Bewer­tung und Lehren aus dem jüngsten Konflikt zwischen Israel und der Hamas

Bildquelle: Centro Machiavelli

Von Daniele Scalea

Am 21. Mai wurde der Waffen­still­stand zwischen Israel und der Hamas verkündet, mehr als zwei Wochen nach den ersten Zusam­men­stößen in Sheikh Jerrah, die bald in einen offenen Krieg ausar­teten. Den Unruhen in Ost-Jeru­salem, die durch die Räumung einiger paläs­ti­nen­si­scher Fami­lien verur­sacht wurden, folgten seit dem 10. Mai Rake­ten­an­griffe aus dem Gaza­streifen und Luft­an­griffe aus Israel. Der Waffen­still­stand ermög­licht es, eine erste Bilanz der Krise zu ziehen.

Beginnen wir mit der Klärung der Spieler auf dem Feld. Israel kämpfte nicht nur mit der Hamas, sondern auch mit Harakat al-Jihād al-Islāmi fi Filastīn, bei uns besser bekannt als „Paläs­ti­nen­si­scher Isla­mi­scher Dschihad“. Dies sind die beiden wich­tigsten paläs­ti­nen­si­schen Orga­ni­sa­tionen (zusammen mit der Volks­front zur Befreiung Paläs­tinas), die die Osloer Abkommen abge­lehnt haben. Beide haben eine isla­mis­ti­sche Ideo­logie und sind als Ableger der ägyp­ti­schen Muslim­bru­der­schaft entstanden. Der Isla­mi­sche Dschihad ist die älteste (gegründet 1981), aber die Hamas (gegründet 1988) ist die popu­lärste: Der Isla­mi­sche Dschihad verstand sich als revo­lu­tio­näre Vorhut, die sich in erster Linie dem Terro­rismus verschrieben hat, während die Hamas (ein Akronym für „Isla­mi­sche Wider­stands­be­we­gung“) eine poli­tisch-reli­giöse Massen­be­we­gung ist, die auch den bewaff­neten Kampf praktiziert.

Die Bezie­hung des Isla­mi­schen Dschihad zum Iran besteht seit langem und ist sehr eng: mindes­tens seit 1988, als die Führung der Gruppe aus dem Gaza­streifen vertrieben wurde und im Libanon Zuflucht fand. Seitdem ist Teheran der einzige Waffen­lie­fe­rant für die Orga­ni­sa­tion, der wich­tigste finan­zi­elle Unter­stützer und garan­tiert über die Hisbollah auch logis­ti­sche Unter­stüt­zung und Ausbil­dung. Die Hamas hat ein eher ambi­va­lentes Verhältnis zum Iran: Sie hat immer versucht, sich für eine größere Auto­nomie vom Ausland zu profi­lieren, in den 1990er Jahren erhielt sie den Groß­teil ihrer Finan­zie­rung aus Saudi-Arabien und in jüngerer Zeit hat sie sich wegen des syri­schen Bürger­kriegs von Teheran abge­spalten. Nichts­des­to­trotz haben die Iraner der Hamas geholfen, ihre mili­tä­ri­schen Kräfte zu stärken, haben ihr Geld und Mittel zur Verfü­gung gestellt und tech­ni­sches Know-how weiter­ge­geben. Die Isla­mi­sche Wider­stands­be­we­gung wird auch groß­zügig von Katar unter­stützt (wo ihr oberster Führer nach einem Zwischen­stopp in Istanbul residiert).

Der mili­tä­ri­sche Flügel des Isla­mi­schen Dschihad, Saraya al-Quds („Jeru­salem-Brigaden“), hat etwa 15.000 Mitglieder. Es ist nicht klar, ob sie dem poli­ti­schen Flügel unter­ge­ordnet ist oder umge­kehrt; an ihrer Spitze hat sie einen redu­zierten Mili­tärrat und ist in opera­tive Zellen geglie­dert. Nach Angaben der israe­li­schen Streit­kräfte ist dies Teil ihres ballis­ti­schen Arsenals:

Mörser verschie­dener Kaliber mit einer Reich­weite von 6 km;
Raketen R107 (nord­ko­rea­ni­sche Produk­tion), Reich­weite 8 km;
Selbst­ge­baute Raketen im Kaliber 100 mm, Reich­weite 11–16 km;
Na’fah (auch in Cluster-Version), Reich­weite 12–16 km;
Badr B1, Reich­weite 30 km;
Grad-20 und Grad-40 (russi­sche Produk­tion), Reich­weite 20 bzw. 40 km;
Borak-100, Reich­weite 45 km.

