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https://commons.wikimedia.org/wiki/File:U.S._Territorial_Acquisitions.png Autor: United States federal government (en:User:Black and White converted it from JPEG to PNG and retouched it) [Public domain], via Wikimedia Commons

 

Was folgt der atlantischen Völkerknechtschaft?
       Serie in fünf Teilen von Friedrich P. Ost

Teil 2 – Vom Selbstbestimmungsrecht der Völker

  • Zuviel Platz für Siedler – kein Platz für Indianer
  • Vom Selbstbestimmungsrecht der Völker

 Zuviel Platz für Siedler – kein Platz für Indianer

Als Großbritannien die Unabhängigkeit der 13 Kolonien im Jahr 1783 anerkannte, umfasste das neu entstandene Staatsgebiet 2.310.619 Quadratkilometer mit 3.928.328 Einwohnern nach einer Volkszählung aus dem Jahr 1790. Das heutige Territorium der USA erstreckt sich hingegen auf 9.826.675 Quadratkilometer mit mittlerweile rund 327 Millionen Einwohnern. In diesen Zahlen ist die Urbevölkerung nicht (mehr) enthalten: Wo waren sie geblieben – die dort schon länger lebten, wie wohl die deutsche Kanzlerin sicher fragen würde?

Am 9. September 1850 wurde Kalifornien zum 31. Staat der USA erklärt und bis zum Jahr 1869 über eine transkontinentale Eisenbahn mit der Ostküste verbunden. Zuvor tobte der amerikanische Bürgerkrieg (1861–1865). Zar Alexander II verweigerte Frankreich und Großbritannien den Wunsch das Russische Reich gegen die Unionsstaaten zu wenden. Vielmehr lief im Jahr 1863 die russische Fregatte Oslabia  mit zwei Korvetten in den Hafen von New York ein, nachdem zuvor schon dem US Gesandten in St. Petersburg zugesichert worden war, dass Russland im Falle eines Angriffs der britischen Flotte auf die Union zur Verteidigung der Nordstaaten bereit stünde. Der Jubel in der US-Presse war entsprechend groß. First Lady Mary Lincoln ließ es sich nicht nehmen, persönlich an Bord der Oslabia zu eilen und durch ihr Erscheinen das besondere russisch-amerikanische Verhältnis persönlich zu würdigen. Im Geist ebensolcher freundschaftlichen Beziehungen wurde am 30. März 1867 das Territorium von Alaska für Mio. US$ 7.2 vom Zarenreich an die USA abgetreten.

Doch Verrat sollte der Dank an das Zarenreich nur 50 Jahre später sein: Die USA entschieden durch Ausschiffung des künftigen Kriegskommissars der Roten Armee, Leon Trotsky von New York nach Russland am 3. April 1917  in einer überaus kritischen Phase des 1. Weltkriegs ihren spezifischen Beitrag zur Oktoberrevolution zu leisten. Drei Jahre zuvor im Jahr 1914 hatte Russland die Einnahme von Paris bzw. den Zusammenbruch Frankreichs vereitelt, indem es 500.000 russische Truppen im Osten gegen das Deutsche Reich verheizte. Darüber hatte das Zarenreich vom April des Jahres 1916 an begonnen mit russischen Expeditionstruppen die wankenden Fronten seiner vermeintlich Verbündeten in Frankreich und Griechenland mit rund 20.000 russischen Soldaten zu verstärken.

Empfang der russischen Expeditionstruppen in Marseille 1916: „Sie werden uns retten!“
Quelle: https://russkiymir.ru/en/publications/243389/

Unerfreuliche Erfahrungen mussten auch die Ureinwohner Amerikas mit den US-Kolonialisten machen. Letztere werden im wissenschaftlichen Sprachgebrauch als WASP, das heisst White Anglo-Saxon Protestants bezeichnet, wobei an oberster Stelle der hierarchischen Ordnung gemäß aristokratischem Vorbild nur protestantische Engländer, Nordiren und Schotten stehen. Franzosen, Deutsche, Italiener, Spanier, Indianer oder Gruppen afrikanischer Abstammung finden sich nur auf den Hierarchiestufen darunter wieder. Glücklicherweise kann Präsident Donald Trump eine Mutter mit schottischen Wurzeln nachweisen, denn nur deutsche Vorfahren väterlicherseits hätten für seine Kandidatur zur Präsidentschaft kaum gereicht.

