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22.10.2024: Jeffrey Sachs beantwortet die Fragen der Cambridge Union Society | Quelle: Screenshot YouTube

In Beantwortung der ersten Frage geht Jeffrey Sachs auf ein ganzes Bündel von Themen ein: Sie reichen vom Vertrag von Versailles bis zu den dunklen Seiten westlicher Entwicklungs- & Hegemonialpolitik. 

Jeffrey Sachs: „J. M. Keynes hat sich als Prophet erwiesen!“

Nach der Eröffnungsrede: A. Mitchell eröffnet die Diskussion mit der ersten Frage

Alex Mitchell: Vielen Dank für Ihre Rede – ich fand sie faszinierend. Wir werden wie folgt vorgehen: Ich werde in Folge eine erste Frage stellen, um danach die Diskussion mit den Zuhörern zu eröffnen.

Ich möchte auf Ihren akademischen Hintergrund bezüglich Entwicklungshilfe Bezug nehmen und Sie fragen: Warum glauben Sie, dass die Entwicklungshilfe vom Jahr 2008 an bis zum heutigen Tag in vielen westlichen Ländern an Bedeutung verloren hat – insbesondere im Vereinigten Königreich, wo jener Anteil auf 0,5 % des BIP reduziert wurde? Was steckt Ihrer Meinung nach dahinter und warum zögert man, die Bedeutung der Entwicklungshilfe im Zuge gegenwärtiger Veränderungen zu verstehen?

Jeffrey Sachs: Eine sehr gute Frage! Wissen Sie, ich habe meine Ausbildung zum Wirtschaftswissenschaftler für internationale Entwicklung, doch nicht für Wirtschafts-Entwicklung, gemacht. Seit damals übte John Maynard Keynes den größten Einfluss auf mich aus. Es war nicht so sehr seine Makroökonomie, obwohl ich sie bewunderte, als ich ihr zum ersten Mal begegnete und mir dachte, das sei das coolste Ding auf der Welt:

Mich beeindruckte an seinem Modell, dass man an ökonomischen Stellschrauben drehen kann, um die Wirtschaft zu stimulieren, Vollbeschäftigung zu erzielen und zu erfahren, was man sonst noch alles machen könnte. Das Studium dazu hat mir viel Freude bereitet und ich war vom ersten Moment an begeistert. Aber was mich nachhaltig von Keynes beeinflusst hat, war sein bemerkenswertes Essay, „The Economic Consequences of the Peace in 1919[Die ökonomischen Konsequenzen des Vertrages von Versailles], worin er sich in Bezug auf die Verhandlungen zum Vertrag von Versailles als sehr kritisches und verärgertes Mitglied der britischen Delegation outete.

Das ganze Buch war eine Anklage gegen das, was Lloyd George, Clemenseau und Woodrow Wilson im Vertrag von Versailles vereinbart hatten und Chaos nach sich ziehen sollte:

Die Kriegsschulden und Reparationszahlungen zwischen den Alliierten würden ins Chaos führen.


Und Keynes hat sich diesbezüglich als Prophet erwiesen:

Er sagte bereits 1919, dass die Verhängung dieses harten Friedens – jenes karthagischen Friedens –in der nächsten Generation wahre Monster werde auferstehen lassen.

Das konnte man sich zuvor nur schlecht vorstellen. Seine Zitate sind exzellent, zumal er ein so großartiger Schriftsteller und Stilist auch war. Keynes sollte Recht behalten haben. Das hat mich stark beeindruckt.

Ich habe also im Finanzwesen angefangen und nachdem ich began, mich mit Problemlösungen zu beschäftigen, kam es dazu, dass einige meiner ehemaligen Studenten an den Harvard-Campus zurückkehrten, um über Hyperinflation bei sich zu Hause in Bolivien zu klagen.

Das war eine glückliche Fügung in meinem Leben, denn diese bolivianischen ehemaligen Studenten von mir, wandten sich an die Fakultät, um die Hyperinflation in Bolivien zu erörtern. Ich war der Einzige, der sich meldete. Ich wusste zwar nichts, doch Gott sei Dank waren diejenigen, die wirklich etwas davon verstanden, nicht gekommen, sodass ich meine Chance wahrnahm.

