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Bild: Gábor Vona

Im europäischen Kulturkreis ist die Vorstellung, daß Geschichte als Entwicklung zu begreifen ist, fast zu einem Gemeinplatz geworden: Der Fortschrittsglaube ist das Apriori der modernen Menschheit.

Natürlich ließe sich hier sofort die gegenteilige Auffassung ins Feld führen, die auf der Beobachtung fußt, daß in Buchhandlungen die Krisenliteratur einen immer größeren Raum einnimmt, ja mehr noch, daß bereits im Laufe des Triumphzugs des wissenschaftlich-geschichtlichen Progressivismus im 19. und 20. Jahrhundert Gegenentwürfe wie jene Spenglers, Nietzsches oder gar Freuds Das Unbehagen in der Kultur erschienen sind. Berufen könnten wir uns auch auf die großen globalisierungskritischen, umweltschützerischen Bewegungen, die nicht müde werden, unserer Welt ihr bevorstehendes dunkles Ende auszumalen. Nur allzu wahr ist auch, daß der Mensch heute seinen Platz nur mit Mühe findet, daß ihn inmitten des Gedröhns der technischen Zivilisation ein eigentümliches, immer wieder aus der Tiefe aufbrechendes Mißtrauen erfüllt – und doch: Trotz dieses (übrigens gänzlich angemessenen) Gefühls stellen wir fest, Fortschritt ist im Credo der modernen Welt ein, wenn nicht das hartnäckigste Dogma. Trotz allen Krisenbewußtseins, aller Intuition und rationaler Begründung hinsichtlich der Dekadenz der Menschheit lebt vom einfach gestrickten Massenmenschen bis hin zum großen Denker in jedem der Blütentraum einer sich entwickelnden Welt und ihrer Geschichte. Alle bösen Dinge, die wir erleben, sind in dieser Perspektive bloß vorläufige Gegebenheiten, über die wir uns mit dem Fortschreiten der Zeit hinausschwingen, um schließlich die glückliche Vollendung der Geschichte zu erreichen. Obgleich ein jeder unter dieser »Vollendung« etwas anderes versteht, sind sie alle: der gläubige Christ, der forschende Wissenschaftler, der philosophierende Humanist, der Mann auf der Straße, von dieser progressistischen Idee wie verhext. Fast alle. Allein schon dieses breite Einvernehmen sollte uns progressistischen Einflüsterungen gegenüber mißtrauisch machen. Die universelle Überlieferung lehrt uns nämlich genau das Gegenteil: den Niedergang der menschlichen Geschichte.

Freilich hängt nun die Vertiefung dieser Feststellung nicht von der Menge unserer Lektüren oder von äußeren Anstrengungen ab. Zur Lösung des Dilemmas um Fortschritt und Niedergang ist eine Bewußtseinsänderung vonnöten. Das Wesentliche dieses Niveaudurchbruchs kann von verschiedenen Gesichtswinkeln aus betrachtet werden – in unserem Fall läßt es sich wohl am sinnvollsten folgendermaßen formulieren: Statt der materialistischen Anschauung des Seins müssen wir uns die geistig-aristokratische Annäherung an das Sein zu eigen machen. Nehmen wir diesen aristokratischen Standpunkt ein, kompromittieren sich die modernistischen Einflüsse wie von selbst und werden wertlos. Plötzlich wird uns bewußt, daß die liberale Geschichtsschreibung in diabolischer Weise allein schon durch das Monopol der Namensgebung den Ausgang des Streits für sich entschieden hat und die Menschheit in ihren hypnotischen Bann schlägt. Wenn wir die Abfolge der geschichtlichen Ereignisse nach dem Ende des – aus traditionalem Blickwinkel – durchaus positiv einzuschätzenden europäischen Mittelalters betrachten, bemerken wir, daß die moderne Geschichtsschreibung die dunklen Vorgänge des Niedergangs, die wichtigen Stationen der stetig schwächer werdenden Verbindung zum Sein, eindeutig positiv bewertet. Dies ist schon an sich ein beredtes Zeugnis, da sich diese Wissenschaft, die auf das Kriterium ihrer Objektivität so große Stücke hält, hier mitnichten zurückhaltend geäußert hat: mit größter Dreistigkeit hat sie auch geschichtliche Ereignisse mit überschwenglichem Lob bedacht, die ihren eigenen Regeln und Grundsätzen gemäß fragwürdig sein dürften.

