Weiß­russ­land, der kalte Krieg und die Migra­ti­ons­waffe gegen Europa

Alexander Lukaschenko · Bildquelle: El Correo de España

Von Álvaro Peñas
 

Vor einem Jahr schrieb ich einen Artikel über Weiß­russ­land und die Massen­pro­teste gegen die Wieder­wahl seines Präsi­denten Alex­ander Lukaschenko, der seit 1994 an der Macht ist. Die Proteste wurden mit großer Härte unter­drückt, und im Laufe weniger Tage wurden Tausende und Aber­tau­sende verhaftet, wie mir der Reporter Witold Dobro­wolski berich­tete, der zusammen mit einem anderen polni­schen Jour­na­listen verhaftet und gefol­tert wurde, bis sein Land ihn befreien konnte. Die Wahr­heit ist jedoch, dass das Regime trotz der tägli­chen Demons­tra­tionen und des Drucks von außen durch Verur­tei­lungen und Sank­tionen Wider­stand leis­tete. Es gab keine Risse in der Regie­rung oder im Militär, und Lukaschenkos wich­tigster Unter­stützer, Russ­land, bot ihm volle Unter­stüt­zung an.

Seitdem sind weitere, dem Kalten Krieg ähnliche Situa­tionen entstanden. So wurden im Mai der oppo­si­tio­nelle Jour­na­list Roman Protas­se­witsch und seine Freundin von KGB-Agenten fest­ge­nommen, nachdem das Flug­zeug, mit dem er von Athen in die litaui­sche Haupt­stadt Vilnius reiste, wohin er 2019 ins Exil gegangen war, in Minsk notlanden musste. Einige Tage später gestand Protas­se­witsch im weiß­rus­si­schen Staats­fern­sehen seine Verbre­chen und bat Präsi­dent Lukaschenko um Begna­di­gung. Am 3. August verließ der Oppo­si­ti­ons­führer Vitaliy Shyshov sein Haus in Kiew, um joggen zu gehen, und wurde Stunden später erhängt in einem Park aufge­funden. Shyshov hatte sein Land im vergan­genen Jahr verlassen und sich in der ukrai­ni­schen Haupt­stadt nieder­ge­lassen, wo er sich mit anderen Exilanten poli­tisch enga­gierte. Am selben Tag erhielt die weiß­rus­si­sche Leicht­ath­letin Kris­tina Tima­novs­kaya, die an den Olym­pi­schen Spielen in Tokio teil­nahm und beschlossen hatte, nicht in ihr Land zurück­zu­kehren, ein huma­ni­täres Visum und den Schutz der polni­schen Botschaft, eine Entschei­dung, die von Minis­ter­prä­si­dent Mateusz Mora­wi­ecki persön­lich getroffen wurde. In diesem Jahr hat Polen bisher 8.844 huma­ni­täre Visa an weiß­rus­si­sche Bürger ausge­stellt. Wenn man diese Nach­richt liest, zwei­felt man am Unter­gang der Sowjetunion.

Kerzen zum Gedenken an den weiß­rus­si­schen Oppo­si­ti­ons­führer Vitaliy Shyshov

Lett­land, Litauen und Polen waren inner­halb der Euro­päi­schen Union die schärfsten Gegner der weiß­rus­si­schen Regie­rung und die ersten, die Sank­tionen forderten. Und nun, da Lukaschenko diese Krise – eine weitere – über­wunden hat, ist es an der Zeit, zurück­zu­schlagen, und dafür gibt es nichts Besseres als die Waffe der Migra­tion. Ende Juni behaup­tete die litaui­sche Innen­mi­nis­terin Agnė Bilo­taitė, ihr Land verfüge über Beweise dafür, dass weiß­rus­si­sche Grenz­schutz­be­amte an einer ille­galen Migra­ti­ons­ak­tion von Weiß­russ­land nach Litauen betei­ligt gewesen seien und davon profi­tiert hätten. „Dies ist eine orga­ni­sierte und gut geplante Opera­tion. Damit sind enorme Geld­summen verbunden“. Bilo­taitė wies darauf hin, dass Migranten bis zu 15.000 Euro für den Grenz­über­tritt zwischen Weiß­russ­land und Litauen zahlen. Die Migranten kommen mit Direkt­flügen aus Istanbul und Bagdad in Minsk an. Sie werden dann in Autos zur Grenze gebracht und versu­chen dort, die Grenze zu über­queren, bis sie von litaui­schen Grenz­be­amten ange­halten werden und um Asyl bitten. Dieje­nigen von uns, die die weiß­rus­si­sche Grenze kennen, wissen, dass es sich um eine echte Grenze handelt, die nichts mit den „Grenzen“ des Schengen-Raums zu tun hat, und dass dies nur unter Mitwir­kung der Regie­rung Lukaschenko geschehen kann.

