­sche, das darauf abzielt, alle Muslime in ein isla­mis­ti­sches Projekt einzu­binden und gleich­zeitig so viele Nicht-Muslime wie möglich zu bekehren.

Unter west­li­chen Analysten hat die Dawa – die im 20. Jahr­hun­dert zu einem Werk­zeug der Muslim­bru­der­schaft wurde – tradi­tio­nell viel weniger Aufmerk­sam­keit erhalten als der mili­tante Dschihad, obwohl Beob­achter auf ihre Bedeu­tung für die „huma­ni­tären“ Akti­vi­täten der Hamas hinge­wiesen haben.

In ihrem Buch Unveiled beschreibt die ehema­lige Muslimin Yasmine Mohammed anschau­lich ihre schwie­rige Ehe mit dem ägyp­ti­schen Dschi­ha­disten Essam Marzouk. Sie kommen­tierte die Riva­lität zwischen Dschi­ha­disten (wie ihrem Ex-Mann) und Isla­misten, die sich als „gewalt­frei“ präsentieren:

„Die Wahr­heit ist, dass Essam die [Muslim-]Bruderschaft hasste: Er dachte, die Isla­misten seien ein Haufen von Weich­eiern. Er war eigent­lich mit einer mili­tan­teren Gruppe namens Al Jihad verbündet, die der ägyp­ti­sche Flügel von Al Qaeda war. Isla­misten und Dschi­ha­disten haben das gleiche Ziel – den Islam zu verbreiten – aber sie haben unter­schied­liche Methoden. Die Isla­misten wollen dies mit passiven Mitteln wie Politik, Einwan­de­rung und Gebur­ten­rate erreichen.

Dieser wich­tige Punkt entgeht west­li­chen Poli­ti­kern oft. Denn was auch immer einige nicht so schlaue CIA-Rentner sagen mögen, Gruppen wie die Muslim­bru­der­schaft sind weder mode­rate Orga­ni­sa­tionen noch plura­lis­ti­sche Partner in der Zivil­ge­sell­schaft. Isla­mis­ti­sche Gruppen sind sicher­lich nicht geeignet, die Radi­ka­li­sie­rung junger Muslime zu verhin­dern. Statt­dessen, wie ein Beob­achter vor mehr als einem Jahr­zehnt fest­stellte, „zeigt die Geschichte der Muslim­bru­der­schaft, dass sie insge­samt nicht als Brand­mauer gegen den Dschi­ha­dismus funk­tio­niert hat, sondern als frucht­barer Inku­bator für radi­kale Ideen in allen mögli­chen Zusammenhängen.

Zynisch gespro­chen, errei­chen Isla­misten durch Dawa weit mehr als durch Bomben­an­schläge und Atten­tate. Die Bedro­hung ist weniger offen­sicht­lich. Dschihad und Gewalt neigen dazu, eine sofor­tige Reak­tion zu provo­zieren. Bei der Dawa hingegen kann man von Nächs­ten­liebe, Spiri­tua­lität und Reli­gion spre­chen – und sie dann mit normalen reli­giösen Bekeh­rungs­mis­sionen gleich­setzen. Welcher vernünf­tige Mensch würde sich in einer freien Gesell­schaft damit ausein­an­der­setzen wollen?

Aber bei der Dawa geht es auch darum, Netz­werke aufzu­bauen: lokal, regional und inter­na­tional. In The Call hat Krithika Varagur sowohl das enorme globale Ausmaß als auch die Undurch­sich­tig­keit dieser Akti­vi­täten aufge­deckt. Vor allem Saudi-Arabien hat Milli­arden von Dollar in die Dawa gesteckt, ein Groß­teil davon in den Verei­nigten Staaten.

