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Wie die Meinungsfreiheit in die Welt kam 
und wie sie wieder verschwand!

 Von FRITZ ERIK HOEVELS | Mit der Unterdrückung von COMPACT – und der Beraubung, Erniedrigung und Mißhandlung seiner Betreiber und mutmaßlichen Betreiber – d.h. der einzigen einigermaßen auf Resonanz stoßenden Oppositionszeitung ihres Sprachgebiets, hat sich der deutsche, seit 1990 großwestdeutsche Staat endgültig von der Rechtsstaatlichkeit losgesagt. Welche Sophismen er dazu von seinen nur zu diesem Zweck aufgebauten und bezahlten Karlsruher Orakelpriestern bzw. nachgeordneten Instanzen absondern ließ, wurde aus kundiger Feder in der vorletzten Nummer dieses Periodikums klar und ausführlich dargestellt.

Die Pressefreiheit, welche von der Verfassung, haha, »garantiert« wird, soll restloser Willkür von bloßen Regierungsorganen weichen, weil einerseits das Vereinsrecht diesen dazu praktisch beliebigen Spielraum einräumt, andererseits jedes Presseorgan von mehreren Leuten betrieben werden muß, die sich dann als »Verein« deklarieren lassen, womit der Verfassungsartikel des Zensurverbots beseitigt und ignoriert ist, und zwar mit der Erweiterung der Mißachtung auch des aus dem Zensurverbot erst recht folgenden Verbots der präventiven Zensur, d.h. der Zensur von noch nicht Geschriebenem aufgrund der zur prophetischen Tatsachenbehauptung erhobenen Vermutung, es könne den Machthabern sicher auch nicht passen. Als der preußische und mancher ähnliche Staat sich dasselbe gestattete, wurde er mit Recht verachtet; seither ist das staatsbürgerliche Bewußtsein verfallen.

Das ist der richtige Augenblick, um das zu würdigen, was die entwickelte Neuzeit – also die Zeit von der Französischen Revolution bis ziemlich genau 1990, allerdings schon ab 1933 geo-regional durch einen quasi-mittelalterlichen Rückfall bzw. Pioniersvorgriff schwer beeinträchtigt – so viel angenehmer und lebenswerter machte als jede andere Menschheitsepoche. Selbst die klassische Antike mit ihren Demokratien und später der Universität von Alexandria, das alte Indien vor seinem Rückfall in den sogenannten Hinduїsmus, die Kalifenreiche bis zu ihrem Kippen in die Finsternis des religiösen Despotismus, für den der Name al-Ghazali steht, ja nicht einmal das hochentwickelte kaiserliche China, die allesamt kulturell, geistig und technisch höher standen als unser frühes und unser hohes Mittelalter, hatten diese entscheidende Kurve nie »gekratzt«, sondern waren nach verheißungsvollen Anfängen zurückgeplumpst in eine ohne äußere Aufbrechung wohl ewige Stagnation.

Umgekehrt entwickelt in Westeuropa schon die früheste, durch den Massenterror der Ketzer- und Hexenprozesse gekennzeichnete Neuzeit (d.h. den blutigen Terror gegen die besten, aber anders als zuvor und anderswo ein Echo findenden besten Geister derselben) ein eben diesen Terror negierendes Programm der Meinungsfreiheit. Dieses nimmt, weil die Religion das grundlegende, fast einzige ideologische Medium nicht nur Europas war, die Form des Programms der Religionsfreiheit an, egal wie eingeschränkt diese zunächst auftreten mußte; aber das »Toleranz­edikt« Heinrichs IV. war im Gegensatz zu dem falschen konstantinischen, das man nur nachträglich und irreführend ebenfalls so benannte, ehrlich gemeint und leitete über den historischen Trittstein der Französischen Revolution bzw. der mit dieser verbundenen Judenemanzipation, ihrem Prüfstein, den Weg in die volle Religionsfreiheit ein, die für die Neuzeit als Ziel oder Tatsache typisch war und mit ihr wieder untergeht. Denn ohne Schutz der öffentlichen Debatte vor Gewalt[1] ist Volks- statt Klassenherrschaft nicht möglich, weil erstere nur aus der Befolgung der Ergebnisse allgemeiner Abstimmungen bestehen kann; dazu darf die Diskussion über deren Gegenstände nicht beeinträchtigt werden, weil die Gesamtheit der nötigen Argumente sowie der Sachverhalte, um die es gehen soll, der erdrückenden Mehrheit der Betroffenen normalerweise unbekannt sind und nur in freier, d.h. unbedrohter öffentlicher Diskussion überhaupt bekannt werden können. Alle angestrebten oder sogar beschlossenen neuzeitlichen Verfassungen bzw. deren Vorkämpfer (wie z.B. Rousseau) verfolgten im Kern ausschließlich dieses Ziel.