Zu diesem Zeit­punkt, am 30. Juni, waren 636 Migranten beim Versuch, die Grenze zu über­queren, in Gewahrsam genommen worden, eine Zahl, die mehr als siebenmal höher ist als im Jahr 2020 und zwölfmal höher als im Jahr 2019. Allein in der ersten Juli­woche wurden jedoch 779 Personen aufge­griffen, die meisten davon aus dem Irak, aber auch aus Afgha­ni­stan, Iran und Syrien. Einen Monat später spre­chen wir von 4.000 Migranten. Die litaui­sche Regie­rung reagierte zunächst mit der Bear­bei­tung von Asyl­an­trägen, die natür­lich abge­lehnt wurden, doch ange­sichts der anhal­tenden Ankunft von Migranten und der Entschei­dung Weiß­russ­lands, ihre Ankunft in Litauen als Reak­tion auf die EU-Sank­tionen nicht zu verhin­dern, haben die Behörden begonnen, Migranten an der Grenze zurück­zu­weisen. In einem „hybriden Krieg“ kündigte die litaui­sche Minis­ter­prä­si­dentin Ingrida Šimonytė den Bau einer „physi­schen Barriere zwischen Litauen und Weiß­russ­land an, die ein Signal und eine Abschre­ckung für die Orga­ni­sa­toren ille­galer Migra­ti­ons­ströme sein wird“. Der Zaun, dessen Bau am Mitt­woch vom litaui­schen Parla­ment geneh­migt wurde, wird 550 Kilo­meter lang sein und rund 150 Millionen Euro kosten. Die ukrai­ni­sche Regie­rung hat beschlossen, den Bau des Zauns durch die Liefe­rung von 38 Tonnen Stachel­draht als „huma­ni­täre Hilfe“ zu unterstützen.

Die Präsi­dentin der Euro­päi­schen Kommis­sion, Ursula von der Leyen, besuchte die litaui­sche Haupt­stadt und sicherte die Unter­stüt­zung der EU zu. Diese Unter­stüt­zung erfolgte in Form von 36,7 Millionen Euro „zur Erhö­hung der Aufnah­me­ka­pa­zität für eine große Zahl von Migranten“, d. h. Geld für medi­zi­ni­sche Versor­gung, Impfungen, Klei­dung und Lebens­mittel in den Auslän­der­zen­tren, in denen es bereits letzte Woche zu einem Aufstand iraki­scher Migranten kam. Ande­rer­seits hat die Euro­päi­sche Agentur für Grenz- und Küsten­schutz, Frontex, einige Experten und modernste Ausrüs­tung geschickt. Es sei daran erin­nert, dass Frontex Ungarn im Januar verlassen hat, nachdem eine Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tion, das Helsinki-Komitee, – natür­lich die Open Society von George Soros -, die Regie­rung von Viktor Orbán ange­pran­gert hatte, weil sie ille­gale Migranten nach Serbien zurück­ge­schickt hatte. Wir werden also sehen, wie lange diese Unter­stüt­zung anhält. Auf die Bitte der litaui­schen Regie­rung um finan­zi­elle Unter­stüt­zung für den Bau des Grenz­zauns hat die Euro­päi­sche Kommis­sion geant­wortet, dass sie „keine Zäune finan­ziert, sondern inte­grierte Grenz­kon­troll­lö­sungen unterstützt“.