Ich glaube, es gab noch eine andere Senior-Kraft, aber jedenfalls meldete ich mich zu Wort und sagte, dass Hyperinflation eigentlich so nicht funktionieren könne. Ich kannte mich mit der ganzen Theorie aus, also schrieb ich etwas an die Tafel, als eine Stimme aus dem hinteren Teil des Raumes sich meldete und meinte: Wenn Sie so schlau sind, sollten Sie nach Bolivien fahren“.

Nun gestehe ich ein Geheimnis: Ich musste nach Hause gehen, um auf der Karte nachzusehen, wo Bolivien liegt (Gelächter). Ich hatte keine Ahnung. Ich wusste, dass es auf dem amerikanischen Kontinent lag, aber ich wusste nicht genau, wo. Dann fand ich es heraus und beschloss, dass ich gehen würde. Auf jeden Fall hatte Keynes mich wirklich beeinflusst, denn ich gelangte schliesslich dorthin: Es war ein verarmtes Land und hatte zu dieser Zeit die siebthöchste Hyperinflation, die es auf dem ganzen Planeten gab. Seitdem gab es noch mehr davon.

Es gelang mir besagte Hyperinflation [in Bolivien] nach Methode der Standard Monetary Economics zu beenden [Anmerkung der Redaktion: Die Standard Monetär-Ökonomie legt Regeln zur Geldversorgung fest]. Soweit das gelaufen war, meldete sich das IWF zurück: „Okay, jetzt muss Bolivien anfangen, seine Schulden, die es bis jetzt nicht bedient hat, zu begleichen!“

Ich entgegnete: “Nein, das würde diese schöne Stabilisierung zunichtemachen – Sie sehen doch, wie arm diese Menschen sind. Lassen Sie davon ab – lassen Sie die Leute weitermachen!“ Keynes sagte stets: „Seid nicht gemein – sei nicht kleinlich: Seid nett zu Menschen in Not!“ Ich landete schließlich beim IWF und fand dort einen wunderbaren älteren Herrn, der mich unter seine Fittiche nahm, weil ich nicht wusste, was ich tat und in dieser Hinsicht noch ein Grünschnabel war. Er sagte, dass Sachs Recht hätte: „Warum versuchen wir nicht, einen Teil dieser Schulden zu erlassen?“ Am Ende wurde Bolivien ein großer Schuldennachlass gewährt und die Stabilisierung hielt an.

Das war für mich auch beruflich von Vorteil. Denn, dann sagten andere Länder: „Gut, helfen Sie auch uns, Schulden loszuwerden!“ Was ich in den kommenden Jahren auch tat, unter anderem in Mitteleuropa und der ehemaligen Sowjetunion nach der Revolution von 1989 und ihrem Ende im Jahr 1991. So wurde ich damals in russische und ukrainische Angelegenheiten involviert.

Aber meine Idee war immer: Sei nett zu Menschen in Not, denn sonst rächt sich das irgendwann einmal. Wenn man sehr reich ist, merkt man das gar nicht:

Ich meine, die Schulden Boliviens waren nichts! Übrigens war die gesamte Verschuldung der Entwicklungsländer durchaus überschaubar, wenn man sie ehrlich betrachtete.

Ich wurde auch in Winston Churchills nicht ganz korrektes Zitat zum Marshall-Plan eingeweiht, welches besagt, dass es sich dabei um das ungeordnetste Ereignis der Geschichte handelte. Ich ging davon aus, dass der Marshall-Plan eine völlig selbstlose, wunderbare Tat der Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg war, nur um Europa wiederaufzubauen.