Im Fall der Hamas ist der mili­tä­ri­sche Flügel der poli­ti­schen Spitze unter­ge­ordnet (wobei der eine im Ausland von Ismail Haniyeh und der andere in Gaza von Yahya Sinwar verkör­pert wird), aber es muss gesagt werden, dass die Orga­ni­sa­tion eher wie ein Netz­werk als wie eine hier­ar­chi­sche Struktur erscheint. In Gaza befinden sich die inneren Sicher­heits­dienste und der eigent­liche mili­tä­ri­sche Flügel, die Katāʾib al-shahīd ʿIzz al-Dīn al-Qassām („Brigaden des Märty­rers Izz al-Din al-Qassam“), die von Mohammed Deif ange­führt werden. Die Zahl der Agenten wird auf 20–30.000 geschätzt, verteilt auf fünf Brigaden, die von Süden nach Norden einge­setzt werden: Rafah, Khan Yunis, Central Fields, Gaza und North Gaza. Die al-Qassam-Brigaden verfügen über ein ausge­dehntes Netz von unter­ir­di­schen Tunneln, die Kommandos, Beob­ach­tungs­posten und Einheiten verbinden und unter zivilen Gebieten hindurch­führen. Es gibt ein Mari­ne­kom­mando, die Luft­waffe und den Apparat, der das ballis­ti­sche Arsenal verwaltet, das nach Angaben des israe­li­schen FF.AA. haupt­säch­lich besteht aus:

Mörser, Grad-20, Grad-40, R107 auch an den Isla­mi­schen Dschihad geliefert;
Q‑18, Kaliber 155 mm, 20 km Reichweite;
Q‑40, 25 kg Spreng­kopf, 40 km Reichweite;
S‑40, Kaliber 203 mm, Reich­weite 40–45 km;
M‑75, 35 kg Spreng­kopf, Reich­weite 50–70 km;
SH‑1, 120 kg Spreng­kopf, Reich­weite 50–70 km;
S‑55, 46 kg Spreng­kopf, 55 km Reichweite;
SH-85, Kaliber 305 mm, Reich­weite 85 km;
Short‑A, Kaliber 254 mm, Reich­weite 120 km.

Neben den zahl­rei­chen Raketen aus lokaler Produk­tion verfügt die Hamas auch über impor­tierte Raketen: insbe­son­dere die Fajr‑3 und Fajr 5 (Reich­weite 43 bzw. 75 km) aus irani­scher Produk­tion sowie die M302 aus syri­scher Produk­tion mit einer Reich­weite von 180 km.

Wenn man bedenkt, dass Israel von Norden nach Süden 424 km misst und dass seine terri­to­riale Breite von Westen nach Osten von einem Maximum von 114 km bis zu einem Minimum von 15 km reicht, ist es klar, dass die Bedro­hung durch paläs­ti­nen­si­sche Raketen sehr real und spürbar ist. Aus diesem Grund hat Israel den Iron Dome entwi­ckelt, der seit 2011 einsatz­be­reit ist, ein Flug­ab­wehr­waf­fen­system zum Abfangen und Zerstören von Kurz­stre­cken­ra­keten und Artil­le­rie­feuer. Hamas und Isla­mi­scher Dschihad haben Israels Rake­ten­ab­wehr auf die Probe gestellt, nicht nur durch das Expe­ri­men­tieren mit neuen Raketen (keine Präzi­si­ons­ra­keten) und Angriffs­drohnen (Iron Dome schoss sein erstes fern­ge­steu­ertes Flug­gerät ab), sondern auch durch die Belas­tung mit einer noch nie dage­we­senen Anzahl von Abschüssen. Die von den Paläs­ti­nen­sern ange­wandte Taktik zielte darauf ab, das Vertei­di­gungs­system zu voll auszu­lasten, indem sie gleich­zeitig eine große Anzahl von Raketen (bis zu 100) mit verschie­denen Abschuss­win­keln abfeu­erten und dabei auch auf abge­senkte Flug­bahnen zurück­griffen (sie sind nied­riger und daher schneller und dienen dazu, die Vertei­di­gungs­an­lagen zu umgehen, auch wenn das Nutz­last­ge­wicht der Rakete geringer ist). Die Hamas hat eine bemer­kens­werte Angriffs­ka­pa­zität gezeigt, vor allem auf der quan­ti­ta­tiven Seite: Wenn sie 2014 in 51 Tagen des Konflikts 3393 Raketen auf Israel abge­feuert hat, hat sie in diesem Jahr in nur 11 Tagen bereits mehr als 4300 auf feind­li­ches Gebiet verschossen. Iron Dome schaffte es dennoch, 90 % der Raketen abzu­fangen, die die Grenze über­schritten. Die Abfang­jäger, die pro Stück 40.000 Dollar kosten, sind teurer als die Raketen, die sie abfangen, aber der Schaden, den Israel bei seinen Gegen­an­griffen verur­sa­chen kann, muss in der Bilanz abge­wogen werden. Mit seinen Luft­an­griffen hat Jeru­salem feind­liche Komman­deure, Tunnel, Waffen­lager und Rake­ten­werfer elimi­niert. Die von der israe­li­schen Luft­waffe in 12 Tagen getrof­fenen Ziele beliefen sich auf insge­samt 1.500: In den gesamten 2020er Jahren waren es indes nur 180 Ziele der Hamas und des Isla­mi­schen Dschihad, die getroffen wurden. Israel verei­telte auch den feind­li­chen Plan, Spezi­al­truppen der Nakba-Einheit durch unter­ir­di­sche Tunnel zu infil­trieren: Die Tunnel wurden prompt bombar­diert und zerstört. Ein Versuch, Israel mit Komman­do­tau­chern und Unter­was­ser­drohnen zu über­ra­schen, schei­terte ebenfalls.