Litaui­sche Soldaten errichten Stachel­draht an der Grenze zu Weißrussland

Nach Ansicht des Poli­tik­wis­sen­schaft­lers Vytautas Sinica ist dieser „hybride Krieg“ Lukaschenkos Rache an Litauen für dessen Unter­stüt­zung der demo­kra­ti­schen Oppo­si­tion und ein Mittel, „Litauen zu einer Ände­rung seiner Außen­po­litik zu zwingen“. Sinica kriti­siert das anfäng­liche Vorgehen seiner Regie­rung, die Asyl­an­träge von Migranten zuließ, obwohl „sie aus einem sicheren Land (Weiß­russ­land) kamen und es keine Rechts­grund­lage für Asyl in Litauen gab. All dies hat dazu geführt, dass sich 4.000 ille­gale Migranten in Litauen aufhalten, weil die Regie­rung beschlossen hat, die Rück­füh­rungs­po­litik nicht früher einzu­leiten. Aus west­eu­ro­päi­scher Erfah­rung wissen wir, dass sich die meisten ille­galen Einwan­derer der Abschie­bung entziehen, und Litauen ist da keine Ausnahme.

Litauen ist jedoch nicht die einzige EU-Grenze, die von dieser Krise betroffen ist. Polen, das in diesem Jahr bereits 900 ille­gale Migranten an der Grenze zu Weiß­russ­land fest­ge­nommen hat, 350 allein am vergan­genen Wochen­ende und damit achtmal mehr als im Jahr 2020, hat beschlossen, Truppen zur Verstär­kung der Grenze zu entsenden. In Lett­land hat das Parla­ment (Saeima) am Mitt­woch nach einer harten Debatte, in der sich die „libe­ralen“ Parteien mehr um die Menschen­rechte von Migranten als um die Sicher­heit der Grenzen kümmerten, den Ausnah­me­zu­stand an der Grenze verhängt. Gegen­über denje­nigen, die sich weigerten, die Grenze zu schließen, wies der Abge­ord­nete Edvins Snore darauf hin, dass „man nicht so naiv sein darf, wie es 2015 in Deutsch­land geschehen ist. Es ist notwendig, ein klares Signal zu geben, dass dies in Lett­land nicht geschehen wird. Der natio­na­lis­ti­sche Poli­tiker erin­nerte auch daran, dass Lett­land eines der wenigen EU-Länder ist, in denen der ille­gale Grenz­über­tritt eine Straftat darstellt.

Der Einsatz der Migra­ti­ons­waffe ist nicht neu, wir kennen ihn aus erster Hand in Spanien, wo die „befreun­dete“ Regie­rung Marokkos jedes Mal, wenn unsere Regie­rung eine Entschei­dung trifft, die sie stört, oder um wirt­schaft­liche Vorteile zu erlangen, mensch­liche Wellen gegen Ceuta und Melilla provo­ziert. Das Gleiche ist mit der Türkei geschehen, die die Migra­ti­ons­wellen nur im Tausch gegen Millionen Euro von der EU gestoppt hat. Weiß­russ­land folgt ledig­lich diesen Beispielen. Lukaschenko ist sich bewusst, dass die ille­gale Migra­tion ein Torpedo für die EU ist, und er nutzt sie, um seine poli­ti­schen Ziele zu errei­chen. Solange sich die EU-Politik zwischen der fort­schritt­li­chen Demagogie der „offenen Grenzen“ und der Schi­ka­nie­rung von Ländern, die beschlossen haben, ihre Grenzen zu vertei­digen, wie im Fall der Visegrád-Gruppe, bewegt, d. h. solange sie der globa­lis­ti­schen Ideo­logie der offenen Gesell­schaft verfallen ist, wird Europa ständig Erpres­sungen ausge­setzt sein.

