„Wir müssen gemeinsam Brüssel über­zeugen, seine Außen­grenzen zu schützen“

Der stellvertretende litauische Innenminister Arnoldas Abramavičius bei einem offiziellen Besuch in Ungarn am 13. August 2021 · Foto: Máté Bach/Magyar Nemzet

Von Tímea Koren-Karczub

- Es ist für uns sehr wichtig, dass Ungarn seine Erfah­rungen mit uns geteilt hat, wir werden unsere Zusam­men­ar­beit mit Buda­pest auch in Zukunft fort­setzen, wir werden unsere Bemü­hungen in Fragen, die die Kompe­tenzen der Insti­tu­tionen der Euro­päi­schen Union betreffen, koor­di­nieren, denn nur gemeinsam können wir Brüssel über­zeugen, sagte der stell­ver­tre­tende litaui­sche Innen­mi­nister Arnoldas Abra­ma­vičius in einem Inter­view mit der unga­ri­schen Zeitung Magyar Nemzet. Litauen baue ebenso wie Ungarn einen Grenz­zaun, um den Migra­ti­ons­druck aus Weiß­russ­land einzu­dämmen. Abra­ma­vičius besuchte letzte Woche Buda­pest, um über die Migra­ti­ons­krise an der litau­isch-weiß­rus­si­schen Grenze zu sprechen.

- Wie Litauen in den letzten Wochen sah sich auch Ungarn 2015 mit einem außer­ge­wöhn­li­chen Zustrom von Migranten konfron­tiert, was zu der Entschei­dung führte, die Grenze physisch zu schließen – wie es Vilnius jetzt tut. Ist es Ungarn bei Ihren Gesprä­chen in Buda­pest gelungen, seine Erfah­rungen weiter­zu­geben, die Litauen helfen könnten, die Migra­ti­ons­krise zu stoppen?

- Da wir aufgrund der sich verschlech­ternden Situa­tion auch beschlossen haben, einen physi­schen Grenz­zaun zu errichten, besuchten wir den Zaun an der unga­risch-serbi­schen Grenze und sahen uns an, wie er tech­nisch aufge­baut ist und welche tech­ni­schen Lösungen für diesen so genannten tempo­rären Grenz­zaun verwendet wurden. Dieser Besuch sowie unser Treffen mit Károlly Papp, Staats­se­kretär für innere Sicher­heit im Innen­mi­nis­te­rium, waren sehr erfolg­reich und fruchtbar. Ich möchte betonen, wie wichtig es für uns ist, dass Ungarn seine Erfah­rungen mit uns geteilt hat. Daher werden wir unsere Zusam­men­ar­beit mit der unga­ri­schen Seite auch in Zukunft fort­setzen und unsere Bemü­hungen auch in Fragen der Zustän­dig­keiten der EU-Insti­tu­tionen koor­di­nieren. Schließ­lich betreffen die Drohungen von Weiß­russ­land nicht nur Litauen, sondern die gesamte Euro­päi­sche Union – Minsk schickt jetzt Migranten aus dem Nahen Osten nicht nur zu uns, sondern auch nach Polen und Lettland.

- Wie steht die Euro­päi­sche Union zu der Tatsache, dass sie einen Zaun baut? Wird sie Vilnius Hilfe anbieten?

- Nach unseren bishe­rigen Verhand­lungen ist die EU nicht gegen unsere Absicht, eine physi­sche Grenz­bar­riere zu errichten. Wir haben seit Beginn der Krise eng mit den EU-Behörden zusam­men­ge­ar­beitet, als sich die Situa­tion nach der Verhän­gung von Sank­tionen gegen Weiß­russ­land durch die EU verschlech­terte. Da die EU auch ein Akteur in dieser Krise ist, erwarten wir, dass die Soli­da­rität zur Finan­zie­rung der Nothilfe und des Grenz­schutzes genutzt wird. Brüssel hat noch nicht zuge­sagt, den Bau des Zauns zu finan­zieren, hat aber ange­boten, uns mit anderer tech­ni­scher Ausrüs­tung wie Kameras oder Heiz­ge­räten zu helfen. Wir prüfen jedoch noch, wie wir zusätz­liche EU-Mittel für den Bau der Asyl­zen­tren und des Zauns selbst erhalten können. Ich weiß, dass der Dialog zwischen Ungarn und der EU über den Bau des Zauns während der Krise im Jahr 2015 nicht sehr erfolg­reich war, aber viel­leicht wird es jetzt anders sein, da viel mehr Mitglied­staaten von der ille­galen Einwan­de­rung betroffen sind. Mit den beiden anderen balti­schen Staaten, Lett­land und Estland, haben wir bereits verein­bart, unsere Notfall- und Grenz­schutz­maß­nahmen sowie unsere Rechts­vor­schriften über Asyl­ver­fahren zu harmo­ni­sieren. Dieser Besuch in Ungarn wird uns helfen, weitere Mitglied­staaten zu mobi­li­sieren, mit denen wir eine gemein­same Posi­tion teilen, und gemeinsam werden wir die Euro­päi­sche Union davon über­zeugen, dass wir unsere Außen­grenz­po­litik ändern und neue Lösungen zur Bekämp­fung der ille­galen Einwan­de­rung finden müssen.