So wurde ich erzogen und so wurde es mir beigebracht: Tatsächlich war der Marshall Plan viel komplizierter, denn er war als ein Instrument der Politik für den Kalten Krieg angelegt und hat viele Schattenseiten:

Der Marshall Plan half bei der Finanzierung von CIA-Operationen und bei vielen anderen Dingen. Er war also keine völlig ungeordnete Handlung – er war vielmehr eine wirksame Handlung: Er half beim Neustart der europäischen Volkswirtschaften.

Damit will ich sagen: Ich glaubte, dass an einem kleinen Transfer von einer sehr reichen Welt zu armen Menschen nichts falsch sein könnte? Das habe ich im Grunde mein ganzes Leben lang so gehalten. Ich habe es lange Zeit versucht – ich habe versucht, Entwicklungshilfe zu beschaffen. Ich habe 2005 mit Bono [beim Gipfel] in Gleneagles zusammengearbeitet, um Armut zu beenden und Entwicklungshilfe auf 0,7 % [vom GDP] hinaufzuschrauben, was dem UN-Standard entsprach, wobei jedes reiche Land 0,7 % an Entwicklungs-Hilfe geben sollte.

Ich schrieb 2005 mein Buch, „Das Ende der Armut“ basierend auf der Idee: Seid nett – macht mit, wir sind reich und helfen armen Menschen, um sie aus der Falle zu holen, damit sie ihre eigene Entwicklung vorantreiben können. Es geht nicht nur um Wohltätigkeit. Es geht auch darum, ein wenig dabei zu helfen, diesen extremen Zustand zu überwinden, solange man arm sei. Man hat kein Geld, um in Dinge zu investieren und sich aus der Armut selbst befreien zu können.

Es gibt eine Falle – sie existiert an noch vielen Orte der Welt. Wenn es nicht buchstäblich eine Armutsfalle wäre und arme Länder einen Ausweg fänden, könnten sie viel schneller und mit viel weniger Leid und mit viel produktiveren Leben einen Ausweg finden, wenn wir dabei helfen würden. Daran hatte ich lange Zeit gearbeitet:

Aber mit der Zeit entdeckte ich viele dunkle Seiten amerikanischer Außenpolitik, die ich in meinen ersten Jahren nicht erfassen konnte. Ich wusste, dass etwas nicht stimmte, weil ich in den 1960er Jahren als Gymnasiast schon gegen den Vietnamkrieg demonstrierte … Die dunklen Seiten amerikanischer Außenpolitik, britischer Imperial-Politik sowie Großbritanniens Rädelsführerschaft bezüglich amerikanischer Außenpolitik waren mir jedoch nicht ganz so bewusst.

Mit der Zeit habe ich diesbezüglich dazugelernt, obwohl es ein wenig kompliziert lag. Deshalb lohnt es sich, einiges zu erklären:

Bei der operanten Konditionierung [Anmerkung der Redaktion: Bei der operanten Konditionierung folgt auf eine Handlung bzw. einen ersten Reiz als Belohnung oder Bestrafung ein zweiter Reiz]  konditioniert man eine Ratte darauf, einen Hebel umzulegen bzw. man konditioniert Menschen darauf, einen Knopf zu drücken, um einen Impuls zu setzen. Wenn man die Konditionierung aufheben möchte, hat man die Reizreaktion zu unterlassen. Man kann zu einem kalten Entzug [Cold Turkey] kommen – doch, dann funktioniert die Reaktion nicht mehr. Es kommt zu einem Ausklingen über die Zeit. Aber wenn man ab und zu einen Sieg [Positiv-Impuls] setzte, indem man wieder einmal auf den Hebel drücken liesse, verlängerte sich die Qual des Ausklingens der Konditionierung über einen entsprechend längeren Zeitraum.

Ich erwähne das, weil in meiner Karriere die USA ab und zu etwas Nettes getan haben. Demnach meinte ich, dass es genügte, hartnäckig zu bleiben, um sie zu überzeugen das Richtige zu tun. Es gab zwar einige Erfolge auf dem Weg, wenn auch umso mehr Frustrationen. Doch die wenigen Erfolge bestärkten mich, dass es nur eines weiteren Gespräches, weiteren Arguments oder einer weiteren Debatte mit einem anderen Präsidenten, Außenminister oder seinem Berater bedürfte, um das Blatt wenden zu können.

