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Sergey Lawrow beim Moskauer Institut für Internationale Beziehungen am 1.09.2023

Teil I

Lieber Anatoly Wassiljewitsch, Liebe Freunde,

ich gratuliere Ihnen allen zum Tag des Wissens. Dieser Tag ist nicht nur ein routinemäßiger Beginn des akademischen Jahres, sondern ein Datum, an dem wichtige Veranstaltungen stattfinden. Nach den Ferien kommen die Schüler und Studenten zusammen. Sie treffen sich, tauschen Eindrücke und Erlebnisse aus. Manchmal sprechen sie auch darüber, was im Land passiert ist.

Nach einer gewissen Zeit der Ruhe sind solche Gespräche immer interessant. Ich erinnere mich noch gut, wie wir während meines Studiums mit Anatoly V. Torkunov [Rektor Moskauer Institut für Internationale Beziehungen], nachdem wir von Unternehmungen wieder an die Universität zurückgekehrt waren, uns über die Ereignisse angeregt austauschten, die inzwischen vorgefallen waren, während wir mit der Spitzhacke die sibirische Landschaft erkundeten oder in einem Studentenlager Urlaub machten.

Heute geht es bei den Ereignissen, über die jeder spricht, wenn er aus dem Urlaub zurückkehrt, um die Geschehnisse in der Ukraine und, um ehrlich zu sein, um den hybriden Krieg, den der “kollektive Westen” schamlos, offen, unverschämt und aggressiv gegen unser Land führt.

Der Westen hat erkannt, dass seine Pläne, die Ukraine in ein “Anti-Russland” zu verwandeln und auf ihrem Territorium einen Brückenkopf für die militärische Eindämmung der Russischen Föderation zu organisieren, gescheitert sind. Sie haben erkannt, dass unsere Geduld nicht grenzenlos ist und dass wir seit vielen Jahren, beginnend mit der Münchner Rede von Präsident Wladimir Putin im Jahr 2007, vor der Nicht-Akzeptanz von Aktionen zur Ausweitung der NATO nach Osten gewarnt hatten, wie auch: Vor der Missachtung von Zusicherungen und Versprechungen, die der Führung der Sowjetunion und später der Russischen Föderation gemacht worden waren, vor der völligen Missachtung der legitimen Interessen unserer Sicherheit und vor der Weigerung des Westens, seinen Verpflichtungen nachzukommen, die Sicherheit der NATO-Länder nicht auf Kosten der Sicherheit Russlands zu realisieren.

Seit langem warnten wir vor neonazistischen Umtrieben in der Ukraine und forderten, dass die russische Sprache nicht eingeschränkt werde. Anstatt diesen rechtswidrigen und gegen alle Konventionen verstoßenden Tendenzen Einhalt zu gebieten, hat der Westen sie stillschweigend geduldet. Infolgedessen ist der Gebrauch der russischen Sprache in der Ukraine im Bildungswesen, in den Medien und in der Kultur inzwischen gesetzlich verboten!

Wir haben davor gewarnt, den Staatsstreich von 2014 zu akzeptieren und ein Regime zu unterstützen, das unter russophoben Parolen mit der Bombardierung der russischen Bevölkerung im eigenen Land begann. Im Februar 2015 gelang es, die Minsker Vereinbarungen zu verabschieden, die den Weg für eine Einigung und die Lösung der genannten Probleme ebnen sollten. Doch weder Poroschenko noch Selenskyj – mittlerweile geben sie es offen zu – wollten die Vereinbarungen umsetzen, obwohl sie vom UN-Sicherheitsrat gebilligt worden waren. Der Westen hat entweder geschwiegen oder sich stillschweigend darüber gefreut, wie gut sie Russland durch die Schaffung eines Anti-Russlands direkt an seinen Grenzen schikanieren ließen.

Schließlich sind sie zur Erkenntnis gekommen, dass unsere Appelle all die Jahre keine leeren Bitten und Forderungen waren, sondern die grundlegenden Interessen unseres Landes widerspiegelten. Sie können sehen, wie hysterisch sie jetzt reagieren und ihre eigene Unfähigkeit bzw. ihren – offen gesagt – Unwillen, auf diesem Planeten auf Grundlage der Gleichberechtigung, des gegenseitigen Respekts gemäß den Grundsätzen des Völkerrechts und der UN-Charta, in welcher die Gleichheit souveräner Staaten verankert ist, zu verkehren mit ihrer beispiellosen Aggression und Wut zu kompensieren versuchen.

