Im letzten und dritten Teil des Interviews erläutert Mark Sleboda die Hasardspiele des atlantischen Hegemonen, die von beiden Parteien in den USA getragen werden.
Mark Sleboda: «Unsere ganze Generation hat das Verständnis
für die Gefahren eines nuklearen Krieges verloren!» – Teil 3
Danny Haiphong: Mark, ich möchte Ihnen für die verbleibende Zeit noch die Frage stellen, ob es sich bei den beiden Ereignissen – zum einen der Beschuss Russlands durch NATO Langstreckenraketen und zum anderen die schon länger in Arbeit befindliche Aktualisierung der russischen Nukleardoktrin, um einen glücklichen Zufall oder eine echte Überschneidung gehandelt hat?
Die Bedingungen [zwischen vormaliger und neuer Nukleardoktrin Russlands] scheinen nicht grundsätzlich verschieden. Könnten Sie bitte kurz darauf eingehen, was diese aktualisierte Nukleardoktrin enthält und bedeutet, sodass es auch Normalbürger in den USA bzw. im Westen richtig verstehen: Hat diese neue Nuklear-Doktrin mit der dramatischen Zunahme von Eskalationen, welche – wie Sie richtigerweise feststellten – von den Vereinigten Staaten und ihren NATO-Vasallen ausgehen – zu tun? Es sind jene, welche die Eskalationsspirale nach oben treiben und diesen Konflikt auf ein noch gefährlicheres Niveau heben.
Mark Sleboda: Okay – also kurz zur Situation bevor es zu dieser Änderung [der russischen neuen Nuklear-Doktrin] kam:
Russland hatte eine sehr klare, streng restriktive Nuklearwaffendoktrin, im Gegensatz zu den USA. Die Vereinigten Staaten, wie Sie wissen, orientieren sich auf Präventivschläge bzw. diesen Erstschlag-Wahnsinn!
Das ist natürlich völlig unverantwortlich, doch man weiss, dass es die Vereinigten Staaten sind, die das tun!
Es gab nur drei Fälle, nach denen Russland zuvor – gemäß seiner eigenen Nuklearwaffendoktrin – Atomwaffen hätte einsetzen dürfen und dies waren:
- ein Angriff mit Massenvernichtungswaffen – chemisch, biologisch oder nuklear – auf russisches Territorium.
- ein überwältigender konventioneller Angriff, der die Existenz des russischen Staates gemäss eines Tom-Clancy-Western-Fiction, selbst bedroht hätte: Die US-Armee marschierte gegen Moskau vor, wozu die USA offensichtlich nicht in der Lage wären. In einem solchen Szenario müsste es erst alle seine Streitkräfte aus der ganzen Welt zusammenziehen.
- kleinere Angriffe auf die russische Infrastruktur, welche der nuklearen Früh-Erkennung dienten. Solch Angriffe hat das Kiewer Regime übrigens schon vor den Änderungen der russischen Nuklear-Einsatz-Doktrin ausführen lassen.
Wir haben Drohnenangriffe auf russische Radareinheiten erlebt – eine ganze Reihe solcher Angriffe. Die [neue russische Nuklear-] Strategie zielt letztlich darauf ab, die NATO davon abzuhalten, sich direkt in den Konflikt einzumischen. Es geht dabei im Wesentlichen darum, starke NATO-Luftstreitkräfte einzusetzen oder NATO-Truppen in der Ukraine stationieren zu lassen. Das ist es, wogegen sich die Änderungen in der russischen Nuklearwaffendoktrin zumindest kurzfristig richten und war der Grund für die Änderungen.
Bezüglich einiger Änderungen habe ich Bedenken – einige sind vernünftig, aber sie stellen definitiv eine lockerere und expansivere [nukleare] Einsatzdoktrin dar. Die wichtigsten neuen Punkte sind:
- Die Doktrin erweitert offiziell den nuklearen Schutzschirm Russlands über Weißrussland. Jede Bedrohung der Souveränität oder territorialen Integrität Weißrusslands erlaubt Russland den Einsatz von Atomwaffen.