Im Westen wird diesen Regimen nicht viel Beach­tung geschenkt, ebenso wenig wie der isla­mis­ti­schen Infra­struktur in den USA. Nichts­des­to­trotz breitet sich der Isla­mismus inner­halb west­li­cher Insti­tu­tionen aus, und dies ist größ­ten­teils auf eine unwahr­schein­liche Allianz zurück­zu­führen: Die Dawa hat die Verfüh­rungs­kraft der „Woke“-Bewegung erkannt und begonnen, die Sprache der Bürger­rechte und des Multi­kul­tu­ra­lismus zu übernehmen.

Natür­lich ist dies kein ausschließ­lich ameri­ka­ni­sches Phänomen, aber die Energie der Woke-Bewe­gung in den USA hat diese Zusam­men­ar­beit einen Schritt weiter gebracht. In Frank­reich hingegen wird der „Islamo-Links­ruck“ viel eher als Bedro­hung für das Modell der univer­sellen, säku­laren und repu­bli­ka­ni­schen Staats­bür­ger­schaft richtig erkannt. In Groß­bri­tan­nien ist dieser Trend weniger ausge­prägt und beschränkt sich auf Rand­po­li­tiker wie George Galloway, der glaubt, dass „die globale progres­sive Bewe­gung und die Muslime die glei­chen Feinde haben“.

Doch wie der Histo­riker Daniel Pipes fest­ge­stellt hat, ist die Bezie­hung zwischen Isla­mismus und der extremen Linken nichts Neues. Oskar Lafon­taine, ehema­liger Vorsit­zender der Sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Partei Deutsch­lands, stellte 2007 fest: „Der Islam braucht Gemein­schaft, die im Gegen­satz zum extremen Indi­vi­dua­lismus steht, der im Westen zu schei­tern droht. [Außerdem] ist der gläu­bige Muslim verpflichtet, sein Vermögen mit anderen zu teilen. Die Linke will auch, dass die Starken den Schwa­chen helfen.

Aller­dings ist die innere Span­nung zwischen „Wokismus“ und Isla­mismus nie weit weg. Schauen Sie sich nur Al Jazeera an, das auf seinem Kanal für soziale Netz­werke Doku­men­ta­tionen über die Rechte von Trans­gender postet, während es auf seinem arabisch­spra­chigen Sender Predigten ausstrahlt, in denen Ehemänner ihre Frauen schlagen.

Dennoch haben die beiden Bewe­gungen gemein­same Ziele. Beide sind anti­west­lich und anti­ame­ri­ka­nisch. Beide haben eine kriti­sche Haltung gegen­über dem „Kapi­ta­lismus“, der auf Indi­vi­dua­lismus basiert. Natür­lich gibt es die Isla­misten schon viel länger. Aber isla­mis­ti­sche Ideo­logen sind bereit, mit nicht-musli­mi­schen Linken zu koope­rieren, solange es ihren Zwecken dient.

Es ist ihnen hoch anzu­rechnen, dass einige Linke sich weigern, den Isla­mismus zu unter­stützen, da sie sich zuneh­mend des Wider­spruchs zwischen der Unter­stüt­zung der univer­sellen Menschen­rechte (einschließ­lich der Rechte der Frauen) und den Forde­rungen der Isla­misten bewusst werden. In Frank­reich zum Beispiel hat der ehema­lige Mitte-Links-Premier­mi­nister Manuel Valls mutig und ohne das geringste Zögern den Islamo-Linkismus angeprangert.