Dabei geht es keineswegs um die Interessen des ukrainischen Volkes, sondern den Erhalt Russlands als unabhängige Kraft auf der Weltbühne nicht zuzulassen. Es gab schon ernstere Phasen in unserer Geschichte, in denen unsere Rolle und unser Platz auf der internationalen Bühne andere “Partner”, wie wir sie ironisch nennen, dazu veranlasst hatte, Russland schwächen zu wollen. Ich bin davon überzeugt, dass ihnen das auch jetzt nicht gelingen wird, so wie es auch in der Vergangenheit noch niemandem gelungen ist.

Unsere Schlussfolgerungen betreffen die internationale [Sicherheits-]Architektur aus der Sicht unserer westlichen “Nachbarn”, die versuchen sich offen gegen das Völkerrecht zu stellen und ihre eigenen Regeln einzuführen. Der Westen sagt es ganz offen, dass die Weltordnung auf ihren “Regeln” zu beruhen hätte, wozu auch die Isolierung Russlands gehöre. Es wird ihnen nicht gelingen, uns zu isolieren – das haben sie bereits erkannt. In europäischen Hauptstädte wird bereits zugegeben, dass die Sanktionen nicht funktionierten und vielmehr ihren Urhebern schadeten: Inflation, steigende Preise, insbesondere für Energie. Darunter leidet vor allem die Bevölkerung, die Mittelschicht, aber ihre russophobe Besessenheit manifestiert sich selbst unter solchen Bedingungen.

Ich habe die Äußerungen der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock vom 31. August dieses Jahres gelesen, wonach die deutschen Bürger darunter schon litten, aber sie sich damit abzufinden hätten, weil Deutschland die Ukraine unterstützen wollte, was immer dazu benötigt würde. Es ist ein unglaubliches Eingeständnis, das sich nahtlos in das Gerede über die Notwendigkeit vorgezogener Wahlen in einer Reihe europäischer Staaten einreiht. Die westliche Elite lässt sich von der Logik von gestern leiten und propagiert eine unipolare Welt, die im Widerspruch zu den objektiven Tendenzen der historischen Entwicklung steht, die es gebieten, das Entstehen und die tatsächliche Stärkung neuer Zentren wirtschaftlicher Entwicklung, finanzieller Macht und politischen Einflusses anzuerkennen. Diese Zentren haben ein Gefühl für Würde und sind bestrebt, ihre legitimen Interessen zu verteidigen. Sie respektieren die Traditionen ihrer jahrhunderte- und jahrtausendealten Zivilisationen und wollen nicht über den einen Kamm vermeintlich liberaler Werte geschert werden.

Die EU hingegen überlegt, wie es sein sollte bzw. ob die einzelnen Länder das Recht zu einer Entwicklung hätten, wie man es unter Berücksichtigung ihrer Geschichte und Traditionen für notwendig hielt. Aus dem Brüsseler “Zentrum” und aus den Hauptstädten, die “alles und jedes” vereinheitlichen wollen, wird diesen Staaten jedoch unter Strafe angedroht, dass sie ein solches Recht nicht hätten. Der Vizekanzler und Wirtschaftsminister der Bundesrepublik Deutschland, R. Habeck, sagte kürzlich, dass es notwendig wäre, nationalen Interessen in Europa abzuschaffen – dies ist bezeichnend.

Die Länder auf dem eurasischen Kontinent, in Lateinamerika und Afrika sehen das alles. Sie sind mit solchen Aussichten ganz und gar nicht einverstanden und begannen rasch zu verstehen, was die “Regeln” bedeuten, die der Westen “allen und allem” aufzwingen möchte. Sie jedoch wollen zu ihren Wurzeln zurückkehren, zur souveränen Gleichheit der Staaten (gemäß UN-Charta), die Achtung vor zivilisatorischer Vielfalt in einer modernen Welt samt ethnisch-konfessioneller Vielfalt voraussetzt. Wir sind nicht allein, auch wenn sie versuchen, uns zu isolieren. Solche Versuche sind zum Scheitern verurteilt. Entgegen allem skrupellosen Druck, Erpressungen, Drohungen inklusive persönlichen Warnungen von Politikern haben sich 80% aller Staaten den westlichen Sanktionen nicht angeschlossen.