- Jeder vermeintliche Angriff, was nicht ganz klar ist – durch Dritte mit Unterstützung eines Nuklearstaates wird als Angriff jenes Nuklearstaates erachtet.
Lassen Sie uns zu diesem Fall ein Szenario durchspielen: Das Kiewer Regime baute eine schmutzige Bombe oder führte aus Verzweiflung in seinen letzten Stunden einen größeren chemischen oder biologischen Angriff durch. Falls dies – gemäss russischer Wahrnehmung – mit Unterstützung – auf welcher Ebene auch immer – durch die USA oder Großbritannien geschähen wäre, würde Russland dies als einen Angriff dieser Mächte auf sein Land mit einer Massenvernichtungswaffe (MVW) betrachten.
- Der dritte wichtige Punkt ist sehr vage gehalten – vielleicht mit Absicht – aber ich halte das für gefährlich, zumal es um eine Nuklearwaffen-Einsatzdoktrin geht: Demnach bestünde eine weitere Erlaubnis für eine nukleare Reaktion, falls ein Gegner einen massiven Drohnen- oder Raketenangriff auf Russland durchführte. Dann behält sich Russland das Recht vor, selbst wenn dieser Angriff nicht nuklear ausfiele!
Meine Frage dazu lautet: Was versteht man unter „Massenangriff“? Was bedeutet das, denn wir haben bereits gesehen, wonach das Kiewer Regime – sogar nach dieser Ankündigung – 200 Drohnenangriffe auf russisches Territorium gestartet hat. War das ein Massenangriff? Ich weiß es nicht. Für mich sieht das jedenfalls nach einem Massenangriff aus. Aufgrund der russischen Luftabwehr und elektronischen Kriegsführung hat dieser Angriff nicht wirklich Schaden angerichtet. Offensichtlich hat Russland darauf nicht mit einem Atomschlag gegen die Ukraine reagiert und wird dies wahrscheinlich auch nicht tun. Das stellt natürlich die Glaubwürdigkeit in Frage – das ist subjektiv. Putin und seine Generäle entscheiden, was „Massenangriff“ und was „bedeutend“ darstellte.
Doch, letztendlich sollen dies abschreckende Maßnahmen sein. All diese Maßnahmen innerhalb dieser Doktrin – sind jetzt lockerer, expansiver – und sollen den Westen abschrecken. Ich denke, es ist zu einem gewissen Grad ein Bluff! Der Westen glaubt wiederum nicht, dass Russland diese Waffen einsetzen werde! Sie haben keine Angst – sie haben keine Angst vor gegenseitiger Vernichtung [MAD – Mutually Assured Destruction], wie sie noch während des Kalten Krieges bestand. Natürlich ist das äußerst gefährlich.
Aber sie zählen weiter darauf, dass Putin ein vorsichtiger, pragmatischer, berechnender, rationaler Mensch wäre. Sie selbst fühlen sich frei, dies nicht zu sein. Sie fühlen sich frei, zu eskalieren und zu schüren und immer weiter zu schüren. Das ist schön und gut. Sie können es einen Bluff nennen, bis sie es nicht mehr können: Doch, das wäre der Knackpunkt! Wussten sie es? Wissen wir es? Ich weiß es nicht!
Das bringt uns alle in eine äußerst prekäre Lage:
Ich hoffe, dass diese letztlich weltweit selbstmörderischen Provokationen der Biden-Administration, des Vereinigten Königreichs und bestimmter anderer Länder Europas mit dem Amtsantritt der neuen US-Administration enden.
Denn wir befinden uns buchstäblich in einer Situation, die in vielerlei Hinsicht schlimmer als die Kubakrise ist:
Die USA und Großbritannien haben gerade ballistische Raketen auf Russland abgefeuert. Aber in den westlichen Medien fehlt die Einsicht, den Ernst der Lage darzustellen!