In den Verei­nigten Staaten hingegen ist diese Art von ener­gi­schem Wider­stand von links immer seltener. Schlimmer noch: Auf der Netroots Nation-Konfe­renz 2019 – der „größten jähr­li­chen Konfe­renz für Progres­sive“ in den USA – trugen mehrere Podi­ums­dis­kus­sionen und Bildungs­ver­an­stal­tungen die isla­mis­ti­sche Agenda, oft aufge­pfropft auf eine Kritik an Israel, während die giftige Rolle der Hamas bei der Aufrecht­erhal­tung des Konflikts über­sehen wurde. Linda Sarsour, eine femi­nis­ti­sche Orga­ni­sa­torin und Co-Vorsit­zende des „Women’s March“, machte ihre Unter­stüt­zung für den Isla­mismus noch deut­li­cher: „Du wirst wissen, wann du unter der Scharia lebst, wenn alle deine Kredite und Kredit­karten plötz­lich zinslos werden. Schön, nicht wahr?“

Auch in der Regie­rung wird die Instru­men­ta­li­sie­rung des Progres­si­vismus durch den Isla­mismus immer deut­li­cher. Der isla­mis­ti­sche Präsi­dent der Türkei, Erdogan, mag eines der brutalsten und repres­sivsten Regime der Welt führen, aber das hat Ilhan Omar, die demo­kra­ti­sche Kongress­ab­ge­ord­nete aus Minne­sota, nicht davon abge­halten, ihre Unter­stüt­zung für ihn auszu­drü­cken. Und viel­leicht wurde sie von Erdogan inspi­riert, als sie letztes Jahr verkün­dete, dass „soziale Gerech­tig­keit auf unserer Agenda steht“ und dass „die Türkei die größte Chance für west­liche Länder im Kampf gegen Frem­den­feind­lich­keit, Isla­mo­phobie, kultu­rellen Rassismus und Extre­mismus ist“.

Erdogan benutzte in der Tat explizit eine progres­sive Rhetorik. Die Methode wurde dann im Iran nach­ge­ahmt. Die Teheran Times – die sich selbst als „eine starke Stimme der isla­mi­schen Revo­lu­tion“ bezeichnet – griff kürz­lich den ehema­ligen US-Außen­mi­nister Mike Pompeo wegen seiner „tief verwur­zelten Isla­mo­phobie“ an. Und im März begrüßte der irani­sche Außen­mi­nister Zarif „die Entschlos­sen­heit der isla­mi­schen Länder, Isla­mo­phobie als eine der größten Heraus­for­de­rungen für die isla­mi­sche Ummah [musli­mi­sche Gemein­schaft im Westen] zu bekämpfen. Mit anderen Worten: Isla­misten werden immer geschickter darin, sich in ein Gewand aus „wachen“ Worten zu hüllen, während sie in ihren eigenen Ländern syste­ma­ti­sche Bruta­lität und Unter­drü­ckung betreiben.

Auf diese neue Allianz zwischen Isla­mismus und progres­siver Rhetorik gibt es keine einfache Antwort. Dawa ist von Natur aus schwie­riger zu bekämpfen als der Dschihad. Aber dieje­nigen, die wie ich an eine freie, offene und plura­lis­ti­sche Gesell­schaft glauben, müssen sich der Natur und des Ausmaßes dieser neuen Heraus­for­de­rung bewusst sein. Nach zwei Jahr­zehnten des Kampfes gegen den isla­mis­ti­schen Terro­rismus stehen wir einem neuen und subti­leren Feind gegen­über. Wokismus ist schon lange als gefähr­li­ches Phänomen erkannt worden, aber wir beginnen erst jetzt zu verstehen, warum.

Quelle: Unherd.com


3 Kommentare

  1. Sozio­logen haben die Muster faschis­to­ider Systeme sehr präzise studiert, doch die Partei­po­li­tiker wollen es nicht hören.
    Sehr gut darge­legt, danke.

  2. „Nach dem Unter­gang des Isla­mi­schen Staates sind Isla­misten auf der ganzen Welt gezwungen, ihre Stra­tegie gegen den Westen radikal neu zu überdenken“

    Der Isla­mi­schen Staat war doch „der Westen“. Admi­nis­triert von den USA, gespon­sert von den Saudis, fuhren „plötz­lich“ hunderte nagel­neue Toyotas durch die Wüste. 

    Warum auch nicht?
    de.wikipedia.org/wiki/Toyota_Isis

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