Wir arbeiten weiterhin aktiv im Rahmen der Vereinten Nationen und in der Gruppe von Freunden zur Verteidigung der UN-Charta. Die Zahl ihrer Mitglieder wächst: Sie hat bereits zwei Dutzend Mitglieder.

Wir arbeiten im postsowjetischen Raum im Rahmen der OVKS, der EAEU, der GUS, im eurasischen Kontext in der vielversprechenden neuen Vereinigung der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) und auf globaler Ebene – mit BRICS, welche, wie die SCO, immer mehr Länder mit Anträgen auf Partner- oder Beobachterstatus anziehen. Es gibt immer mehr Anträge auf Vollmitgliedschaft in diesen Organisationen. Die Zukunft liegt in diesen neuen Zusammenschlüssen und in der Arbeit in diesen und anderen Formaten, um die diskriminierenden Ansätze des Westens im Rahmen der Finanz- und Wirtschaftsarchitektur zu überwinden.

Immer mehr Länder ergreifen praktische Maßnahmen, um ihre Abhängigkeit vom internationalen Währungs- und Finanzsystem in der Form, wie es der Westen aufgebaut und unter seine Kontrolle gebracht hat, zu verringern und ihre Abhängigkeit vom Dollar, von westlichen Technologien und kontrollierten Lieferketten zu reduzieren. Diese Staaten schaffen ihre eigenen Mechanismen, die keinem Diktat und Missbrauch unterworfen sind. Diese Ländergruppe will, dass Demokratie keine leeres Wort bleibt, kein Instrument, das der Westen als Slogan gebraucht, um sich in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten einzumischen und seine eigenen Vorstellungen durchzusetzen, wie ein Staat sein Leben zu organisieren hätte. Immer mehr Länder sehnen sich nach einer Demokratie auf der internationalen Bühne, in der alle gleich sind und sich gegenseitig respektieren.

Der Westen lehnt es kategorisch ab, über die Demokratisierung der internationalen Beziehungen zu diskutieren, doch vertritt sein Konzept einer “regelbasierten Ordnung”, die auf Regeln des Westens beruht.

In dieser Situation bleiben die Ziele der russischen Außenpolitik unverändert: die nationale Sicherheit Russlands zuverlässig zu gewährleisten, die günstigsten Bedingungen für die sozioökonomische Entwicklung zu schaffen und das Wohlergehen der Bürger zu verbessern. Unter den gegenwärtigen Umständen ist die Stärkung der Souveränität der Russischen Föderation von besonderer Bedeutung. Es gilt, unsere grundlegenden Interessen auf der internationalen Bühne, die Ehre und Würde unserer Bürger und Landsleute in anderen Ländern zu verteidigen.

Es wird viel über Patriotismus diskutiert, darüber, was dieser ist und wie er sich unter modernen Bedingungen manifestieren sollte. Ich denke, dass Patriotismus in jeder Epoche die Fähigkeit eines Menschen bedeutet, sein Land zu kennen, es zu lieben und nach seinen Interessen zu leben. Ich bin davon überzeugt, dass je mehr Studenten und Schüler sich für Geschichte interessieren, für die großen Ereignisse in unserer Entwicklung, die den zukünftigen Weg Russlands bestimmen, desto mehr Patriotismus werden wir sehen. Nicht Hurra-Patriotismus, der künstlich ist, sondern ein Patriotismus, der ganz natürlich entsteht, weil die Person die Annalen der Geschichte seines Landes kennt.