 

Álvaro Peñas
Als leiden­schaft­li­cher Geschichts­in­ter­es­sierter und uner­müd­li­cher Reisender kennt er die Länder des Ostens, die er häufig bereist, und deren poli­ti­sche Situa­tion dank seiner Freund­schaften mit Jour­na­listen und Poli­ti­kern der patrio­ti­schen Parteien in vielen dieser Länder er sehr gut kennt.

Dieser Beitrag erschien zuerst bei EL CORREO DE ESPAÑA, unserem Partner in der EUROPÄISCHEN MEDIENKOOPERATION.


1 Kommentar

  1. Um Himmels Willen
    Wie ein weiß­rus­si­sches Dorf auf wunder­same Weise den Zweiten Welt­krieg überlebte
    MDZ 26-09-2005

    Tino Künzel
    Bild: Tino Künzel

    Weiß­russ­land hat im Zweiten Welt­krieg fast ein Drittel seiner Bevöl­ke­rung verloren. Am 28. September 1942 war auch das Dorf Rosch­kowka im Brester Gebiet zur Vernich­tung bestimmt. Wegen Unter­stüt­zung der Parti­sanen sollte es von den Deut­schen liqui­diert werden. Was dann geschah, ist eine unglaub­liche Geschichte. Oder umge­kehrt: eine Geschichte, die sich aus dem Glauben speist. Sie handelt von der Gottes­mutter, einem deut­schen Offi­zier, der das Todes­ur­teil nicht voll­stre­cken ließ, und einer etwas anderen Ikone. Jedes Jahr am 28. September feiert Rosch­kowka das Wunder seines Überlebens.

    Als alles verloren schien, machten sich die Einwohner von Rosch­kowka auf den Weg zu ihrem eigenen Begräbnis. Gebete wurden gemur­melt. Jemand trug eine Ikone der Heiligen Mutter Gottes in der Hand. Die Grube am Dorf­rand hatten die Männer selbst ausheben müssen. Seitdem wusste jeder, was den Ort nörd­lich von Brest erwar­tete. Man schrieb den 28. September 1942.

    Die Deut­schen waren am Morgen von ihrem Stütz­punkt im heutigen Natio­nal­park Belo­wesch­skaja Puscht­scha, dort, wo Weiß­russ­land an Polen grenzt, gekommen. Keine übliche Patrouille, wie allein die Kolonne von 20 Autos und schwerer Technik verriet. Länger als ein Jahr, seit den ersten Kriegs­tagen, dauerte die deut­sche Besat­zung nun schon. Und vor allem anfangs hatte man sogar eine gemein­same Sprache gefunden, unter anderem damit begonnen, die zu Sowjet­zeiten zerstörte Kirche wieder aufzu­bauen. Doch dann geriet Rosch­kowka für Unter­stüt­zung der Parti­sanen auf die schwarze Liste jener Gemeinden, die zur Vergel­tung und Abschre­ckung dem Erdboden gleich­ge­macht wurden. Solchen Exem­peln sollen in den Kriegs­jahren 628 weiß­rus­si­sche Dörfer mit 4 667 Einwoh­nern zum Opfer gefallen sein.

    Die Ereig­nisse jenes 28. September sind über Gene­ra­tionen weiter­erzählt worden. Demnach haben die Deut­schen zunächst eine Drei­tei­lung vorge­nommen: Kinder in die Nach­bar­dörfer, Jugend­liche unter 25 Jahren zum Arbeits­dienst nach Deutsch­land, der Rest — zur Erschie­ßung. Die Befehle waren verlesen, die Erwach­senen zum vorbe­rei­teten Massen­grab geführt, als ein deut­scher Offi­zier in einer kleinen Mili­tär­ma­schine landete. Er sollte die Hinrich­tung über­wa­chen. Doch „Herr Major“, wie er in der Über­lie­fe­rung heißt, schaute sich nur um und gab Anwei­sung, zwei Stunden auf ihn zu warten. Wenn er bis dahin nicht zurück­kehre, sei das Todes­ur­teil zu voll­stre­cken. Dann hob das Flug­zeug ab.