Betrachten wir schlaglichtartig einige Stichwörter zur Geschichte der Neuzeit: Humanismus, Renaissance, Reformation, die großen geographischen Entdeckungen, Aufklärung, Französische Revolution, Liberalismus, Industrielle Revolution, den Siegeszug der wissenschaftlichen Weltanschauung, den demokratischen Wandel, den Kampf gegen den Terrorismus. Angesichts von so viel »Schönheit« und »Größe«, die wir Okzidentalen in den vergangenen Jahrhunderten auf den Gabentisch der Welt niederzulegen imstande waren, könnte man triumphieren. Vom traditionalen Standpunkt aus in Augenschein genommen, benennen diese Stichworte in ihrer Suggestivkraft jedoch gerade gegenläufige Tendenzen. Und hier möchte ich nicht das triviale Gegenargument bemühen, demzufolge dieser angebliche Fortschritt viel Leid, Krieg und Tod über die Menschheit gebracht hat, ja ich spiele nicht einmal auf die wahrscheinliche ökologische Katastrophe an: All dies könnte den Fortschritt noch nicht in Frage stellen, sondern würde nur bedeuten, daß man für ihn leider einen hohen Preis zu entrichten hat. Ein denkender Mensch kommt jedoch nicht umhin, den Qualitätsverfall zu bemerken, der sich sowohl individuell als auch gesellschaftlich während dieses neuzeitlichen »Fortschritts« abzeichnet. Denn was von außen betrachtet als Siegeszug der Freiheit inszeniert wird, ist in Wahrheit die Schritt um Schritt erfolgende Entfremdung des Menschen von sich selbst und der Welt. Der Mensch riß sich aus der Welt heraus, oder andersherum: die Welt wurde aus dem Menschen herausgerissen, und jetzt versuchen wir Harmonie und Glückseligkeit einstiger Einheit wiederherzustellen, indem wir diese uns äußerlich gewordene, entfremdete Welt unterjochen, sie zurückstopfen, konsumieren, aufessen, mit anderen Worten: mit äußeren – auf jeden Fall zum Scheitern verurteilten – Methoden ein in Wirklichkeit inneres Problem angehen. Mit der Aufgabe unserer inneren Freiheit haben wir mitnichten eine äußere gewonnen; nur eine groteske Parodie derselben wurde uns zuteil, die in gewisser Hinsicht sogar schlimmer ist als Sklaverei, da die Mehrzahl der Menschen unfähig ist, die eigene ontologische Lage zu begreifen. Der klassische Sklave weiß immerhin, daß er Sklave ist. Der moderne Mensch hingegen: der geistige Sklave, glaubt frei zu sein, weil er, hat er nur genug Geld, alles kaufen kann.