Ich weiß, dass im Saal ausländische Studenten anwesend sind. Ich heiße sie willkommen. Ich möchte betonen, dass einige Länder versuchen, uns zu isolieren oder uns zu zwingen, uns zu isolieren. Ich habe bereits die Gründe erläutert, warum eine Isolierung nicht möglich ist. Auch wir werden uns nicht isolieren. Es ist der Westen, der sich abschotten wird, der Tage und Nächte damit verbringt, darüber zu diskutieren, wem er ein Schengen-Visum geben soll, wie oft er am Eingang zur Schengen-Zone fragen muss, für wen der Reisende ist (rot oder weiß), wem die Krim gehört. Sie wollen schon dreimal fragen, damit man sicher ist, dass man keinen Fehler macht. Das ist lächerlich. Im Großen und Ganzen sind solche Leute erbärmlich!

Wir sollten uns nicht selbst isolieren. Wir haben noch nicht darüber gesprochen, aber ich glaube, dass wir uns als Antwort auf die “Schengen-Mauern”, die sie zu errichten versuchen, nicht abschotten müssen und die Bürger der europäischen Länder damit kollektiv bestrafen. Dafür haben wir [nur] speziell “Ausgesuchte” auf unseren Sanktionslisten.

Der österreichische Außenminister A. Schallenberg sagte kürzlich, dass der Westen nicht in der Lage sein werde, 140 Millionen Menschen vor Gericht zu stellen. Der Minister sagte diese Worte zu einer Zeit, in der der Mainstream in Europa darauf abzielte, alle Bürger der Russischen Föderation zu bestrafen (von denen es übrigens etwas mehr gibt). Ich bin der Meinung, dass wir nicht denselben Weg einschlagen und auf Dummheit mit Dummheit antworten sollten. Gleichzeitig hat niemand den Grundsatz der Gegenseitigkeit aufgehoben, der gezielt gegen die Organisatoren und Verursacher solcher antirussischen Sanktionen angewandt werden sollte.

Am MGIMO [Moskauer Institut für Internationale Beziehungen] und an anderen Universitäten gibt es viele ausländische Studenten. Dies ist eine großartige Gelegenheit, die Russische Föderation kennen zu lernen. Auch für unsere Bürger ist es wichtig, ihr Land und seine grenzenlose Geschichte kennen zu lernen. Es gibt immer etwas Neues zu entdecken, und für Ausländer ist es umso interessanter: Je besser man uns kennt, desto größer sind die Aussichten für die Entwicklung der Welt auf dem richtigen Weg, nämlich auf der Suche nach Harmonie, nach einem Interessenausgleich, anstatt alle anderen unter das Kommando eines Ober-[Dienst]-Herren zu stellen.

Wir sind für Gleichheit und Freundschaft im weitesten Sinne des Wortes. Wir möchten, dass Sie uns und unser Leben besser kennen lernen. Dies wird zur Entwicklung der Beziehungen zwischen unseren Ländern beitragen. Ich bin mir sicher, dass meine Worte von vielen in Europa als Versuch, jemanden anzuwerben, interpretiert werden. Ich bin sicher, dass alle normalen Menschen, und diese sind in der Mehrheit, sehr wohl verstehen, wovon wir sprechen.

Noch einmal: Ich wünsche Ihnen einen glücklichen Feiertag!

Frage: Angesichts der ständigen Provokationen durch die ukrainischen Streitkräfte, die das Kernkraftwerk Saporischschja beschießen und die Welt an den Rand einer von Menschen verursachten Katastrophe bringen, kämpfen russische Diplomaten gegen diese Desinformationen des Westens, die unser Land für solchen Beschuss beschuldigen. Die IAEO wird in diesen Tagen das Gelände des Kernkraftwerks besuchen. Die ukrainischen Streitkräfte hören nicht auf, das Kraftwerk zu beschießen, und heute Morgen haben sie versucht, Landegruppen in Energodar abzusetzen. Was erwartet Russland von dem Besuch der IAEO im KKW Saporischschja? Können wir auf die Objektivität dieser Mission hoffen?

Sergey Lawrow: Wir erwarten Objektivität, obwohl alle anderen, die auf die eine oder andere Weise an diesem Besuch, seiner Vorbereitung und den Versuchen, ihn zu behindern, beteiligt sind, eindeutig nicht wollen, dass die IAEO-Mission zu unparteiischen Schlussfolgerungen kommt.