    Die Frist war noch nicht abge­laufen, als der Offi­zier wieder eintraf, vor die Dörfler hintrat und sie — nach Hause schickte. Die Kinder würden ihnen zurück­ge­geben, die Kirche sollten sie fertig bauen. In den Hütten fehlte nichts. Die ordent­li­chen Deut­schen hatten Soldaten abge­stellt, um während der Exeku­tion Plün­de­rungen zu verhin­dern. Obwohl der Ort nach den ursprüng­li­chen Plänen anschlie­ßend in Brand gesteckt werden sollte.

    Was in dem Offi­zier vor sich gegangen war, klärte sich bald auf. Er schil­derte es allen, die es hören wollten. Beim Anflug durch die Wolken sei ihm die heilige Jung­frau Maria erschienen. Im einen Arm habe sie das Jesus­kind gehalten, mit dem anderen auf das Dorf gezeigt. Könne man das miss­ver­stehen? Also flog er zurück, um seine Vorge­setzten davon zu über­zeugen, das Dorf zu verschonen. Und hatte Erfolg dabei. Ein verwun­deter deut­scher Soldat wurde von ihm beauf­tragt, im Kran­ken­haus eine Ikone der Gottes­mutter anzu­fer­tigen, als Geschenk für die Dorf­kirche. Und dort steht sie noch heute, ein Holz­re­lief, nicht ganz im Stile der ortho­doxen Reli­gion, aber für die Menschen in Rosch­kowka durch die Umstände von großer Bedeu­tung. Im unteren Teil steht die Zahl: 28. 9. 1942. Und jedes Jahr am 28. September gedenken die Einwohner der Ereig­nisse mit einem Gottes­dienst und einer Prozes­sion zu der Stelle, wo die Grube war. Dort befindet sich ein umzäuntes Kreuz.

    Rosch­kowka (auf Weiß­rus­sisch Rasch­kouka) ist ein sehr über­schau­bares Dorf. Manche würden sagen: ein Kaff. An der einzigen Straße reihen sich 40 Holz­häuser anein­ander, etliche sind nicht mehr bewohnt. Die Jugend — und das meint alle unter 50 — ist bis auf wenige Ausnahmen wegge­zogen. „Hier gab es früher eine Schule, eine Biblio­thek, einen Klub, eine Arzt­sta­tion. Geblieben ist uns nur ein Lebens­mit­tel­laden mit Post­stelle“, erzählt Einwoh­nerin Nina Kutsch­inskaja, 66. Als die Kolchose noch exis­tierte, hatte man 160 Kühe. Heute sind es 17. Ein Auto besitzt so gut wie niemand. In die Kreis­stadt fährt am Wochen­ende ein Bus und außerdem an zwei weiteren Tagen.

    Die höchste Auto­rität im Ort ist Pfarrer Nikolaj und seine Kirche das gesell­schaft­liche Zentrum. Der Geist­liche ist noch keine 40 und ein hemds­är­me­liger Typ, der anpackt, wo es Not tut. Die Kirch­kuppel hat er selbst repa­riert, ist dabei vom Dach gestürzt, keiner wusste, ob er sich davon wieder erholt. Der Gotteshirte hat auch die frohe Botschaft von 1942 zu verbreiten versucht, aber was war der Dank? Die Zeitungen in Minsk hätten das Wunder auf eine profane Geschichts­story redu­ziert: „Das und das ist passiert. Punkt. Aber warum? Was ist der Sinn? Das inter­es­siert diese Boule­vard­jour­na­listen nicht. Die benutzen die Gottes­mutter nur, um Auflage zu machen.“ Auch diesen Artikel hier will Otez Nikolaj lieber gar nicht erst lesen: „Was du da schreibst, wird keinem etwas nützen. Denn du hast keine Ahnung vom Kern der Sache.“