Wenn wir Epochen und Ideengebäude unter die Lupe nehmen, leugnen wir keineswegs, daß sie sehr wohl positive Aspekte, Erkenntnisse, Akteure und Werke hervorzubringen vermochten. Betrachten wir nun die oben angeführte Auflistung unter diesem Gesichtspunkt, ist es an der Zeit, der Geschichte der Neuzeit den ihr gebührenden Platz zuzuweisen. Der Humanismus ist nichts weiter als ein Anthropozentrismus, der, im Maskenkostüm der Wiederentdeckung antiker Kultur auftretend, letztere jedoch weitgehend mißverstehend und verfehlend, den Menschen gerade um sein ursprüngliches und wahres Zentrum gebracht hat. In der Hierarchie der Seinskategorien stiftete er ein unverzeihliches, diabolisches Durcheinander, als er an die Stelle des Unsterblichen das Sterbliche setzte. Die mit dem Humanismus eng verquickte Renaissance kann deshalb schwerlich als »Wiedergeburt« bezeichnet werden. Vielmehr nimmt mit ihr Siechtum und Todeskampf, kurz: der Untergang des Abendlandes ihren Anfang. Den Gestalten, Verfechtern und Anhängern der Reformation ist die gute Absicht zwar großenteils nicht abzusprechen – die Verweltlichung der Katholischen Kirche war eine Tatsache! –, nichtsdestoweniger können wir nach Begutachtung der geschichtlichen Prozesse aus der heutigen Distanz feststellen, daß der Reformation eine maßgebliche Rolle in der Profanierung und Säkularisierung der vom Christentum durchdrungenen Gesellschaft zukommt. Die großen geographischen Entdeckungen, deren Weg physische, seelische und geistige Verheerung begleitete, wurden tatsächlich zum Exportgeschäft des europäischen Seinsverfalls. Die Aufklärung war für unsere von ihren traditionalen Wurzeln bereits weitgehend abgeschnittene Kultur das groteske, von dunklen Kräften angeleitete Experiment, den im Menschen angelegten luziferischen Hochmut zu fördern, die autonome Funktionalität und den Fortschritt um seiner selbst willen zu begründen. Die Französische Revolution ist die Krönung dieser Hybris und zugleich das historische Verbrechen, begangen, um das Königtum als traditionale Staatsform endgültig abzuschaffen und in Verruf zu bringen. Man sperre zehn ausgehungerte Schweine ohne Nahrungszufuhr in einen Koben, und man wird in den zwischen ihnen sich anbahnenden Konflikten Dynamik, Figuren und alle wesentlichen Momente der »großen« Französischen Revolution entdecken können. Der Liberalismus ist die als Befreiung des Menschen getarnte Ideologie, die uns marktschreierisch ein lausiges Tauschgeschäft anbietet: Anstatt der ursprünglichen qualitativen Freiheit nötigt sie uns die Knechtschaft der quantitativen Freiheit auf. Die von Gott geschenkte Freiheit des im Einklang mit der Schöpfung lebenden Menschen tauscht sie gegen die triebhafte Knechtschaft ein, die in der Freiheit steckt, zwischen Gütern wählen zu können. Die Industrielle und technische Revolution bedeutete die Säkularisierung der Arbeit, die Umkehrung der Hierarchie zwischen Mensch und Arbeit, in der ersterer allmählich zu einer statistischen Größe verkommt, das Geschöpf Gottes zur Produktionskraft wird und zum Rohstoff. Der Siegeszug der wissenschaftlichen Weltanschauung ist der Triumph des Szientismus und des Materialismus, in dem die Menschheit den zufälligen Zusammenschluß von Atomen und Molekülen feiert, dem wir angeblich allein unser Dasein zu verdanken haben. Der demokratische Wandel ergibt sich aus dem vollständigen Verlust des Qualitätsanspruchs der Menschen, aus den Irrlehren, die der fehlerhaften Interpretation der Gleichheit entspringen. All der äußere, in Institutionen und Wortgebilden entfaltete Glanz ist letztlich nur der Deckmantel für die Diktatur des ökonomischen Kapitalismus. Der Kampf gegen den Terrorismus schließlich ist die aggressive Strafexpedition, die man zur Ausrottung jener Kulturen begonnen hat, die noch traditionale Elemente enthalten: Der Kampf gegen den Terrorismus ist der Terrorismus selbst.

An dieser Stelle ist freilich anzumerken: Die Tatsache, daß gemäß traditionaler Auffassung die offiziell als positiv bewerteten Prozesse und Ideen in Wirklichkeit einen Niedergang darstellen, berechtigt keineswegs zum Umkehrschluß, daß die von der modernen Geschichtsschreibung als negativ oder gleichgültig eingestuften Elemente für uns gerade deshalb wertvoll wären. Die Gegenreformation beispielsweise ist als Versuch, die Einheit der Katholischen Kirche wiederherzustellen, zunächst zwar durchaus positiv zu bewerten, doch sind ihre Formen und Werkzeuge oft von derselben neuzeitlichen Gesinnung geprägt wie diejenigen der Reformation. In derselben Weise sind die verschiedenen Experimente der Neuzeit, das Königtum zu restaurieren, kaum als traditionale Bemühungen zu verstehen: Man denke nur an die im aufgeklärten Absolutismus angelegte Widersprüchlichkeit! Und weiter: Bei einer gründlichen Analyse kommen wir um die Erkenntnis nicht herum, daß es zwischen Demokratie und Nationalsozialismus mehr ideologische Nähe gibt als zwischen einer jeden dieser beiden modernen Staatsformen und der traditionalen Anschauung. Während die Menschheit in den großen Konflikten vor Beginn der Neuzeit zwischen zwei im Rahmen der Tradition positiv bewerteten Möglichkeiten zu wählen hatte – denken wir bloß an die Zerwürfnisse zwischen Papsttum und Kaisertum –, so sind wir gegenwärtig so tief gesunken, daß es fast gleichgültig ist, wofür wir uns entscheiden: Die Geschichte bietet uns zumeist nur Pseudoalternativen, beispielsweise sozialliberal versus bürgerlich-liberal. Die Geschichte ist, so scheint es, in einem Zerfallsprozeß begriffen, in dessen Verlauf die antitraditionalen Kräfte Schritt für Schritt die traditionalen zurückdrängen.

(Fortsetzung morgen)

 

Quelle:

Vona Gábor: »A modernkori ember politikai tipológiája.«
In: Magyar Hüperión. A jobboldali értelmiség folyóirata I/1 Mai-Juli (2013), S. 18-29.

Übersetzung aus dem Ungarischen von Christa Juliane Nitsch
Zuerst erschienen in Sezession 71· April 2016 · S. 18-24

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