Ich habe lange gebraucht, um davon abzulassen einen solchen Hebel zu betätigen, denn es gibt wirklich viel an Bösartigkeit. Ich meine vor etwa zehn Jahren aufgehört zu haben, nach Washington zu reisen, um dort über Entwicklungshilfe vorzusprechen.

Stellen Sie sich vor, nicht mehr im Großbritannien des 19. Jahrhunderts zu leben und nicht mehr die Meere zu beherrschen, was eine Grundlage für die britische Hegemonie im 19. Jahrhundert noch war.

[…]

Das erste, was Professor John Mearsheimer dazu mir sagte, war das:

„China kann uns nicht besiegen – wir können China nicht besiegen, aber China könnte uns stören! Es wird uns mehr stören, falls China zum Hegemon Ostasiens aufstiege. Wir müssen verhindern, dass China zum Hegemon Ostasiens wird, damit die Vereinigten Staaten der einzige Hegemon der Welt blieben: Der einzige regionale Hegemon!“

Was für eine Politik, die einen Atomkrieg provozieren könnte, wobei ich entgegen hielt:

„Aber John, das könnte zu einem [Atom-]Krieg zwischen den USA und China führen …“ Und er:

„Ja – das ist tatsächlich wahrscheinlich oder möglich. Vielleicht können wir es vermeiden, aber es wäre durchaus möglich.“ Ich erwiderte:

Nein, die Wahrscheinlichkeit einer totalen Vernichtung hat für mich nur minus unendlich zu sein… Man darf auf so ein Risiko keine positive Wahrscheinlichkeit setzen!

 Das ist also der erste Punkt, in dem wir unterschiedlicher Meinung sind.

Der zweite Punkt der Meinungsverschiedenheit betrifft im Wesentlichen die Spieltheorie:

Jeder hier dürfte das Gefangenendilemma kennen [Anmerkung der Redaktion: Das Gefangenendilemma ist ein klassisches spieltheoretisches Szenario, bei dem zwei Personen, die in ihrem eigenen Interesse handeln, gegebenenfalls nicht kooperieren, selbst wenn es den Anschein hätte, dass es in ihrem besten Interesse läge, was den Konflikt zwischen individueller Rationalität und kollektiver Zusammenarbeit demonstriert]:

Das Gefangenendilemma ist eine Situation, in der es sich auszahlt, zu kooperieren, wobei jedoch die vorgegebene Strategie für jeden Spieler darin besteht, nicht zu kooperieren: Im Fall einer Kooperation der anderen Seite, betrügt man und gewinnt. Falls die andere Seite nicht kooperiert, wäre man jedenfalls nicht der Dumme. Also ist man zuletzt nicht kooperativ und macht sich auf den Weg in den Krieg.

Das ist Spieltheorie und das ist es, was von der Rand [Corporation] gelehrt wird [Anmerkung der Redaktion: Die US-Denkfabrik RAND Corporation entstand als „Project RAND“ – mit den Initialen für Research and Development / F&E unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Die United States Army Air Forces gründeten das Project RAND mit dem Ziel, die langfristige Planung zukünftiger Waffentechnik zu optimieren].

Das ist es, was diese Leute in Washington denken und wie sie spielen und reden. Tatsache ist jedoch, dass, wenn man echte Menschen – ich meine keine Wirtschaftsstudenten, sondern echte Menschen – in ein experimentelles Spiel involvierte, sie kooperieren würden: Die Hälfte der Zeit – drei Viertel der Zeit! Lässt man zwei Personen vorher miteinander reden – ohne verbindliche Abmachung, sondern nur, um unverbindlich zu plaudern, so nennt man das in der Spieltheorie ‚Cheap Talk‘ [billiges Gerede]. Es sollte keine Auswirkungen auf das Gleichgewicht haben, doch:

  • in der realen menschlichen Praxis kooperieren zwei normale Menschen, wenn man sie in ein Gefangenendilemma steckt, in der Hälfte der Fälle.
  • Wenn man ihnen vor dem Spiel eine Kommunikation (Cheap Talk) ermöglicht, kooperieren sie in mehr als 90% der Fälle.