Die Indianer Nordamerikas waren Jäger und Krieger und bezüglich ihrer Nahrungsbeschaffung auf absolute Bewegungsfreiheit, das heißt ausreichend große Jagdgründe angewiesen. Diese schrumpften stetig, nachdem die rund 4 Millionen Einwohner der 13 neuen Staaten nach Erreichen ihrer Unabhängigkeit im Jahr 1783 den Wunsch verspürten, zusätzliche 7.5 Millionen Quadratkilometer neuen Territoriums in Besitz nehmen zu wollen. Mitte des 19. Jahrhunderts war die Pazifikküste erreicht. Zugleich war damit den indianischen Ureinwohnern die letzte Möglichkeit auf eigenes Staatsgebiet bzw. weiteres Zurückweichen genommen.

In seinem Werk ‘Die Demokratie in Amerika’ geht Alexis de Tocqueville auch auf die  Entwicklung des drohenden Genozids an den Indianern ein. Er zitiert einen Bericht, wonach im Jahr 1797 große Herden mit jeweils 400 bis 500 Büffeln die Prärien des Staates Illinois noch bevölkert hatten, die in der Zwischenzeit jedoch schon ausgerottet waren. Es zwang die Indianer immer weiter zurückzuweichen, um ihre Nahrungsversorgung sicherzustellen. Dazu pressten US Regierungsvertreter den Stämmen fortwährend neues Land ab, um es den nachrückenden Siedlern zu überlassen. Alexis de Tocqueville schreibt: „… Ich glaube, dass die Indianer Nordamerikas zum Sterben verurteilt sind. Sobald die Europäer es sich an der pazifischen Küste eingerichtet haben, wird die Rasse der Indianer aufhören zu existieren. Sie haben nur die Wahl zwischen Krieg oder Zivilisierung; mit anderen Worten, entweder sie vernichten die Europäer oder schließen zu diesen auf.“ Tocqueville merkt an, dass die Indianer nur ganz zu Beginn eine Chance gehabt hätten, die Siedler gewaltsam zurückzuwerfen, als diese nur wenige waren. Dafür war es im Jahr 1830 schon zu spät…

Alexis de Tocqueville zitiert einen Regierungsvertreter zur Zukunft der Ureinwohner: „Wir erwarten eine zunehmende Verringerung ihrer Zahl und letztlich ihr Aussterben, außer wir hielten an den vereinbarten Grenzen fest…“. Doch das stete Brechen von Verträgen und Zusicherungen zählte zum festen Repertoire der Vertreibungspolitik. So wurde den Cherokees im Jahr 1791 vertraglich zugesichert: „Die Vereinigten Staaten garantieren an Eidesstatt der Cherokee Nation alle abgetretenen Länder.“ Doch schon am 18. April 1829 ließ der US-Kriegsminister ihnen mitteilen, dass sie ihr Land wieder zu räumen und sich hinter den Mississippi zurückzuziehen hätten. Der Indian Removal Act (Indianer Räumungsakt) im Jahr 1830 unter Präsident Andrew Jackson (D) schrieb US-Vertreibungspolitik sogar gesetzlich fest.

Alexis de Tocqueville zieht den Vergleich zwischen Spaniern und Amerikanern in Bezug auf das Schicksal der Ureinwohner und schreibt: „Die Spanier vermochten trotz unvergleichlichen Grausamkeiten, welche sie mit unauslöschlicher Schande befleckte, die Indianer weder auszurotten noch aller ihrer Rechte zu berauben. Aber die Amerikaner der Vereinigten Staaten schafften dies mit einzigartiger Wortgewandtheit, ruhig, legal, philanthropisch ohne Blut zu vergießen und ohne in den Augen der Welt ein einziges großes Moralprinzip verletzt zu haben. Es ist unmöglich, Menschen mit mehr Respekt für die Gesetze der Menschlichkeit auszulöschen.“