Ich erinnere daran, dass sich die IAEO mit einer ganz normalen Bitte an uns wandte, nachdem russische Streitkräfte dieses Gebiet übernommen hatten. Die Agentur ist gemäß einschlägigen internationalen Vorschriften verpflichtet, regelmäßig den Sicherheitsstatus von Kernkraftwerken zu überprüfen, zu denen auch das KKW Saporischschja gehört. Als wahre Fachleute, die ihre Arbeit nicht politisieren, sagten die IAEO-Experten: Da die russischen Streitkräfte jetzt die Kontrolle über das Kraftwerk hätten, wollten sie gerne den vorgeschriebenen regelmäßigen Inspektionen, wie vorgesehen, zustimmen.

Wir haben uns im Mai dieses Jahres auf alles Notwendige geeinigt und am 3. Juni dieses Jahres war alles bereit: Wir boten den IAEO-Spezialisten an, einen Termin zu wählen, um zu kommen. Doch, nur einen Tag später wurden wir informiert, dass das UN-Sekretariat, vertreten durch die Sicherheitsabteilung, der Agentur den Besuch untersagt hätte. Es wurden andere Worte verwendet, aber der Besuch wurde gerade wegen der Haltung des UN-Sekretariats zum Scheitern gebracht. Wir haben empfohlen, dass sie das untereinander ausmachen sollten, nachdem alles, was von uns verlangt wurde, getan worden war. Dann kam es zu einer Unterbrechung.

Im Juli dieses Jahres begannen die Ukrainer ihre Kampagne, um das Gebiet des KKW Saporischschja aktiv zu beschießen. Zu dem Zeitpunkt begannen wir zu verlangen, dass die Mission so schnell wie möglich einträfe und das UN-Sekretariat, welches dies Anfang Juni dieses Jahres unterbunden hatte, seiner Verantwortung gerecht werde. Darauf haben diese ganzen Diskussionen begonnen. Herr Wolodymyr Selenskyj leugnete, dass die Ukraine die Station beschieße, sagte aber, dass, falls die Mission vereinbart wäre, es von Seiten der Ukraine keine Hindernisse für eine sichere Durchführung der Arbeiten geben würde. Ich halte es für ein “Schuldeingeständnis”, wenn er vorgibt für die Sicherheit und den Schutz des KKW bürgen zu können.

In der Folge entwickelten sich die Ereignisse wie folgt: Es gab Gespräche darüber, auf welcher Route die Mission anreisen wollte. Journalisten fragten das UN-Sekretariat, warum sie die Mission nicht zum Kraftwerk vorließen. Offizielle Vertreter des UN-Generalsekretariats erklärten, die IAEO sei eine unabhängige Institution und entscheide selbst. Wir waren natürlich schon etwas “verwirrt” und wandten uns an Herrn Rafael Grossi [Generaldirektor, Internationale Atomenergie-Organisation] und sagten ihm, dass laut dem Vertreter des UN-Sekretariats der Generaldirektor der IAEO selbst entscheiden könne. Er sagte, dass dies nicht stimme – doch, die [UN] Abteilung darüber entscheide.

Ich übertreibe nicht, sondern gebe nur den offiziellen Schriftverkehr wieder!

Am Ende wurde alles vereinbart. Der russische Präsident Wladimir Putin sagte nach Kontakten mit seinen westlichen Kollegen, dass die Sicherheit für uns höchste Priorität hätte. Wenn sie es wünschten, könnten sie über das von der Ukraine kontrollierte Gebiet kommen. Wir stimmten allen Details zu. Doch im allerletzten Moment gab es eine weitere “Überraschung”: Herr Rafael Grossi rief an, entschuldigte sich und sagte, er könne nicht wie vereinbart kommen, sondern würde später kommen, weil er dringend nach Kiew “abberufen” worden wäre. Das war im Zuge der Erörterung der Parameter dieser Mission nie ein Diskussionspunkt gewesen.