Der mili­tä­ri­sche Erfolg Israels bedeutet nicht per se, dass der kurze Konflikt auch ein stra­te­gi­scher und poli­ti­scher Sieg war. Hat die Opera­tion „Wächter der Mauern“ (der Name, den die israe­li­sche Seite der Konfron­ta­tion gegeben hat) die Sicher­heit Israels erhöht und dauer­hafte Ruhe entlang des Gaza­strei­fens geschaffen? Oberst Hanan Shai für das BESA Center argu­men­tiert, dass der vermeint­liche Sieg den Status quo ante bezüg­lich Israels Frieden und Sicher­heit nicht verän­dert hat. Er führt dieses Schei­tern auf die unvoll­stän­dige doktri­näre Revo­lu­tion zurück, die in den israe­li­schen Streit­kräften unter dem derzei­tigen Gene­ral­stabs­chef, Gene­ral­leut­nant Aviv Kochavi, einge­leitet wurde; eine Revo­lu­tion, die in der Über­win­dung der Doktrin der Abschre­ckung (Immo­bi­li­sie­rung der gegne­ri­schen Kampf­fä­hig­keit) und der Rück­kehr zur Doktrin des Sieges (Zerstö­rung des Feindes und seiner Ressourcen) bestehen würde. Ande­rer­seits glauben Analysten des Insti­tute for National Secu­rity Studies, dass Israel auch die kogni­tive Kampagne gewonnen hat, indem es die Hamas in Schach hielt und die Hisbollah in Angst und Schre­cken versetzte.

Bei der Berech­nung der ange­rich­teten und erlit­tenen Schäden, die bei allei­niger Betrach­tung der mate­ri­ellen Daten eindeutig auf einen israe­li­schen Sieg hinweist, darf der mora­li­sche Faktor nicht über­sehen werden: Die massive paläs­ti­nen­si­sche Rake­ten­of­fen­sive zwang die Bewohner Israels, elf Tage lang mit den Alarm­si­renen zu leben, in die Schutz­räume zu eilen und um ihr Leben zu fürchten, was in der öffent­li­chen Meinung Frus­tra­tion hervor­rief. Natür­lich könnte man das Gleiche über die Zivil­be­völ­ke­rung von Gaza sagen und es um ein Viel­fa­ches verviel­fa­chen: Während der Einschlag einer paläs­ti­nen­si­schen Rakete in einem Radius von 4–5 km zu spüren ist, wird der einer israe­li­schen Rakete von etwa der Hälfte der Bevöl­ke­rung von Gaza gespürt (und es waren 25 pro Tag für ein Dutzend Tage). Aller­dings wächst die Kriegs­mü­dig­keit nicht in glei­chem Maße zwischen den Völkern (die Fort­set­zung des Ausnah­me­zu­stands und der Unsi­cher­heit ist für einen fort­ge­schrit­tenen und wohl­ha­benden Staat propor­tional schäd­li­cher), noch haben die Bewohner des Gaza­strei­fens die glei­chen Möglich­keiten wie die Israels, ihre Führer zur Rechen­schaft zu ziehen, wie sie handeln. Ande­rer­seits scheint die Popu­la­rität der Hamas trotz der mili­tä­ri­schen Rück­schläge nicht ernst­haft unter­graben worden zu sein: Man denke nur an die Entschei­dung des Präsi­denten der Paläs­ti­nen­si­schen Auto­no­mie­be­höre (PNA), Mahmoud Abbas, die für diesen Monat ange­setzten Wahlen zu verschieben, da er sicher war, dass die isla­mis­ti­schen Rivalen den Erfolg von 2006 wieder­holt und viel­leicht sogar über­troffen hätten. Aber Abbas ist jetzt 86 Jahre alt und wird die Zügel der Macht nicht mehr lange halten können: Hinter ihm ist die Fatah in mehrere Frak­tionen gespalten, von denen eine (die stärkste) von Jibril Rajoub ange­führt wird, der gerne ein Bündnis mit der Hamas eingehen würde. Einige Analysten glauben, dass die isla­mis­ti­sche Bewe­gung bald einen bewaff­neten Aufstand im West­jor­dan­land starten könnte, um sich endgültig von ihren Rivalen inner­halb der Fatah zu befreien.