So verhalten sich Menschen. Danach richtet sich mein Rat: Warum spricht Präsident Biden oder jemand, der künftig als Präsident sein Amt versteht, nicht mit Präsident Putin? Man verstünde den Standpunkt von Präsident Putin, warum dieser Krieg andauert? Eine Kommunikation würde die Zusammenarbeit viel wahrscheinlicher machen.

Es gibt einen zweiten Punkt in der Spieltheorie, der wichtig ist, das sogenannte Folk-Theorem [Anmerkung der Redaktion: Das Folk-Theorem besagt, dass es in einer unendlich Version des Spielwiederholung, vorausgesetzt, die Spieler wären geduldig genug, sich ein Gleichgewicht einstellte, sodass beide Spieler auf dem Gleichgewichtspfad zueinanderfinden]:

Wenn man sich in einer Spielwiederholung des Gefangenendilemmas befindet und kein festgelegtes Enddatum feststünde, dann sollte das Kooperation fördern, sodass nicht Vertrauen auf beiden Seiten verloren ginge, weil man sich auf künftige Handlungen eingestellt hätte und zeigen wollte, dass man vertrauenswürdig sei.

Man kann die Zusammenarbeit so von Periode zu Periode steigern. Das ist eine weitere Möglichkeit, ein gutes Ergebnis in einem Gefangenendilemma zu erzielen.

Daher betrachte ich die Theorie der internationalen Beziehungen im Wesentlichen als Gefangenendilemma oder Hobbessches Dilemma von Nationalstaaten in einem anarchischen Umfeld.

 [Anmerkung der Redaktion:

  • Die Theorie der internationalen Beziehungen ist die Lehre der internationalen Beziehungen (IR) aus theoretischer Sicht. Sie versucht, Verhaltensweisen und Ergebnisse in der internationalen Politik zu erklären. Die drei bekanntesten Denkschulen sind Realismus, Liberalismus und Konstruktivismus.
  • Die Hobbessche Falle (oder das Schellingsche Dilemma) ist eine Theorie, die erklärt, warum es zu Präventivschlägen zwischen zwei Gruppen, aus beidseitiger Angst vor einem unmittelbar bevorstehenden Angriff, kommt].

Mein Argument lautet: Es ist nicht so anarchisch – es ist nicht so bedrohlich.

Die einzige echte Bedrohung stellt ein Atomkrieg dar! Man halte sich also fern davon: Das ist die rote Linie für uns alle, doch das schliesst Zusammenarbeit nicht aus!

Ich betrachtete dazu aus der Geschichte viele Beispiele, bei denen Zusammenarbeit funktioniert hatte. Ich habe im Jahr 2013 über eine solch erstaunliche Episode, nachdem ich davon erfahren hatte, ein Buch geschrieben: Das war nach der Kubakrise, als Kennedy zunächst den Rat all seiner Berater zurückgewiesen hatte, bis auf eine Ausnahme. Denn, alle anderen hatten dazu nur gesagt: „Bombardieren Sie diese Standorte auf Kuba!“

Im Nachhinein betrachtet wären wir heute mit ziemlicher Sicherheit nicht hier zugegen, wenn es zu einer Bombardierung gekommen wäre. Doch, Kennedy war sehr viel vorsichtiger: Er fragte sich während der gesamten Krise, was Chruschtschow wohl durch den Kopf ginge. Er ist ein Mensch. Was hat er vor? Schließlich kam er zum Schluss, dass Chruschtschow nicht das Ende der Welt im Sinn haben konnte. Das wäre nicht seine Absicht, was beiden Staatsmännern Rückzieher ermöglichte. Die haben sie dann gemacht!