    Es muss eine missio­na­ri­sche Ader sein (oder einfach Lange­weile), die den Pfarrer dazu treibt, trotzdem weiter­zu­reden, zu pole­mi­sieren, zu predigen. Er ist kein Mann des Zwei­fels, sondern der Gewiss­heit. Sein Vater war Geist­li­cher und sein Bruder auch. Er, der mal einen BMW hatte und heute sein Geld für Ikonen ausgibt, hat sich absicht­lich in die Provinz versetzen lassen: „Ich wollte eine Aufgabe, mit der außer mir keiner fertig wird.“ Ständig sagt er Sätze, die wie Sinn­sprüche vom Abriss­ka­lender klingen und es viel­leicht auch sind. Zum Beispiel: „Wer nicht mit wenig zufrieden sein kann, wird auch mit viel nie zufrieden sein.“ Und dann, der „Kern der Sache“, die spiri­tu­elle Essenz dessen, was sich 1942 ereignet hat: „Die Mutter Gottes hat unsere Gebete erhört. Wir glauben an Wunder, und deshalb geschehen sie hier häufiger als anderswo. Das heißt, dass unser Glaube keine Fiktion ist.“ Selbst der deut­sche Soldat, vom dem die Ikone stammt, sei prompt von seiner Verwun­dung genesen.

    Der moderne Mensch tut sich mit „Erschei­nungen“ schwer. Er will Beweise und seinem Verstand trauen. Für ihn ist nicht entschei­dend, was der deut­sche Offi­zier im Schein­werfer des Flug­zeugs wirk­lich gesehen hat, sondern dass mitten im Krieg unter der ideo­lo­gi­schen Ober­fläche plötz­lich eine tiefere Sozia­li­sa­tion zutage getreten ist, eine verbin­dende, grenz­über­grei­fende. Wie sich der „Herr Major“ in anderen Fällen von Leben und Tod verhalten hat, ohne „Anlei­tung“ von oben, ist nicht bekannt. In Rosch­kowka, wo einige ohne seine Tat nicht geboren worden oder elternlos aufge­wachsen wären, andere, die schon auf dem Friedhof liegen, durch ihn alt werden durften, würden ihm oder seinen Ange­hö­rigen heute viele gern Danke sagen. Otez Nikolaj hat über die Fern­seh­sen­dung „Warte auf mich“ nach Spuren suchen lassen — bisher nichts. Dorf­be­wohner Nikolaj Klapoth, 66, lässt sich nicht entmu­tigen: „Wenn man den mal treffen könnte, wenn er zu uns zu Besuch kommen würde, das wär’s.“

    Von den dama­ligen Augen­zeugen lebt in Rosch­kowka niemand mehr. Aber es gibt vier Frauen, die zu denen gehörten, die als Zwangs­ar­bei­te­rinnen nach Deutsch­land mussten. Sie erlebten die Szenen an der Grube nicht mit und wurden, fast wahn­sinnig vor Angst um ihre Fami­lien, zuerst in ein Nach­bar­dorf gebracht. Eine von ihnen ist Anna Sait­schik. Seiner­zeit 17, wusste sie gar nicht, wie ihr geschah, als ihre Mutter auftauchte, mit Essen und Klei­dung und der Nach­richt: Alle sind am Leben! Für die heute 81-Jährige ein Zeichen: „Da hat man gesehen, dass es Gott gibt und was er auf Erden bewirken kann.“ Sie streicht ihr Kopf­tuch glatt und sagt ein Gedicht auf, das den Heiland preist. Dann wird es Nacht in Rosch­kowka, und das Firma­ment ist ster­nen­übersät, so als ob dieser scheinbar verlas­sene Flecken dem Himmel tatsäch­lich beson­ders nahe wäre. Aber was soll werden, wenn die Letzten hier auch noch wegsterben? Am nächsten Morgen bringt einer der Einwohner seine Tochter auf dem Pfer­de­wagen zur Bushal­te­stelle im Nach­bar­dorf, durch den Wald, der einmal ein Feld war. „Wenn es uns nicht mehr gibt“, sagt er völlig unsen­ti­mental, „kommt der Bull­dozer und reißt alles ab. Das habe ich im Fern­sehen gesehen.“ Aber aussichtslos, das weiß man in Rosch­kowka, ist nicht hoffnungslos.

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