Die unmittelbare Grundlage jeder Herrschaft (außer der bedingungslosen Selbstherrschaft des Volkes [= »Demokratie«]) ist die Behinderung der Kommunikation besagten Volkes. (Dazu kommt dann die Auswahl und Standardisierung der Inhalte jener Kommunikation, die von den Inhabern der Herrschaft selber kontrolliert und reguliert wird, z.B. durch Suggestionsapparate wie Priesterschaften, Akademien oder gedruckte resp. elektronische Massenmedien; die angemessene Kritik dieser Inhalte bedürfte einer ähnlich elaborierten Organisation wie deren von besagten Suggestionsapparaten geleistete Standardisierung und Ausbreitung, an deren ebensolcher Kritik das Volk durch den Gewalt­apparat der Herrschenden gehindert bzw. beim Aufbau eines geeigneten Gegenapparates behindert wird; mit der Behinderung der innerparteilichen Kommunikation unter dem Vorwand, sie diene der »Fraktionsbildung«, fing übrigens auch der Stalinismus und damit die Perversion und Erdrosselung der Russischen Revolution an.) Zur Durchführung dieser Behinderung horizontaler (statt einseitig vertikaler) Kommunikation sind Bewaffnete nötig. (Bei Stalin genügten zunächst Schläger mit Trillerpfeifen.)

Deren Unterhalt müssen die Herrschenden (und durch ihre Herrschaft zur eigenen Vorteilsnahme Befähigten) bestreiten oder dies für eine nahe Zukunft glaubhaft versprechen können; zugleich müssen sie besagte Bewaffnete zur Erfüllung der ihnen gestellten Aufgabe motivieren, d.h. ihnen ein – z.B. durch Befreiung von produktiver Arbeit sowie soziale Sicherheit – angenehmeres Leben als ihren potentiellen oder aktuellen Opfern verschaffen können. Das gelingt den Herrschenden, seit es überhaupt eine Produktion gibt, durch Inbesitznahme des Mehrprodukts2 (oder eines großen Teils davon) der Beherrschten, welches sie dann an ihre Apparate weiterverteilen können, gewöhnlich unter Einbehaltung eines gewissen bis spürbaren Teils für die Verbesserung ihres eigenen Lebens durch dafür geeignete Güter und Dienste. Dies – in Gestalt ihrer »Ideologielehre« – erkannt zu haben, ist die wohl größte wissenschaftliche Leistung von Marx und Engels (neben ihrer Ausweitung der Ricardo’schen Wertlehre auf die Arbeitskraft). Sie konnte ihnen bei den gesellschaftlichen Vorteilsnehmern und deren durch alle personellen Selektionsengpässe gelangten Mundstücke keine Sympathien eintragen, was nicht gerade verwundern sollte. […]

[1] Dieser Schutz äußert sich staatlich in der Bestrafung von Gewalttätern, die Teilnehmer an Versammlungen zusammenschlagen, töten oder zu töten versuchen, wie z.B. den als Schwerbehinderter überlebenden Andreas Ziegler; selbst die Weimarer Republik gewährte ihn noch widerwillig, Großwestdeutschland faktisch nicht mehr, da seine Justiz oder Polizei die Täter nie „findet“.

[2] „Mehrprodukt“ ist die u.a. von Marx benutzte Übersetzung des halbenglischen Wortes surplus produce, deutsch annähernd auch als „Überschüsse“ wiedergegeben. Es handelt sich um jenen Teil des Produzierten, den man jenen, die es produziert haben, wegnehmen kann, ohne sie dadurch im Durchschnitt produktions- und reproduktionsunfähig zu machen. Die Besonderheit des Kapitalismus im Gegensatz zu Sklavenhaltung, Feudalismus, Tributeinzug usw. besteht darin, daß das Mehrprodukt in ihm die Form des Mehrwerts (surplus value bei Ricardo) annimmt (bzw. annahm, bevor der Kapitalismus vom Monopolismus abgelöst wurde). Selbstverständlich kann sich auch eine freie und aufgeklärte Gesellschaft, in der niemand das Kommando über das volle Produkt seiner Arbeit aufgibt, mehrheitlich dazu entschließen, einen Teil seines Mehrprodukts für unproduktive, aber nützliche Zwecke zu verwenden, z.B. Medizin oder Denkmalschutz, und sein besagtes Kommando auch in dieser Art ausüben, statt es zu verlieren; nichts anderes schwebte Marx, Engels und Lenin vor.

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ISSN 0930-0503 / ISBN 978-3-89484-313-7

Im Abonnement (6 Hefte) € 33,30 inkl. Versandkosten

Inhalt

  • Wie die Meinungsfreiheit in die Welt kam und wie sie aus ihr wieder verschwand
    von Fritz Erik Hoevels
  • Was ist los in Rumänien? Teil 2
    von Beate Skalée & Michail Rodinescu
  • Gegen Hetze und Gewalt 20,8 % für die AfD! (Wenn`s nicht mehr waren…)
    von Kerstin Steinbach & Beate Skalée
  • Letzte Meldung: Verrat am Wähler: Merz‘ Staatsstreich
    von Max Roth
  • Schon wieder deutsche Wertarbeit: Was Orwell fürchtete, ist jetzt eingetreten
  • Zensur gegen den AHRIMAN-Verlag
  • Flugblatt: Warum wollen Europas lokale Machthaber um jeden Preis Krieg?
  • Schandurteil gegen Stadträtin Dela Schmidt – ein Schlag gegen die Versammlungsfreiheit
    von Joachim Füseter


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Von Redaktion

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