Danny Haiphong: Es hat sich fast normalisiert, Mark! Es ist fast normal – die neue Normalität – richtig! Das haben wir während der CoV-Pandemie oft gehört, aber meiner Meinung nach ist das die echte neue Normalität, aber fahren Sie fort …
Mark Sleboda: Ja, Sie haben recht – genau das ist es! Es ist beängstigend – nicht nur, weil ich in Russland lebe, sondern es ist beängstigend für mich, wenn ich an meine Familienmitglieder denke, die ich immer noch in den Vereinigten Staaten habe. Denn unsere ganze Generation wurde darauf nicht eingestellt – sie hat kein Verständnis für die Gefahren eines nuklearen Konflikts mehr. Das ist eine direkte Folge dieses unipolaren Moments:
Das [überschwängliche] Feiern des Sieges im Kalten Krieg mit dem Narrativ aus Perspektive der USA nach Selbstauflösung der Sowjetunion und den Jahrzehnten seither, in denen die USA die Welt umspannten – und völlig ungestraft tun und lassen konnten, was sie wollten, wobei die USA [inzwischen] dieses Recht eingebüsst haben.
Sie haben keinen Respekt und keine Angst mehr vor der gegnerischen Seite und glauben ihr nicht einmal mehr. Sie sagen nur: „Oh, seht Euch Putin an. Er ist so schwach und verzweifelt. Er schwingt schon wieder nur mit seiner Atomkeule, ha-ha-ha…!“
Danny Haiphong: Das ist es oder man macht uns Angst vor den falschen Dingen: Uns wird gesagt, dass wir uns vor den falschen Dingen fürchten sollen, vor Russland statt vor den Eskalationen – aber sprechen Sie weiter – sorry!
Mark Sleboda: Ja, also jedenfalls können wir hoffen, dass ein gewisses Maß an Vernunft wiederhergestellt würde, nachdem Biden die Bühne verlassen haben wird. Doch die Tatsache, dass ich sage, zumal die Hoffnung «Trump-Administration» nur so vor Neokonservativen strotzt, deshalb mache ich mir keine Hoffnung. Wissen Sie, ich gehe vom schlimmsten Fall aus, doch lasse mich [nachfolgend] von Fakten aus dieser schlimmsten Position heraus selektiv [positiv] überraschen. Und ja, das macht mich zu einem absolut elenden Menschen, der ständig deprimiert ist oder so ähnlich. Aber es hat mir bei [meinen] Analysen wirklich gute Dienste geleistet!
Ich werde also selten unangenehm überrascht: Ich erlebe lediglich sehr kleine angenehme Überraschungen – das ist schon etwas!
Ich kann keinen Frieden erkennen und wenn ich mir die Nachrichten aus dem Nahen Osten ansehe – wissen Sie – einige der Dinge, die ich gehört habe: Ich glaube auch nicht an den Frieden dort:
Denn anscheinend diskutiert Israel jetzt zumindest offen über die Annexion des gesamten Westjordanlandes und der Internationale Strafgerichtshof hat endlich Haftbefehle gegen Netanyahu und Galant erlassen, was Israel und die USA – ob unter Biden oder Trump ganz einerlei – in Bezug auf Eskalation in dieser Region mit ziemlicher Sicherheit noch wahnsinniger, als sie es ohnehin schon sind, wird agieren lassen.
Danny Haiphong: … und Sie haben Mike Huckabee, der als Botschafter nach Israel kommt und buchstäblich glaubt, dass das gesamte Westjordanland und darüber hinaus, Israel gehörte.
Mark Sleboda: Es gibt zumindest keine palästinensische Nation oder ein palästinensisches Volk – er will nicht glauben, dass es das gibt! Alles, was ich dazu sagen kann, ist: „Anschnallen, Leute!“ Denn es wird mit ziemlicher Sicherheit vielmehr rauer werden als dass uns eine reibungslose Fahrt erwarten werde.
Danny Haiphong: Falls Sie noch ein paar Minuten Zeit haben, Mark – vor dem nächsten Gast, wollte ich Sie noch fragen:
Das Pentagon hat sich ebenfalls direkt geoutet, nachdem Wladimir Putin und Russland ihre [neue] Nukleardoktrin angekündigt hatten. Das Pentagon sagte, dass die Atomwaffen in den Vereinigten Staaten ausschließlich der Abschreckung dienten, doch sie ein Regime aufrechterhalten müssten, welches eine solche Abschreckung sicherstelle.