Wir waren davon ausgegangen, dass Herr Grossi nach Abschluss der Arbeiten zur Mission nach Kiew reisen und dann mit unseren Vertretern über die Ergebnisse seiner Besichtigung sprechen würde. Anschließend würde er der IAEO und dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen Bericht erstatten. Diese ukrainischen frei-improvisierten Tricks im Stil, wie “wir machen, was immer uns gefällt” und “was auch immer vereinbart wurde, Herr Grossi, kommen Sie einfach nach Kiew” erinnert an napoleonische “Spiele”, doch wirkt erbärmlich. Der Versuch, komödienhaften Inszenierungseffekten an Stelle echter ernsthafter Arbeit zur nuklearen Sicherheit nachzugehen, ist in diesem Fall absolut unverantwortlich!

Die Mission ist heute am Kraftwerk. Sie haben völlig Recht, es gab Berichte unseres Militärs über die Landung von zwei Sabotagegruppen. Sie wurden neutralisiert. Ich glaube, das war ein hoher Preis dafür, damit die Weltgemeinschaft die Wahrheit erfährt. Aber offenbar will die Ukraine das auf diese Weise erreichen und zeigen, was sie repräsentiert. Ich hoffe, dass dies nicht zu einer Katastrophe führen wird. Wir tun alles, was wir können, um sicherzustellen, dass das Kraftwerk sicher arbeitet und die Mission alle ihre Pläne dort realisieren kann. Sie sagen zwar, dass sie kein Mandat hätten, die Verantwortlichen zu ermitteln, aber man wird ihnen alle Spuren zeigen, die der ukrainische Bomben- und Granatenbeschuss hinterlassen hat. Wir bestanden darauf, dass Ballistik-Experten in der Mission vertreten wären. Ich hoffe, wir werden etwas erfahren. Oder besser gesagt, wir wissen [bereits] alles. Ich hoffe zugleich, dass die Weltgemeinschaft ebenfalls eine solche Gelegenheit erhält.

Frage: Sehen Sie trotz des offenkundig für die bilateralen Beziehungen schädlichen Verhaltens der europäischen Länder – insbesondere die massenhaften Ausweisungen unserer Diplomaten, die ungerechtfertigten Sanktionen, das Auslöschen unserer gemeinsamen Geschichte – die Voraussetzungen für eine künftige Normalisierung der Beziehungen? Wenn ja, in welchem Zeitrahmen?

Sergey Lawrow: «In welchem Zeitrahmen könnten wir normalisieren?» – das trifft den Kern in der Tat!

Wir haben unsere Schlussfolgerungen aus den vielen Jahren des Kalten Krieges gezogen. Damals haben wir in unseren Beziehungen zum Westen auf jede erdenkliche Weise versucht, die Slogans, die uns die westlichen Länder auf dem Höhepunkt der Perestroika und nach dem Ende der Sowjetunion angeboten haben, in die Praxis umzusetzen: universelle Werte, ein gemeinsamer wirtschaftlicher und humanitärer Raum und Sicherheitsraum vom Atlantik bis zum Pazifik, Unteilbarkeit der Sicherheit, wonach kein Land seine Sicherheit auf Kosten der Sicherheit eines anderen erhöhen und kein Militärbündnis in Europa dominieren sollte.

Wir haben versucht, alles auf eine faire Art und Weise zu tun. Wir haben ein beispiellos umfangreiches Netz von Kooperationsmechanismen mit der Europäischen Union entwickelt, zusammengestellt und in die Praxis umgesetzt: zweimal jährlich stattfindende Gipfeltreffen, ein jährliches Treffen zwischen Mitgliedern der Regierung der Russischen Föderation und Mitgliedern der Europäischen Kommission, vier gemeinsame Räume, für die vier Fahrpläne angenommen wurden. Sie wurden mit dem Ziel umgesetzt, im Großen und Ganzen gemeinsame europäische Normen in unser tägliches Leben einzuführen, Vereinbarungen über zwanzig sektorale Dialoge – von den Menschenrechten bis zur Umwelt, Wirtschaft, Technologie, Raumfahrt. Es ist unmöglich, alles aufzuzählen…

