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9. Das Leben im Rollstuhl

Nachdem es mir nach einer Zeit des Bangens und der Ungewissheit gelungen war, erstmals und mit viel Hilfe aus dem Rollstuhl aufzustehen, war ich fest davon überzeugt, dass ich eines Tages auch wieder in der Lage sein würde, zu gehen. Ich wehrte mich dagegen, jene Trainingseinheiten, die der Bewältigung des Alltags mit dem Rollstuhl dienten, zu absolvieren. Von den Physiotherapeuten und den Ärzten wurde mir aber sehr eindringlich klargemacht, dass dieses Rollstuhltraining für meine eigene Mobilität von ganz entscheidender Bedeutung sei.

So fügte ich mich und rollte mehr oder weniger motiviert zur ersten Übungseinheit, die in einer Turnhalle durchgeführt wurde, in der zwei Seile an der Decke befestigt waren. Die beiden Seile wurden hinten am Rollstuhl befestigt und die erste Aufgabe bestand darin, die beiden kleinen Vorderräder des Rollis durch einen Ruck an den Haupträdern nach vorne in die Höhe zu bringen und dann auf den zwei großen Rädern das Gleichgewicht zu halten. So etwas wie ein Wheely also. Uns Greenhorns erschien es zuerst undenkbar, diese Übung jemals zu erlernen. Immer wieder fielen wir in die Seile und immer wieder landete der eine oder andere Kollege am Boden. Verzweiflung macht sich breit.

Doch irgendwie entwickelten wir dann doch ein Gefühl für den eigenen Schwerpunkt im Rollstuhl und nachdem wir es zuerst geschafft hatten, nur ein oder zwei Sekunden im Gleichgewicht zu bleiben, waren wir dann schon in der Lage, längere Zeit auf diesen zwei Rädern balancierend zu verbringen. Wir fühlten uns als echte Rollstuhlartisten und auch jene, die wie ich mit großer Skepsis in dieses Training gegangen waren, hatten ihren Spaß daran.

Und ist es nicht immer so im Leben, dass man echte Freude an jenen Dingen finden kann, die einer gewissen Anstrengung bedurften? Dinge, die man sich erarbeiten musste?

Und so gewöhnten wir uns angesichts dieser Anstrengungen auch an das Leben im Rollstuhl am Weißen Hof. Man war auch in der Lage, die kleineren Hürden des Alltags damit zu überwinden.

Ein kleiner Schock für mich war jedoch der erste Ausflug, den unsere unerbittliche und gefürchtete Konditionstrainerin an einem sonnigen Herbsttag, dem Leopoldifeiertag in Niederösterreich, in Klosterneuburg organisiert hatte. Mit einem VW-Bus wurden wir in die Ortschaft gebracht und genossen dort das bunte Treiben. Während all die anderen Besucher der Festivitäten auf eigenen Beinen und mit hoch erhobenem Kopf über die Straße marschierten, war unsere kleine verwegene Gruppe also mit dem Rollstuhl unterwegs. Und nicht selten wurden wir von dem einen oder anderen Passanten einfach übersehen oder es gelang uns einfach nicht, eine allzu hohe Gehsteigkante zu überwinden. Nur wenige Lokale waren tatsächlich dafür geschaffen, auch Rollstuhlfahrer barrierefrei aufzunehmen und nicht jede Toilettenanlage war geeignet, um tatsächlich auch mit dem Rollstuhl besucht zu werden.

Wenn man selbst einmal das Leben aus der Perspektive eines Rollstuhlfahrers erlebt, erkennt man sehr rasch, wie viele Hürden es im alltäglichen Leben gibt, die ein Rollstuhlfahrer nicht ohne weiteres meistern kann. Viele dieser Hürden sind schier unüberwindbar und man fühlt sich als behinderter Mensch im Rollstuhl allzu oft vom eigentlichen Geschehen und vom Leben rundherum ausgeschlossen. Ich habe in meiner politischen Tätigkeit oft erlebt, dass als Argument für fehlende barrierefreie Maßnahmen angeführt wurde, dass man sich ohnehin helfen lassen könne, um ein Gebäude zu erreichen oder um in diesem unterwegs zu sein. Hier geht man also davon aus, dass es sich bei einem Rollstuhlfahrer grundsätzlich um einen hilfsbedürftigen Menschen handelt, der permanent in Begleitung unterwegs ist. Dass ist natürlich nicht der Fall und daher ist die Politik hier ganz besonders gefordert, alle notwendigen Maßnahmen zu setzen, um Menschen im Rollstuhl echte Inklusion zu ermöglichen. Und es profitieren davon nicht nur behinderte Menschen sondern auch ältere Mitbürger, die nicht mehr in der Lage sind, ihre Beine in jugendlichem Elan zu gebrauchen oder aber auch Mütter und Väter, die mit dem Kinderwagen unterwegs sind. In den meisten Fällen entstehen bei Neubauten kaum höhere Kosten, wenn man sie tatsächlich von Anfang an barrierefrei gestaltet. Lediglich bei Umbauten kann es zu größeren Problemen kommen. Und hier habe ich auch Verständnis dafür, dass nicht jedes alte Gebäude immer und im hundertprozentigen Ausmaß im öffentlichen Raum die gleichen Möglichkeiten bieten kann wie ein Neubau.

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