Sie wären bereit, wenn nötig, Atomwaffen einzusetzen, da es keine echte Waffenkontrolle, keine Rüstungskontrolle in Bezug auf Atomwaffen mit den Vereinigten Staaten mehr gäbe.
Das ist schwer [nachzuvollziehen], wenn wir uns die Nukleardoktrin Russlands ansehen – es wird sehr klar, dass die Vereinigten Staaten nicht so weit sind. Was ist Ihr Eindruck – in den wenigen Minuten, die uns noch bleiben – was ist Ihr Eindruck bezüglich dieser Aussagen [des Pentagons]?
Mark Sleboda: Ja, das ist deren Antwort auf die russische Nuklearwaffendoktrin: „Macht uns die Freude – wir sind bereit, sie einzusetzen!“ Das ist im Grunde das, was sie sagen wollen! Sie haben Recht, es gibt zwischen Russland und den Vereinigten Staaten keine nukleare Abrüstungskontrolle oder Kontrollarchitektur, wie aus der Zeit des Kalten Krieges mehr.
Weil die Beziehungen unter ihnen so schlecht sind und weil wir jetzt in einer Welt mit mehreren Atommächten leben, ist es im Moment unmöglich, sich vorzustellen, dass in den nächsten Jahrzehnten eine neue Architektur entstehen könnte, um solche Impulse zu kontrollieren oder abzuschwächen! Ganz zu schweigen von notwendigen Erweiterungen, um Dinge wie KI, Hyperschallraketen mit ihren [Mehrfach-] Atomsprengköpfen und all diese anderen Dinge, die alle die Reaktionszeit erheblich verkürzen oder entsprechend reduzieren, miteinzubeziehen:
Das alles bringt uns näher, als je zuvor zur Mitternachtsstunde der nuklearen Uhr!
Zuletzt gab es drei Jahrzehnte – während denen wir es geschafft hatten, die
Gefahr zu vergessen, dass die Menschheit sich selbst auslöschen könnte, indem sie eine Art Völkermord oder Selbstmord der gesamten Menschheit beginge.
Wir müssen diese Angst in uns allen unbedingt wiederherstellen! Aber der Westen scheint entschlossen, seine Hegemonie um jeden Preis aufrechtzuerhalten. Ob das nun die Ausweitung auf die Ukraine, Taiwan oder den Iran betrifft – gleichzeitig kämpfen sie an gegen alle drei großen potenziellen Widerstände, die ihrer Hegemonie entgegenstehen. Das erscheint mir geisteskrank – es scheint eher ideologisch getrieben zu sein, als dass es eine realistische Strategie, wie „teile und herrsche“ oder „ein Feind nach dem anderen“ oder so etwas gäbe:
Meiner Meinung nach ist das alles sehr, sehr dumm, aber auch sehr beängstigend und wir hätten heute unter den Atommächten ein gesundes Gefühl von Angst und Respekt wiederherzustellen: Ganz zu schweigen von anderen Massenvernichtungswaffen – auch da fehlt es und das ist äußerst besorgniserregend!
Das sollte uns eigentlich über die ganze Nacht wachhalten!
Danny Haiphong: Mark, vielen Dank, dass Sie bei mir waren!
Mark Sleboda: Danny, danke, dass ich dabei sein durfte!
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Übersetzung und Transkript-Erstellung: UNSER MITTELEUROPA
Teil 1 erschien: Hier
Teil 2 erschien: Hier
Das ganze Interview als Video auf Englisch via Danny Haiphong: Hier
Das ganze Interview als Video auf Englisch via Mark Sleboda: Hier
Von unserer Redaktion ‚Zeitgeschichte und Globalpolitik‘.
UNSER MITTELEUROPA + kritisch + unabhängig + unparteiisch +
UNSER-MITTELEUROPA-Beiträge unter «Zeitgeschichte und Globalpolitik» mögen deutschsprachigen Lesern wie auch Historikern als ergänzende Zeitdokumente dienen, nachdem die gängige Massenberichterstattung im deutschen Sprachraum zu politischen Themen oftmals von Tendenzen einer mehr oder weniger lückenhaften Darstellung, wenn nicht immer stärker werdenden Zensurbestrebungen geprägt ist.
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