Einen gesonderten Platz nahm der Dialog über die Visafreiheit ein, der zur Unterzeichnung des Abkommens über Visaerleichterungen – das die EU jetzt wieder aussetzen oder aufheben möchte – im Jahr 2006 führte. Der Dialog wurde mit dem Ziel fortgesetzt, zu einer vollständig visafreien Regelung zu kommen. Im Jahr 2013 war alles bereit, bevor die Ereignisse in der Ukraine dem Westen als Vorwand dienten, alle unsere Interaktionskanäle zu unterbrechen. Doch 2013, als alles für die Unterzeichnung einer visafreien Regelung zwischen Russland und der EU bereit war, wurde diese aus offen dargelegten politischen Gründen von einer Gruppe von Ländern, darunter den baltischen Staaten und Polen, blockiert. Die Motive, die sie bei der Prüfung dieser Frage in der EU “vorbrachten”, lauteten wie folgt: Ja, aus technischer Sicht wären biometrische Visa und Rückübernahmen in Betracht gezogen. Wir hatten Rückübernahmeabkommen mit allen EU-Ländern – als Vorbereitung für diese visafreie Regelung. Aber aus politischen Gründen wollten die baltischen Staaten nicht, dass Russland die Visafreiheit vor der Ukraine, Georgien und Moldawien erhielte. So viel zu Werten, Gleichheit, Unparteilichkeit und mehr.

Dennoch benötigten wir einige Zeit unsere Lehren daraus zu ziehen. Jedes Mal, wenn unsere Partner sich nicht ganz korrekt verhielten, gingen wir davon aus, dass wir mit ihnen “reden” müssten, dass sie ihre Schlüsse ziehen würden und dass wir uns in Richtung, der von ihnen vorgetragenen und von uns gebilligten «Slogans» bewegen würden. Das hat jedoch niemals geklappt!

Jetzt haben wir keine Illusionen mehr: Die Unfähigkeit der Europäer wie auch der Amerikaner ist offensichtlich. Sie haben alle Kanäle, die ich gerade erwähnt habe, alle Formen der Zusammenarbeit “abgeschnitten.” Wir können uns nicht mehr auf sie verlassen, angesichts dessen, was sie in Bezug auf Sanktionen tun. Wir können uns nicht mehr auf sie verlassen, wenn es um Schlüsseltechnologien für unsere Sicherheit, für die Ernährungssicherheit oder für eine beschleunigte Entwicklung unserer Gesellschaft geht.

Wir brechen die Kontakte nicht völlig ab, aber wir werden dies ausschließlich auf einer für beide Seiten vorteilhaften Basis tun. Gegenwärtig geschieht dies auf einem Minimum mit jenen Mitteln, die noch verfügbar blieben.

In Zukunft muss erst einmal diese “Hysterie” an der westlichen Flanke abklingen. Davon sind sie noch meilenweit entfernt. Obschon erste vernünftige Stimmen hinter dem Chor der Russo-Phobiker vernehmbar sind.

Doch, nachdem sie sich besännen, was ich hoffe, werden wir bereit sein, auf das zu hören, was sie uns anbieten wollten. Aber unser Leben, unsere Politik in der Hoffnung aufzubauen, dass in ein oder zwei oder drei oder sogar vier oder fünf Jahren alles wieder in Ordnung wäre, so dass wir keine alternativen Formate für die Lösung der Probleme unserer Entwicklung zu schaffen hätten – das ist eine wenig aussichtsreiche illusorische Position. Alles hängt von unseren “Partnern” ab. Sollten sie bereit sein, werden wir bereit sein, Ihnen zuzuhören.

Zum jetzigen Zeitpunkt kann ich nichts anderes sagen!

Teil II folgt am 3.8.2023

***

Übersetzung aus dem Russischen: UNSER-MITTELEUROPA

 


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12 Gedanken zu „Sergey Lawrow zum Tag des Wissens: «Auf Westen ist kein Verlass!»“
  1. Eine Bitte an die Universitäten in der Russischen Föderation:
    Zeichnen Sie Herrn Prof. Dr. Sucharit Bhakdi mit Ehrungen aus!
    Er ist ein großartiger Menschenfreund und Wissenschaftlicher,
    weshalb er vom BRD-System politisch verfolgt wird.