Das war im Oktober 1962. Im Jahr 1963 unternahm Kennedy eine Friedenskampagne, die zuletzt teilweise zum neuen Kernwaffenteststopp-Vertrag führte. Dieser Vertrag wurde im Juli 1963 mit der Sowjetunion unterzeichnet.

Ich glaube, dass diese Entwicklung zur Ermordung Kennedys führte, zumal es in der US-Administration genügend Leute gab, die Friedensinitiativen entgegenstanden. Ich denke, dass war ein Insider-Job, wobei die Beweislage immer erdrückender scheint. Auf jeden Fall war es Kennedys Idee, dass beide Seiten Frieden schlössen.

Er sagte es in den schönsten Worten eines Redenschreibers – der sehr begabte Mann, namens Theodore Sorenson, den ich glücklicherweise kannte, weil er in unserer Nachbarschaft wohnte. Als ich an die Columbia University kam und ihn dort traf, sagte er mit eloquenten Worten, wie man sich nicht besser hätte ausdrücken können: „Wir können Frieden schließen, sogar mit der Sowjetunion auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges!“

Er drückte es so glaubhaft aus, dass Chruschtschow, als er Kennedys Rede hörte, sofort den amerikanischen Gesandten Averell Harriman zu sich rufen liess und erklärte: „Ich möchte mit Ihrem Präsidenten Frieden schließen“, weil er von dessen Worten inspiriert worden war. Und sie schlossen Frieden. Dieser Vertrag hielt und führte fünf Jahre später zum Atomwaffensperrvertrag, der die Welt veränderte.

Das ist also die optimistische Seite: Setzt auf Frieden! Stattdessen war unser furchtbarer Präsident [Biden], als er noch funktionstüchtig war, einfach nur schrecklich: Biden – alles, was er vermochte, war, Putin ständig zu beleidigen. Wie soll man Frieden schaffen, wenn man denjenigen, der einem Land mit 6.000 Atomsprengköpfen vorsteht, nur Beleidigungen an den Kopf wirft? Das ist verrückt – das ist leichtsinnig:

Washington ist voll mit solchen Leuten, die sich in Spieltheorien ergehen und genau zu wissen meinen, was Putin tun werde, um zugleich zu verkünden, dass wir keine andere Wahl hätten, als militärisch aufzurüsten.

Frau Dr. Mara E. Karlin [Stellvertretende Verteidigungsministerin für Strategie, Planung und Einsatzmöglichkeiten], die unter Biden im Verteidigungsministerium eine hohe Position innehält, sagte:

Wir haben keine andere Wahl, als durch unsere militärische Aufrüstung abzuschrecken.

Sie erwähnt mit keinem Satz, dass es auch Diplomatie mit China geben könne. Diese Frau ist eine Ignorantin! Es tut mir leid. Ich war mindestens 100 Mal in China: Es gibt keinen Kampf mit China, der vorgezeichnet schiene – überhaupt keinen! China ist nicht darauf aus, die USA zu besiegen und könnte das auch in einer Million Jahren nicht. Wir würden alle untergehen.

Übrigens, hat China in seiner gesamten Geschichte über 2.245 Jahre seit 221 v. Chr., nachdem das Qin-Reich (221–206) China vereint hatte, noch nie ein Land im Ausland angegriffen. Hat China jemals Japan angegriffen? Nicht ein einziges Mal! Haben sie jemals Korea angegriffen? Nicht ein einziges Mal! Sind sie jemals in Vietnam eingefallen? Ja, über [ganze] 17 Jahre während dieser 2.000 Jahre plus – genauer gesagt von 1420 bis 1436 und danach noch im Jahr 1979.

Die Vereinigten Staaten haben noch nie Frieden gelebt. Wir führen ständig Kriege und Sie kennen die Wahrheit: Wir haben das von hier (aus Grossbritannien) gelernt (Gelächter), denn das Britische Empire war die am stärksten militarisierte Gesellschaft, welche man sich vorstellen kann: Leider sind die Führer dieses Landes aufs Militär fixiert: Es spielt keine Rolle, welcher Partei sie angehören, denn Keir Starmer ist genauso schlimm wie Boris Johnson –.

