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Dr. Johann Hüthmair

Von Dr. Johann Hüthmair
(emeritierter Sanierungsbegleiter, lebt in Oberösterreich)

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat 2003 den 10. September zum Welttag der Suizidprävention ausgerufen. Jährlich finden an diesem Tage Veranstaltungen statt. Das Restart Zentrum in Zeiring (Steiermark) macht in diesem Zusammenhang speziell auf die gefährdeten Führungspersonen in insolvent gewordenen Unternehmen aufmerksam und greift die “Tabuthemen” Zahlungsstockung und Insolvenz auf. Insbesondere zu viele Männer in der Mitte der Lebensspanne begehen Suizid!

  • Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat 2011 das Recht auf Beendigung des eigenen Lebens als Menschenrecht anerkannt.
  • “Der Begriff Suizidalität beschreibt einen psychischen Zustand, in dem Gedanken, Phantasien, Impulse und Handlungen anhaltend, wiederholt oder in krisenhaften Zuspitzungen darauf ausgerichtet sind, gezielt den eigenen Tod herbeizuführen.”

Es geht also um eine Panikhandlung mit tödlichem Ausgang. Was gefährdete Unternehmer betrifft, so sind in der Regel nur temporär wegen Schuldenlast und Zahlungsstockung in Depression. Hier setzt die Rolle des Sanierungsbegleiters ein, der den Menschen in Not oft neue und positive Dimensionen eröffnen kann. Vgl. dazu mein Buch: ReSTART für Gestrandete – Entschuldung und Turnaround im Schutz der Insolvenzordnung (2. überarbeitete Auflage, erscheint am 18.09.2020; bitte Titelbild anklicken:)

Das Traumagefühl der Betroffenen bei Insolvenz wird von Insolvenzjuristen signifikant unterschätzt oder sogar ignoriert. In Insolvenzverfahren werden Personen zu Objekten reduziert, und diese Entwürdigung treibt Menschen in den Suizid, wie Neurobiologen konstatieren. Eine Grenzüberschreitung der Autonomie, wie es Trauma-Therapeuten bezeichnen. Bei Betriebsgründung bauen Unternehmer ein starkes Ego-Gefühl auf, haben aber dann höllische Angst, wenn bei Zahlungsstockung ihre Stellung in der Gesellschaft in Gefahr zu stehen scheint. Diese Beschämung ist einer der stärksten Krafträuber bei Insolvenzen. Insbesondere bei Eigentümer-geführten Betrieben erscheint der Verlust der Würde des Unternehmers ein Kernproblem zu sein, das von der Insolvenzordnung völlig ignoriert wird. Denn aus Angst vor solcher Beschämung nehmen sich manche das Leben.

Der Börsencrash 1929 zeigt die rapide Zunahme von Fällen der Selbsttötung gleich nach dem Crash in New York und umliegenden Regionen (1):

Die Angststruktur zu verstehen, den Gestrandeten auch zu Raum geben, wäre eine Forderung, um die Suizidrate in solchen Fällen zu senken. Um die Stigmatisierung zu verringern und die Sanierungschancen zu erhöhen wäre es angebracht, die Insolvenzverwalter durch Gestrandete (Insolvente) evaluieren zu lassen, was zugleich ein wichtiger Beitrag zur Suizidvermeidung sein könnte. Insolvenzverwalter haben in der Regel selbst Angst vor Haftungen, bringen oft wenig kaufmännisches Verständnis im Management mit und laden diese Angst an die Gestrandeten ab.

Es war für mich als Insolvenzbegleiter immer wieder überraschend, dass Gläubige in organisierten Glaubensorganisationen und Funktionsträger der Wirtschaftskammern besonders stark unter Insolvenzscham litten, also die Stigmatisierung mehr fürchteten als andere Gestrandete (4).

Tiefere Gespräche zu Würde und Sanierungsoptionen bieten auch die Unternehmervertreter wie zB die Wirtschaftskammer kaum.

Generell wird seitens der Behörden über die emotionelle Verarbeitung von Grenzüberschreitungen viel zu leichtfertig hinweg gegangen. Manche Behördenbescheide trieben Unternehmer in die Ausweglosigkeit: diese öffnen dann die RSA-Briefe gar nicht mehr und erliegen letztendlich ihrer Stigmatisierung, während die Beamten sich abputzen, als hätten sie keinerlei Mitschuld an solchen Tragödien für die Hinterbliebenen.

Mir wurden auch schon mehrere Male die Gedanken an Suizid von insolventen Unternehmern anvertraut: “ich erschieße meine Familie und nehme mir dann das Leben” (um dieser Scham nicht ausgeliefert zu sein). Meine Antwort darauf: Wir bereiten einen sauberen Insolvenzantrag ein und ich begleite Sie zur Sanierung. Ich hätte jederzeit fünf Andere, die gerne mit Ihnen tauschen würden! Der Betroffene bekam schnell große Augen und erkannte, dass ich mich dabei auskenne, wie diese Hürde zu nehmen ist.