Vom Selbstbestimmungsrecht der Völker

Der Völkerbund der Irokesen – die sogenannten Sechs Nationen – vermochte sich aufgrund außerordentlicher Staatskunst länger zu behaupten. Ihre Staatsform hatte schon Benjamin Franklin beim Entwurf der amerikanische Verfassung angeregt, nachdem er im Jahr 1744 an den Verhandlungen in Lancaster, Pennsylvania zwischen Briten und den Sechs Nationen persönlich teilnahm und Protokoll führte. Er war, wie er später schrieb,  vom Völkerbund der Irokesen – dem ‘Großen Bund des Friedens’ – außerordentlich beeindruckt.

Zumal vier der Nationen – Mohawk, Cayuga, Seneca und Oneida – während des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges mit den Briten verbündet waren, wurde ihnen nach Beendigung des Konflikts im Vertrag vom 25. Oktober 1784 mit dem britischen Gouverneur von Quebec & Territorien, Frederick Haldimand, für die britische Krone unter König George III das Landrecht für die sogenannten Grand River Gebiete – im heutigen Kanada – „für alle Zeiten“  übertragen. Von den ursprünglich vorhandenen 3.800 Quadratkilometer Land haben die Sechs Nationen bis heute bis auf 5% – das sind 190 Quadratkilometer – alles wieder abtreten müssen. Im Reservat leben heute rund 13.000 Irokesen von insgesamt 40.000 verstreut über ganz Kanada.

Obwohl Kanada seit 1867 als mittlerweile Dominium über eine eigene Regierung verfügt, verblieben bis 1949 die Angelegenheiten für das Militär und die Außenpolitik bei Großbritannien. Die Sechs Nationen mussten erleben, wie die kanadische Regierung alles daran setzte, sie ihrer letzten Freiheiten zu berauben: Man versuchte ihnen kanadische Rechtsnormen aufzuzwingen sowie vertraglich zustehende Zinserträge vorzuenthalten. Im Dezember 1922 drangen kanadische Militärs ins Reservat ein, um die oberste Ratsversammlung der Sechs Nationen aufzulösen. Im Jahr darauf verstärkte Kanada seine Repressalien und ließ Barracken der berittenen Polizei auf dem Grand River Gebiet errichten. Zugleich verbot man den Indianern – nicht jedoch anderen Siedlern – Brennholz zu schlagen. Zusätzlich waren Mitglieder der Irokesen willkürlichen Verhaftungen ausgesetzt.

Im Jahr 1917 hatten die Sechs Nationen Levi Grand (1873–1925), der unter seinem Kurznamen Deskaheh bekannt wurde, zu ihrem Häuptling ernannt. Es war die Zeit als US Präsident Woodrow Wilson mit seinen Märchenstunden vom Selbstbestimmungsrecht der Völker neben den Irokesen auch die Völker Mitteleuropas zu täuschen verstand. Deskaheh und sein Rechtsbeistand George P. Decker entschieden im Jahr 1921 nach London zu reisen, um der Forderung nach Souveränität der Sechs Nationen persönlich Nachdruck zu verleihen. Ihr Ansinnen wurde von Großbritannien nach Kanada rückverwiesen, sodass man 1923 entschied es über den Völkerbund in Genf zu versuchen. Anfänglich erklärten sich die Niederlande, Persien, Irland, Estland und Panama bereit den Plan der Sechs Nationen zu unterstützen bis sie – von Großbritannien diplomatisch unter Druck gesetzt – ihre Zusagen wieder zurückzogen.