Es ist unglaublich! Was tat Keir Starmer als Erstes, nachdem er [britischer] Premierminister wurde? Er reiste nach Kiew, um endlose Unterstützung durch die USA zuzusichern – endlose Unterstützung der Vereinigten Staaten zur Niederlage von Russland. Übrigens: Großbritannien selbst tut ja nichts (Gelächter). Danach flog er über den Atlantik, um Biden davon zu überzeugen und dem US-Militär die Autorisierung für Angriffe tief ins russische Hinterland erteilen zu lassen: Das ist wirklich eine „clevere“ Sache, vor allem, nachdem Putin gesagt hatte:

Nun, dann wären wir im Krieg gegeneinander und wären gezwungen, unsere Nuklearstrategie zu überdenken!

Dann stiess unser CIA-Direktor zu dieser Sache, was übrigens großartig für das West End Theater (Gelächter) wäre, weil es eine Art Parodie darstellt. Der CIA-Direktor trifft sich hier kürzlich mit dem MI6-Direktor auf der Bühne und sagte:

 Oh, machen Sie sich keine Sorgen wegen Putins Bluff!

Mein Rat dazu [an beide Herren] lautet: „Wenn Sie etwas dazu sagen wollten, dann tun Sie es jetzt – denn, nachdem wir alle vernichtet sind, wird Sie niemand mehr hören!“

Woher wissen wir, dass er [Putin nur] blufft? Er blufft auf keinen Fall, sowie Russland strategisch bedroht wäre.

Das war es – ich weiß zwar nicht mehr, was Sie mich ursprünglich gefragt hatten, aber das war meine Antwort! (Applaus)

Fortsetzung folgt

***

Übersetzung und Transkript-Erstellung: UNSER-MITTELEUROPA

Teil I – Die Eröffnungsrede von Jeffrey Sachs: Hier

Jeffrey Sachs vor der Cambridge Union Society | Teil 1: „Wir werden nicht richtig regiert!“

Teil 3:

Sachs zur US-Wahl: «Beiden Kandidaten fehlen die Mindestanforderungen fürs Amt!» – Teil 3



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Von Redaktion

2 Gedanken zu „Teil 2 – Jeffrey Sachs in Cambridge: „Atomkrieg hat für uns alle rote Linie zu sein!““
  1. Danke für diese Übersetzungsleistung:
    Es kooperieren zwei normale Menschen, wenn man sie in ein Gefangenendilemma steckt, in der Hälfte der Fälle.
    Wenn man ihnen vor dem Spiel eine Kommunikation (Cheap Talk) ermöglicht, kooperieren sie in mehr als 90% der Fälle!
    Manifester Krieg jedoch gilt als Austragung eines Konfliktes mit anderen Mitteln, oft erscheint es als eine Konfliktumleitung.

  2. Während die deutsche Industrie ums Überleben kämpft und in Scharen ins Ausland abwandert, fordert der CDU-Politiker Kiesewetter ein Sondervermögen von 300 Milliarden Euro für die Bundeswehr
    https://www.welt.de/politik/deutschland/article250055512/Bundeswehr-Kiesewetter-fordert-Sondervermoegen-von-300-Milliarden-Euro.html

    Wolfgang Ischinger fordert „Kriegswirtschaft“ für Deutschland
    Der aktuelle Chef des Stiftungsrates der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, hat in einem Interview mit dem Springer-Blatt BILD die Bundesregierung aufgefordert, alles in die Wege zu leiten, um Deutschland in eine „Kriegswirtschaft“ zu führen. Die Bundesrepublik stände erst „erst am Anfang der Zeitenwende“, so der langjährige deutsche Spitzendiplomat und Botschafter in den USA. Die vom ihm nun platzierte Forderung ist mehr als nur ein indirektes Eingeständnis, dass, zumindest nach seinem Verständnis, die Bundesrepublik sich bereits im Krieg mit Russland befindet.
    https://www.nachdenkseiten.de/?p=90762

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