- Sowohl Vilnius als auch Brüssel sind davon über­zeugt, dass Weiß­russ­land als Reak­tion auf die Straf­maß­nahmen des Westens absicht­lich Migranten in die EU einreisen lässt. Warum ist Litauen zu einem Haupt­ziel des Migra­ti­ons­drucks geworden?

- Dafür gibt es sowohl poli­ti­sche als auch prak­ti­sche Gründe. Vor einem Jahr waren sich mehrere EU-Mitglied­staaten, darunter auch wir, einig, dass es in Weiß­russ­land Wahl­be­trug gegeben hatte und Alek­sandr Lukaschenko nicht mehr zum Präsi­denten gewählt werden konnte. Seitdem haben wir rund 4 000 weiß­rus­si­schen Oppo­si­tio­nellen Asyl und Flücht­lings­status gewährt und uns damit den Zorn von Minsk und Lukaschenko zuge­zogen. Litauen hat sich also zu aktiv an der Unter­stüt­zung und Ermu­ti­gung der weiß­rus­si­schen Oppo­si­tion betei­ligt, einschließ­lich der Oppo­si­ti­ons­füh­rerin Swet­lana Chiha­nous­kaja, die derzeit in Vilnius aktiv ist. Weiß­russ­land hat Litauen auch deshalb als Haupt­ziel gewählt, weil es viel kleiner ist als z. B. Polen, was bedeutet, dass die Migra­ti­ons­welle eine Bedro­hung für unsere Gesell­schaft darstellt. Im letzten Monat sind mehr als 4.000 ille­gale Einwan­derer in Litauen ange­kommen, und es ist ziem­lich schwierig, so vielen Menschen Asyl zu gewähren – natür­lich weiß ich, dass Ungarn 2015 mit der hundert­fa­chen Zahl konfron­tiert war. Außerdem dauert es zwei Stunden, um vom Flug­hafen Minsk zur litaui­schen Grenze zu gelangen, während die polni­sche und letti­sche Grenze weiter von der weiß­rus­si­schen Haupt­stadt entfernt sind, von wo aus die Migranten trans­por­tiert werden.

- Die meisten dieser ille­galen Einwan­derer sind Iraker. Wie kommen sie aus dem Nahen Osten nach Litauen?

- Minsk bietet Touris­ten­pa­kete an: Sonder­flüge aus dem Irak, Buchung einer Hotel­über­nach­tung für die Migranten und sogar einen Transfer zur litaui­schen Grenze – so etwas hat es noch nie gegeben. Und die Reise­büros in Bagdad und die krimi­nellen Orga­ni­sa­tionen, die in den Menschen­schmuggel verwi­ckelt sind, erhalten von Minsk einen Anteil als Gegen­leis­tung für ihre Hilfe.

Der stell­ver­tre­tende litaui­sche Innen­mi­nister Arnoldas Abra­ma­vičius sagt, die EU-Außen­gren­zen­po­litik müsse sich ändern · Foto: Máté Bach/Magyar Nemzet

- Welche anderen Maßnahmen hat die litaui­sche Regie­rung außer dem Bau eines Grenz­zauns ergriffen, um die ille­gale Einwan­de­rung zu verhindern?

- Ähnlich wie Ungarn im Jahr 2015 haben wir das Gesetz geän­dert, und von nun an ist es illegal, die grüne Grenze zu über­schreiten. Einwan­de­rern ist es daher unter­sagt, über die grüne Grenze einzu­reisen; der einzige legale Weg nach Litauen führt über einen Grenz­über­gang. Lett­land und Polen sind unserem Beispiel bereits gefolgt und haben ihre Rechts­vor­schriften geändert.