Deskaheh vor dem Palais de l’Athénée, Genf.  Bibliothèque de Genève (CC BY-NC-ND 4.0)

Deskaheh wurde verboten vor dem Völkerbund in Genf aufzutreten. Außerdem wurde ihm vom Sekretariat des Völkerbunds die Zuschauertribüne verwehrt. Er beschloss sein Anliegen an die Schweizer Öffentlichkeit zu tragen und bestritt über 18 Monate Vorträge im Land. Er verstand die Zuhörer für seine Sache zu begeistern und die Säle zu füllen. Sein Sprachtalent half, nachdem er neben sechs indianischen Dialekten auch Englisch und Französisch sehr gut beherrschte. Deshaheh wies sein Schweizer Publikum gerne darauf hin, dass der Staatenbund und das Zweikammersystem der Sechs Nationen  nicht nur der US-Verfassung aus dem Jahr 1787, sondern auch der Schweizer Verfassung von 1848 schon als Vorbild gedient hätten.

Während seiner Anwesenheit in Europa ließ die kanadische Regierung im September 1924 gewaltsam den obersten Rat der Sechs Nationen auflösen und widerrechtlich Belege zu den historischen Abkommen entwenden. Damit sollte den Irokesen der Weg über Gerichte künftig unmöglich gemacht werden. Darauf wollte Deskaheh die Heimreise antreten, worauf Kanada ihm die Einreise verweigerte. Er war gezwungen in Rochester, USA, Zuflucht zu nehmen. Am 10. März 1925 rechnete Deskaheh in einer Radioansprache über die lokale Rundfunkstation mit dem anglo-amerikanischen Kolonialsystem zum letzten Mal persönlich ab:

„… viele (von uns) meldeten sich freiwillig für Euch an die Front (im WW I nach Frankreich) und ließen ihr Leben (und lösten Eure Probleme). Jetzt will ich Euch unsere Meinung sagen:

Wir haben nur noch wenig Land – gerade genug um zu leben und zu sterben. Glaubt Ihr nicht, dass sich Eure Regierung schämen sollte?

Die Regierungen von Washington und Ottawa haben eine stille Übereinkunft nach ihrer Methode getroffen: Sie zielt darauf ab jeden Stamm zu spalten und jeden Hektar Landes zu beherrschen. Eure hohen Offiziellen sind die heutigen Nomaden – nicht der Rote Mann. Eure Offiziellen bleiben nicht zu Hause.

In Ottawa wird die Methode „Indianischer Fortschritt“ und in Washington „Assimilierung“ genannt. Wir hilflose Opfer sagen, es ist Tyrannei. Wenn das bis zum bitteren Ende weitergehen soll, würden wir es bevorzugen, dass Ihr mit Euren Gewehren und Giftgas anrückt und uns auf diese Weise beseitigt.“

Kurz darauf erkrankte Deskaheh schwer und wollte seinen Medizinmann aus Kanada kommen lassen, dem jetzt die USA die Einreise verweigerte. Deskaheh starb am 27. Juni 1925 unter ungeklärten Umständen, getrennt von seinen Stammesgenossen und verraten vom Westen.

Zum Autor: Friedrich P. Ost ist diplomierter Wirtschaftsexperte und beschäftigt sich mit Fragen der Politik und Zeitgeschichte. Er ist Autor zahlreicher Publikationen und Analysen über globale Entwicklungen, Hintergründe sowie politische Trends.

Hier eine Übersicht (mit Links) zu allen Beiträgen dieser Serie:

Teil 1 – Über Vertragsknechtschafts- & Sklavenhaltergesellschafte
– Zauberformel zur Weltherrschaft:`Manifest Destiny`
– Die Stadt auf dem Hügel
– Zivilreligion made in USA
– Über Vertragsknechtschafts- und Sklavenhaltergesellschaften

 Teil 2 – Vom Selbstbestimmungsrecht der Völker
– Zuviel Platz für Siedler – kein Platz für Indianer
– Vom Selbstbestimmungsrecht der Völker

 Teil 3 – Griff nach der Weltmacht
– Kleiner Krieg – Großer Genozid
– Brothers in arms – Brothers in crime

Teil 4 – Der Sprung über den Atlantik

– Der Griff nach der Weltherrschaft
– 100 Jahre alte Weltordnung vor einem Paradigmenwechsel

Teil 5 – Vom Anfang der Geschichte

– Die andere Weltordnung – Perspektiven und Alternativen
– Vom Anfang der Geschichte

Alle Beiträge findet man in der Kategorie Studien

 

Von Redaktion

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