Hier gilt es an der Wurzel anzusetzen, denn es drohen sonst strafrechtliche Konsequenzen bei Verletzung der Gläubigergleichbehandlung etc.

Zum Beispiel: Forderungseinlösung ist mein bewährtes Modell, um Lähmungen aufzulösen und Zwangsverwertungen zu vermeiden. Auf diese Weise konnten wir hohe Verwertungskosten kompensieren und den Unternehmerfamilien das Zuhause sichern.

Im Zusammenhang mit der Covid-Pandemie werden allenthalben Konkurswellen prognostiziert, die sich bereits im Vorfeld ankündigen: so werden in Österreich schon seit Monaten keine Bescheide von Finanz, Sozialversicherung etc. mehr zugestellt, es gibt aber auch keine Gutschriften vom Finanzamt! Es wäre eine “Weihnachtsamnestie” für Steuern und Sozialversicherungen zu erhoffen, damit die Insolvenzgerichte nicht kollabieren und die Suizidrate bei Eigentümer-geführten Unternehmern nicht steigt.

In Italien werden 90.000 Unternehmensschließungen erwartet. Über erste Unternehmer-Suizide im Zusammenhang mit der Covid-Pandemie – in diesem Fall eine Kurzschlusshandlung wegen scheinbarer Beschämung und Ausweglosigkeit von einem Restaurantbesitzer in der Toskana, der die fälligen Raten für einen Bankkredit nicht mehr bezahlen konnte – wird bereits berichtet.

Auszug aus dem Bericht: Also beschloss der Restaurantbesitzer am Samstagnachmittag, während er bei der Arbeit war, sich das Leben zu nehmen. Genau dort, in dem Restaurant, das sein Leben war, in dem Geschäft, das die Zukunft seiner beiden Kinder sein sollte, und das er jetzt als Ballast wegen der Schande ansah, die wegen eines unvorhersehbaren Ereignisses auf seine schöne Familie fallen würde, aber auch aus Scham wegen seiner Regierung, die sich nicht um die Italiener kümmert und Milliarden von Euro verschwendet, um eine Armee von hunderttausend illegalen Einwanderern auf Hotels und Luxusschiffe zu verteilen, damit sie sich dort amüsieren können.

Die Schweizer hingegen scheinen wesentlich mehr Schutz für Gestrandete bei Inkasso und Insolvenz zu gewähren. Vgl. Schweizer Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs (SchKG).

Die Restrukturierungsrichtlinie der EU könnte mehr Reformeifer in die Insolvenzordnung bringen, nach dem Motto: mehr sanieren statt Personen über Jahre abzuschöpfen und zu versklaven.

Schulden zu haben gilt auch in Ostasien als Tabu, was viele Geschäftsleute in den Suizid treibt. (In Tibet gibt es auch Selbstverbrennung als Suizid, jedoch in der Regel aus politischen Gründen.)

Vermögensverlust, Gesundheitsverlust, Beziehungsverlust, diese drei Bereiche können Menschen bis in die Knochen erschüttern. Sanierung ist eine Ordnungstherapie für Vermögen, Finanzen, Erträge und Emotionen, denn es handelt sich um ein emotionales Problem, das juristisch zu regeln versucht wird. Daher ist die Stigmatisierung hoch. (3)

Da weder Angriff noch Flucht möglich erscheint, wie es bei Säugetieren angelegt ist, erscheint Suizid als letzter Ausweg (4) Konflikte können bei vermeintlichen Adressaten kaum ausgetragen werden, daher kommt es zu “Konfliktumleitung“.

Das “Diktat der leeren Kassen”: Liquiditätsnot erhöht die Komplexität in einem Unternehmen. Die Kohärenz im Gehirn wechselt zu Stress und Inkohärenz (5). Die Schuldenlast abzuschütteln wird zum Spießrutenlauf, der für manchen Unternehmer in der Schuldenkrise unerreichbar erscheint, da man im Umgang mit der Zahlungsstockung unerfahren ist. Ähnlich wie ein Plattenspieler in der gleichen Rille. Man braucht einen Zweiten um es zu reflektieren.

“Restart für Gestrandete”

Zum Abschluss noch kurz ein paar Worte zu meinem aktuellen Konzept “Restart für Gestrandete”: ich möchte im Restart Zentrum Zeiring, in einer idyllischen Landschaft in den Ostalpen gelegen, den Betroffenen wieder Mut geben, indem ich ihnen 3 Monate lang eine Besinnung auf die natürliche Beziehungskultur vermittle, bis sie wieder “Boden unter den Füßen” spüren. In drei Monaten nach einer ausweglos erscheinenden Situation sieht die Welt wieder ganz anders aus.