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  2. Immanuel Kant kämpfte gegen den Dogmatismus, der sich auch in der Wissenschaft eingenistet hatte. Im 19. Jahrhundert blühte eine neue, ich-starke, forschungsstarke und schöpferische Wissenschaft, besonders in Deutschland. Und nun? Materialistischer Dogmatismus, Wahrheitsverbot, Tyrannei gegen die klügsten Professoren. Möge es in Russland besser sein!
    Aufklärung heißt, den Mut zu haben, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. (Kant)

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  3. Die EU degradiert sich zum neuen amerikanischen Hinterhof oder läßt sich degradieren.
    Um uns alle zu befreien, muß als erstes Deutschland wieder frei werden. Und das wird es erst, wenn die Inselaffen und die Froschfresser das einsehen. Ansonsten bleiben auch sie in der Falle.

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  4. Russland hatte vor den Sanktionen etwa die ökonomische Schlagkraft von Südkorea oder Italien. Russland muss inzwischen seine Haupteinnahmeprodukte Gas und Öl an die BRICS-Staaten verscherbeln. Die moderne Waffentechnik in den russischen Systemen kommt überwiegend aus den Nato-Staaten. Eine neue Mobilisierungswelle meidet man, um zu verhindern, dass der Krieg bei der Bevölkerung auch als solcher ankommt. Und jetzt muss man auch noch im Iran und in Nordkorea nach Waffen und Munition betteln.
    Alleine kann die Ukraine nicht gegen Russland bestehen. Aber wenn der Westen seine ganze militärische und ökonomische Schlagkraft in die Waagschale wirft, dann kann Russland da nicht mal ansatzweise mithalten.

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    1. Die moderne Waffentechnik in den russischen Systemen kommt überwiegend aus den Nato-Staaten.
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      Selten so jelacht … Wieviel Kohle gibt’s denn vom Mecki Haldenwang für die Unterwanderung bürgerlicgher Foren mit noch klar denkeneden Menschen ?
      Dieses Land ist, mit solchen Leuten aus dem Westen wie Ihnen, so etwas von verkommen, die ehemalige DDR sollte sich nun endlich vom Wertewesten wieder abspalten, denn diie normal denkenden Bürger leben sowieso da, sieht man ja daß die AfD dort immer stärker wird.
      Und die vernünftig denkenden Leute aus dem Westen sind dann auch dort in seinen landschaftlich sehr schönen Gegenden sehr willkommen !

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    2. Some time ago, the German economy was the main locomotive due to cheap energy resources from Russia.
      Now the EU countries are eagerly joining this military scam in the hope of sharing a piece of the Russian pie.

      I don’t know what’s going on and what’s behind it. Maybe the task of this scam is the destruction of Russians and Ukrainians.
      Then we wish them to rest in peace, because they did not have the mind to resist this.

      Maybe in the near future Russia will surrender and the Russians will be driven into the reservations like Indians, then the Muslims will finish them off with knives and settle in their place. These Muslims from Central Asia will have no claims to natural rent.

      Or maybe all this is done on purpose so that the EU will receive a blow of retribution for participating in this scam.

      Nobody knows what will happen. And we have no leverage to influence it.

    3. Solch hochtrabenden Worte höre ich immer wieder. Mein Fazit daraus ist ganz einfach, Menschen die so etwas von sich geben waren nie beim Militär. Denn sonst wüssten sie, das das Wichtigste an einem Krieg immer die Motivation in der Truppe ist.
      Ich war 1970-71 beim Bundesgrenzschutz. Und schon da haben wir erkannt, das alles was von der Politik kam nur gequirlte Scheiße war. In meinem Zug haben wir uns abgesprochen, kommt der Russe, dann Uniform au und ab nach Dänemark!

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  5. Tja – er hat mal wieder völlig r.cht m. A. n.. – Schlimm ist, dass die vernünftigen ehrlichen anständigen wissenden echten Teutschen und anderen Kerneuropäerinnen mit in dieser m. A. n. VSA-SAT-ANNUIT-und-Vasällen-Hoelle sitzen und vielfach nicht mehr die Kraft, Gesundheit und sonstigen erforderlichen Mitteln haben, sich aus dieser aus dem Staub zu machen.

    Es gibt m. A. n. nur eine Lösung und die kennen hier fast alle Aufrichtigen.

    Meiner Ansicht nach.

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