Ein weiteres, nicht zu unter­schät­zendes Element war die Mobi­li­sie­rung der israe­li­schen Araber: Die Hamas-Offen­sive wurde von weit verbrei­teten Unruhen und Tumulten in vielen israe­li­schen Städten begleitet, vor allem in Lod (80 Tausend Einwohner, 30% Araber). Diese israe­li­schen Bürger arabi­scher Ethnie sind fast 2 Millionen, 20% der Gesamt­be­völ­ke­rung Israels, und stammen von den Paläs­ti­nen­sern ab, die 1948 ange­sichts des jüdi­schen Vormar­sches ihre Häuser nicht verlassen haben. Dieser arabi­sche Teil der Bevöl­ke­rung trug auch wesent­lich zur Zweiten Inti­fada (2000–2005) bei, eine Tatsache, die Israel mit wich­tigen Inves­ti­tionen zu beheben versuchte, um den Lebens­stan­dard der rebel­li­schen Minder­heit zu erhöhen. Die öffent­liche Meinung wurde durch die zahl­rei­chen Angriffe auf Synagogen, Geschäfte, Häuser, Autos und Menschen jüdi­scher Bürger durch arabi­sche Mitbürger erschüt­tert: Naftali Bennet, Chef der Jamina-Partei, der kurz vor dem Abschluss eines Regie­rungs­ab­kom­mens mit Yair Lapid stand, um Benjamin Netan­jahu zu entmachten, zog sich plötz­lich aus den Verhand­lungen zurück, da er es für unmög­lich hielt, in einer Koali­tion mit einer arabi­schen Partei, der Ra’am, die eben­falls isla­misch inspi­riert ist, zu regieren. Die Koexis­tenz zwischen Arabern und Juden inner­halb Israels könnte endgültig gefährdet werden, was die natio­nale Tendenz des jüdi­schen Staates stärken würde. Der israe­li­sche Kontext hat natür­lich seine ausge­prägten histo­ri­schen und sozialen Beson­der­heiten, dennoch hat man den Eindruck, dass die Unter­schiede zu Europa selbst in dieser Hinsicht immer geringer werden: die Erset­zung des Isla­mismus als Ideo­logie durch den Natio­na­lismus; der Hass auf den west­li­chen „Unter­drü­cker“; die Schaf­fung einer segre­gierten Gesell­schaft inner­halb der brei­teren natio­nalen Gesell­schaft; die Rolle krimi­neller Banden bei den Unruhen. Das sind alles Elemente, die unserer Meinung nach den israe­li­schen Fall mit dem euro­päi­schen verbinden, so dass wir uns veran­lasst sehen, wie schon bei den Unruhen in Amerika im letzten Sommer davor zu warnen, dass das, was in israe­li­schen Städten mit der musli­mi­schen Minder­heit passiert, auch uns alar­mieren sollte.

Daniele Scalea
Gründer und Präsi­dent des Centro Studi Machia­velli. Er hat einen Abschluss in Geschichts­wis­sen­schaften (Univer­sität Mailand) und einen Doktor­titel in Poli­tik­wis­sen­schaften (Univer­sität Sapi­enza). Er ist Professor für „Geschichte und Doktrin des Dschi­ha­dismus“ und „Geopo­litik des Nahen Ostens“ an der Univer­sität Cusano. Von 2018 bis 2019 war er Sonder­be­rater für Einwan­de­rung und Terro­rismus des Unter­staats­se­kre­tärs für Auswär­tige Ange­le­gen­heiten Guglielmo Picchi. Sein neuestes Buch (geschrieben mit Stefano Graziosi) ist Trump vs. Ever­yone. Amerika (und der Westen) am Scheideweg.

Dieser Beitrag erschien zuerst bei CENTRO MACHIAVELLI, unserem Partner in der EUROPÄISCHEN MEDIENKOOPERATION.


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