Kognitive Wahrnehmung beruht vorwiegend auf der Bestätigung der Vorurteile durch die Sinnesorgane (6). Die handlungsalternativen generierenden Prämissen werden durch redliche Experten ausgeweitet, sodass auch die verbleibende Last für die Eltern und Angehörigen vermieden werden kann. “Für die Eltern gibt es kein größeres Scheitern als den Suizid eines Kindes, auch wenn man daran nicht schuldig ist, es ist das größte erlebbare Versagen, das man erleben kann.” (Golli Marboe, Dozent Wien)

Suizid ist im westlichen linearen Weltbild eine sehr tragische Emotion aufgrund von Schuldgefühlen und dem Gefühl der Endlichkeit. In Ostasien hingegen sieht man die Kontinuität des Geistes, der ungeboren ist und auch nicht stirbt: der Geist steuert den Körper der Billionen von Zellen. Die Weltsicht der Kreisläufe einschließlich der Reinkarnation lässt eine viel harmonischere Verarbeitung des Lebens zu, wie der Film „Looking for a Sign“ von Clemens Kuby über zwei Leben eindrucksvoll zeigt. Auch diese Weltsicht soll in meinem Konzept “Restart für Gestrandete” ausführlich behandelt und gewürdigt werden.

Zeiring, am 10. September 2020

Dr. Johann Hüthmair
Obmann: Restart Zentrum
Verein ZVR 1579987570, Sitz: Pölstal
Berghofstraße 3, 8762 Zeiring, Austria
E-Mail: office@restart.at
URL: www.restart.at

 

Literatur:
(1) Johann Hüthmair (2015), ReSTART – Entschuldung und Turnaround in der Unternehmenssanierung
(2) Johann Hüthmair (1999), Vorbeugende Unternehmenssanierung: Die Kunst, den Finanzinfarkt abzuwenden.
(3) “Suizid bei Unternehmenskrisen”, Gastbeitrag von Johann Hüthmair in: Gerhard Bengesser (2001), Die Nachwehen eines Selbstmordes und allgemeine Fragen der Suizidologie.
(4) Stephen W. Porges (2019), Die Polyvagal-Theorie und die Suche nach Sicherheit: Traumabehandlung, soziales Engagement und Bindung
(5) Gerald Hüther (2019), Würde: Was uns stark macht – als Einzelne und als Gesellschaft
(6) Clemens Kuby (2017), Gesund ohne Medizin: Die Kubymethode – Anleitung zum Andersdenken.


 

PS. Ein wenig Statistik:

Deutsche Bundesländer nach Suizidrate (2018)

Die Rate der Suizide an der Gesamtbevölkerung je 100.000 Einw.,  die Raten von Frauen und Männern und die Gesamtzahl (laut Wikipedia).

Rang Bundesland Anzahl Suizide Suizide
Gesamt
Suizide .
Frauen
Suizide
Männer
1 Sachsen-Anhalt Sachsen-Anhalt 342 13,7 4,9 22,4
2 Sachsen Sachsen 619 13,5 6,7 20,0
3 Thüringen Thüringen 309 12,8 5,3 20,2
4 Bayern Bayern 1.671 12,7 6,1 19,1
5 Schleswig-Holstein Schleswig-Holstein 380 12,6 5,9 19,2
6 Mecklenburg-Vorpommern Mecklenburg-Vorpommern 220 12,4 5,4 19,2
7 Hamburg Hamburg 215 12,1 5,4 18,8
8 Niedersachsen Niedersachsen 970 11,9 5,6 18,0
9 Bremen Bremen 83 11,9 7,5 16,2
10 Hessen Hessen 741 11,8 6,2 17,3
11 Rheinland-Pfalz Rheinland-Pfalz 485 11,6 5,1 17,9
12 Baden-Württemberg Baden-Württemberg 1.236 11,1 6,9 16,1
13 Saarland Saarland 110 10,5 3,4 17,7
14 Berlin Berlin 374 10,4 5,5 15,3
15 Brandenburg Brandenburg 239 8,8 2,9 14,4
16 Nordrhein-Westfalen Nordrhein-Westfalen 1.402 7,7 4,0 11,3
Deutschland Deutschland 9.396 11,0 5,3 16,6
In Österreich nahmen sich im Jahr 2018 1.209 Menschen selbst das Leben, davon 950 Männer und 259 Frauen. Die Suizidrate lag 2018 in Österreich bei 14,4 / 100.000 Personen, für Männer bei 23,4 und für Frauen bei 5,5 / 100.000 Personen.
Eine Liste der Suizidraten pro 100.000 Einwohner von 200 Ländern (2016) zeigt: Spitzenreiter sind Litauen, Russland und Guyana mit ca. 30 Fällen, am unteren Ende liegen Antigua und Barbados mit weniger als Einem. Zur Verdeutlichung der Spannweite. In Europa u.a.: Deutschland 13,6, Österreich 15,6, Schweden: 14,8, Polen: 16,2, Frankreich 17,, Italien 8,2, die Schweiz: 10,2 pro 100.000 Einwohner. Die Männer sind durchwegs wesentlich stärker betroffen.

 

2 Gedanken zu „Das Leben selbst beenden? Eine abwendbare Tragödie“

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