- Haben diese Maßnahmen die Situa­tion verbessert?

- In der letzten Woche sind keine Flücht­linge an unserer Grenze ange­kommen. Dies ist auch auf den wich­tigen Schritt zurück­zu­führen, den wir mit Hilfe der EU unter­nommen haben, um den Irak zu über­zeugen, die Sonder­flüge nach Minsk für zehn Tage auszusetzen.

- Dennoch warten noch immer zahl­reiche Asyl­be­werber an der litaui­schen Grenze. Wie Sie bereits erwähnten, sind in diesem Jahr bereits mehr als 4.000 ille­gale Einwan­derer an der litau­isch-weiß­rus­si­schen Grenze ange­kommen, 50 Mal so viele wie im gesamten Jahr 2020. Wie reagiert die litaui­sche Gesell­schaft auf diese unge­wöhn­liche Situation?

- Die litaui­sche Gesell­schaft ist auf so viele Einwan­derer nicht vorbe­reitet, und die lokalen Behörden lehnen die Einrich­tung neuer Lager strikt ab – es gab bereits mehrere Proteste. Bis jetzt haben wir die Situa­tion im Griff, aber ich kann mir nicht vorstellen, was passieren würde, wenn die Zahl der Einwan­derer beispiels­weise 10.000 über­steigen würde. Darüber hinaus stellt nicht nur die Einwan­de­rung eine Bedro­hung dar, sondern auch die hybride Kriegs­füh­rung von Weiß­russ­land. Minsk weiß, wie man eine Gesell­schaft desta­bi­li­siert und radi­ka­li­siert. Die Situa­tion ist also ziem­lich gefähr­lich, aber bisher ist es uns gelungen, sie zu stabi­li­sieren. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass wir uns nicht nur am Rande der Euro­päi­schen Union, sondern auch der NATO befinden, so dass eine Konfron­ta­tion zwischen den beiden Mili­tär­blö­cken eine noch größere Gefahr für uns darstellen könnte.

- Haben Sie Angst vor einer Eskalation?

- Ja, wir sind besorgt, dass jede kleine Provo­ka­tion eine große Krise auslösen könnte. Die Bürger, die in den an Weiß­russ­land angren­zenden Gebieten leben, sind sehr besorgt und zählen darauf, dass die litaui­sche Regie­rung und die Behörden sie schützen.

Unga­ri­sche Hilfe zum Schutz. Károly Papp, Staats­se­kretär für Innere Sicher­heit im Innen­mi­nis­te­rium, kündigte bei einem Besuch des stell­ver­tre­tenden litaui­schen Innen­mi­nis­ters Arnoldas Abra­ma­vičius an, dass die unga­ri­sche Regie­rung nach Prüfung des litaui­schen Hilfe­er­su­chens Litauen die notwen­digen Mate­ria­lien für den Bau eines fünf­zehn Kilo­meter langen Grenz­zauns zur Verstär­kung des Grenz­schutzes zur Verfü­gung stellen wird. Litauen hat eine 1.070 Kilo­meter lange Schengen-Grenze, die gleich­zeitig die Außen­grenze der Euro­päi­schen Union ist. Die längste Grenze ist die 679 Kilo­meter lange Grenze zu Weiß­russ­land. Nach Angaben des Innen­mi­nis­te­riums wurde die litaui­sche Dele­ga­tion während ihres Aufent­halts in Ungarn ausführ­lich über die unga­ri­schen Grenz­kon­trollen und das Asyl­ver­fahren informiert.

2 Kommentare

  1. Die litaui­sche Grenze ist zuerst die Litaui­sche Staats­grenze. Die EU-27-Aussen­grenze ist sie nur zusätz­lich. Litauen, wie alle anderen Mitglieds­länder mit Außen­grenze sollten es sich nicht bequem machen und denken, dass jemand anders ihre Staats­grenze sichert. Grenz­schutz ist bekannt­lich Poli­zei­ar­beit, die recht­lich, orga­ni­sa­to­risch und perso­nell in das Land inte­griert sein und bleiben muss. Wenn ein Land seine Grenze aufgibt, dann gibt es sich selbst auf.

  2. „Wir Schafe müssen gemeinsam den Wolf über­zeugen, sich vege­ta­risch zu ernähren“

    Jau. Das ist mal eine gute Idee.
    *schnarch*

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